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Kurt Anglet

Auferstehung
und Vollendung

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© 2014 Echter Verlag GmbH

978-3-429-04746-7 (PDF)

978-3-429-06160-9 (e-Pub)

Inhalt

Vorwort:
Geschichte und Vollendung im Licht der Offenbarung

Glaube und Kerygma

Geist und Glauben

Kreuz und Auferstehungswirklichkeit

Christusglaube und Offenbarung

Auferstehung Jesu Christi im Lichte der Prophetie

Vollendung im prophetischen Geist

Offenbarung und Vollendung

Gott – der ist und der war und der kommt

Literaturverzeichnis

Vorwort: Geschichte und Vollendung im Licht der Offenbarung

Die derzeitige Krise des christlichen Glaubens in der westlichen Welt ist weitgehend hausgemacht. Seine Erosion dürfte in zweiter Linie auf äußere gesellschaftliche Einflüsse zurückgehen; auf jenen Prozess, den man gemeinhin mit dem Stichwort »Säkularisierung« verbindet. Längst bevor jener Prozess das kirchliche Leben erfasste, ist ihm von namhaften Persönlichkeiten zumal der historischen Theologie der Boden bereitet worden. So attackierte etwa der als »Papst der Dogmengeschichte« gepriesene Adolf von Harnack den jungen Karl Barth nach einem Vortrag in Aarau im Jahre 1920, »dass dieser Vortrag einen Rückfall von der heutigen Forschung darstelle. Alles, was man heute so schön überwunden habe, worüber man in fortschrittlicher Ehrlichkeit hinausgekommen sei, werde hier wieder aufs Tapet gebracht: die christologischen Dogmen und sogar ›die Auferstehung des Fleisches‹! Solchen Traditionalismus müsse er, von Harnack, sich doch sehr verbitten.« [Wir kommen im Verlauf unserer Abhandlung auf die betreffende Episode zurück.]

Was unter »fortschrittlicher Ehrlichkeit« gemeint ist, erscheint nicht erst aus heutiger Sicht so obsolet wie nur noch was: Es handelt sich um nicht weniger als um das Weltbild des Historismus des neunzehnten Jahrhunderts, inklusive der Anschauungen der damaligen Naturwissenschaft; um ein Weltbild, das bereits damals – wir schreiben immerhin das zweite Jahr nach dem Ersten Weltkrieg – in Trümmern lag, um nur wenige Jahrzehnte später endgültig begraben zu werden, obwohl es nach wie vor durch eine sich als »fortschrittlich« gerierende zeitgenössische Theologie geistert, die von ihrer »Höhe« aus nicht allein auf die Auferstehung des Fleisches, sondern auf das Sühnopfer Christi, das Jüngste Gericht und manches mehr herabschaut. Dass »der Einstand von Moderne und Apokalypse« (Walter Benjamin) einen Wesenszug nicht allein der ästhetischen Moderne ausmacht, ist niemals in jene ihrer Zeit – dem Geist ihrer Zeit – verhafteten Gehirne eingedrungen, selbst wenn sich bereits im Jahre 1908 ein Karl Kraus in »Apokalypse (Offener Brief an das Publikum)« nicht zuletzt an ein Publikum wandte, dem selbst zehn Jahre später die Apokalypse als ein Buch mit sieben Siegeln erschien. Anstatt die Geschichte im Licht der »Offenbarung Jesu Christi« (vgl. Offb 1,1) – so der eigentliche Titel der sog. Johannesoffenbarung – zu deuten, erscheint die Offenbarung als Abfallprodukt einer vergangenen Epoche, das es – so die heutige Sprachregelung – zu »entsorgen« gilt, obwohl die eigene ihrem Untergang entgegenblickt: »Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind.« So beginnt ein so profan gesonnener Kopf wie Paul Valéry »Die Krise des Geistes. Essay« (hrsg. von H. Steiner, Wiesbaden o. J. [1956]); Anfang 1919 für die englische Zeitschrift ›The Athenaeum‹ geschrieben).

Doch unabhängig von der Einsicht in die Konstellation von Apokalypse und Moderne fällt auch in philologischer Hinsicht die Missachtung der überlieferten biblischen Texte auf, die den Zusammenhang von Auferstehung Christi und Vollendung sowie den Zusammenhang – wie auch den Unterschied – von alt- und neutestamentlicher Prophetie zur Geltung bringen. Der Verkennung ihrer messianischen und eschatologischen Ausrichtung entspricht die Verkennung ihrer pneumatologischen Fundierung durch den Geist der Prophetie, insofern sie nicht bloße historische oder literarische Dokumente (»Geschichten«) darstellen. Vielmehr leuchtet über alle Untergänge der Geschichte, ja über die Apokalypse hinweg das Licht der Erlösung auf, von dem zumal die neutestamentlichen Texte zeugen. Denn als lebendige Zeugnisse wollen sie gelesen werden, nicht als tote Dokumente einer fernen Vergangenheit. Philologie und Theologie der Texte müssen einander durchdringen, bilden Komplemente, anstatt einander abzulösen. Das ist das Anliegen dieser Abhandlung, der die Treue zum Text wichtiger ist als dessen historische Evaluation, die den Interpreten über den überlieferten Text stellt. Denn mag in unserem Zeitalter die Freiheit des Interpreten wichtiger erscheinen denn je, so steht sie nicht höher als das Zeugnis des Textes; oder nach einem Wort Alfred Delps: »am wichtigsten ist die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.«

Ganz aus dem Geist solch »ungebrochener Treue« hat Erik Peterson, dem wir die Wiederentdeckung der eschatologischen Dimension des Neuen Testaments verdanken, einen radikalen Schnitt zwischen dem Historischen und Eschatologischen ziehen wollen. So heißt es in einem Tagebuch-Fragment vom Oktober 1954: »Wir müssen als Christen so leben, als ob das Historische nicht mehr da ist. Das war das Leben der Christenheit in der Vergangenheit. So leben, als ob die Geschichte der Welt schon vergangen ist, führt zum Hass dieser Welt. Das muss die Aufgabe der christlichen Verkündigung sein. Daher die Seligpreisung der Armen als eschatologischer Begriff, während doch nur die Reichen die ›Geschichte‹ machen« (AS 9/2, 424). Gewiss, aus der Perspektive der Erlösung lohnt es sich nicht, der Vergangenheit, der »Geschichte«, nachzutrauern. Gleichwohl überrascht an der Auffassung Petersons, von Haus aus immerhin habilitierter Religionshistoriker, der noch gegen Ende seines Lebens einschlägige historische Studien zu »Frühkirche, Judentum und Gnosis« (Freiburg i. Br. 1959) verfasste, nicht allein die Abkehr vom Historischen, das der Vergangenheit überantwortet wird (»So leben, als ob die Geschichte schon vergangen ist …«). Vielmehr hätte zumal ein eschatologisch gesonnener Denker, dem die Wiederkunft Christi am Herzen liegt, die Zeichen der Zeit zu deuten, wie ja Christus selbst seine Zeitgenossen herausfordert, es nicht bei Prognosen von bloßen Naturphänomenen zu belassen, sondern gewissermaßen das Messianische zu avisieren, das sich in den »Zeichen dieser Zeit« abzeichnet: »Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten. Warum könnt ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten?« (Lk 12,56). Die Konstellation von historischer und messianischer bzw. eschatologischer Zeit, von Jetztzeit und Endzeit zu bestimmen – das ist die Aufgabe von Theologie und Verkündigung; daher scheint sich nicht weniger an den heutigen Zeitgenossen die anschließende Frage Jesu zu richten: »Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?« (Lk 12,57).

Denn selbst wenn die Geschichte im Sinne Hegels ganz zur Vergangenheit würde: »Alles wird zur Vergangenheit; wie eine Sandwüste erscheint das Leben; sie ist das Bewusstsein der Freiheit und Wahrheit« (vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 3, 61) – so spielte sich das Leben der Christen nicht gleichsam in einem geschichtlich luftleeren Raum ab, wie auch der Messias unter der Herrschaft eines Augustus geboren wurde und unter Pontius Pilatus starb. Von einer Zeitenwende könnte keine Rede sein, wäre nicht der Einbruch der messianischen Zeit ins Historische auf dem Schauplatz der Geschichte erfolgt, auf dem sich die Ablösung der Mächte des alten Äons durch den neuen Äon in Christus, die Auflösung des Historischen ins Eschatologische vollzieht. Daher die Proklamation Jesu vor dem Hohen Rat auf die beschwörende Frage des Hohenpriesters hin, ob er der Messias, der Sohn Gottes sei: »Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mt 26,64; par Mk 14,62). Von jetzt an, also im Hinblick auf das Kreuz Christi, zeichnet sich die Konstellation von Jetztzeit und Endzeit, von Historischem und Messianischem ab. Weder fällt die Geschichte, wie man es seit Oscar Cullmann und Karl Löwith gerne hätte, gleich einer Nussschale in zwei Hälften: in Weltgeschichte und Heilsgeschichte bzw. Weltgeschichte und Heilsgeschehen auseinander, noch geschieht die »Offenbarung Jesu Christi« (vgl. Offb 1,1) jenseits von Kosmos und Weltgeschehen als vielmehr durch Kosmos (»auf den Wolken des Himmels«) und Geschichte hindurch. Mögen wir auch vor der Geschichte die Augen verschließen, uns einreden, sie wäre schon gewesen – zumal das letzte Buch der Bibel wie die anderen apokalyptischen Passagen des Neuen Testaments verweisen darauf, was uns bevorsteht. Die Geschichte im Lichte der Offenbarung deuten besagt nicht weniger, als sie im Zeichen des Kommenden – im Zeichen des im Kommen begriffenen Gottes zu begreifen.

Nun findet sich Petersons oben zitierte Schlussfolgerung am Ende einer Reflexion seiner »Fragmente« in den »Marginalien zur Theologie« aus dem Jahre 1956 wieder, wobei hier anstelle des Wortes »Geschichte« die »Reichen« apostrophiert ist (vgl. AS 2,145), auf die sich ja schließlich der »Hass dieser Welt« gegen Christus nicht beschränkt. Peterson stellt das eschatologische Opfer Jesu dem Verrat und Selbstmord des Judas gegenüber: »Das eschatologische Opfer Jesu auf Golgatha, das alle anderen Opfer ablöst, wird historisch durch zwei Tatsachen illustriert: durch die Vertreibung der Händler aus dem Tempel und durch die dreißig Silberlinge des Verrates des Judas. Das besagt, daß eine konkrete historische Dialektik, die von Geld und Opferblut, hinter dem Opfer von Golgatha steht. Daß die Hohenpriester das Opfer des Sohnes zu verhindern trachteten, war begreiflich. Brachten sie doch die blutigen Opfer im Tempel dar und glaubten sie, den Tempel vor dem retten zu können, welcher den Tempel zu zerstören drohte. Im Tempel aber befand sich das Geld. Von diesem Gelde gaben sie dreißig Silberlinge dem Verräter, der von dem Geheimnis Jesu wußte, er werde das eschatologische Opfer vollbringen, durch das die blutigen Opfer im Tempel und dieser selber überflüssig würden. Der Selbstmord des Judas ist durch die Angst vor dem Eschatologischen in Jesus bedingt. Vor die Wahl gestellt, entweder das Eschaton oder das Historische zu ergreifen, findet er nach dem Verrat keinen anderen Ausweg als den Selbstmord, von der Dialektik des Historischen und des Eschatologischen, des Geldes und des eschatologischen Blutopfers, zerrieben. Der Selbstmord des Judas war die äußerste Form des privaten Sich-Opferns gegenüber dem öffentlichen Opfer, das von Christus im Himmel dargebracht wurde« (AS 2,144).

Es fällt an diesen Zeilen die Gewaltsamkeit der Textauslegung Petersons, eines ansonsten äußerst subtilen Exegeten, auf. So wird das Opfer Jesu nicht im Himmel oder im Tempel, sondern auf Golgota – nach Cyrill von Jerusalem († 386) der Mittelpunkt der Erde – dargebracht, insofern er »außerhalb des Tores gelitten« hat (vgl. Hebr 13,13); erst durch dieses Opfer »ist er ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt« (Hebr 9,12). Bezeichnenderweise reißt im Augenblick seines Todes »der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei« (vgl. Mt 27,51; par Mk 15,38; Lk 23,45). – Zudem suchten die Hohenpriester sein Opfer ja nicht zu verhindern, sondern haben es geradezu forciert, gemäß dem Wort des Hohenpriesters Kajaphas, dass es besser sei, wenn ein einziger Mensch für das Volk sterbe, als wenn das ganze Volk zugrunde gehe: »Das sagte er nicht aus sich selbst; sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das Volk sterben werde« (Joh 11,51). Und wie Johannes hinzufügt: »Aber er sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln« (Joh 11,52). Ist doch der Logos dem Wortsinn nach der »Sammler«. – Außerdem stellte sich dem Judas nach seinem Verrat schwerlich eine Wahl zwischen dem Eschaton und dem Historischen, insofern er zuvor seine »Wahl« getroffen hat, mit der das Verhängnis seinen Lauf nimmt gemäß dem Worte Jesu über den Verräter: »Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre« (Mt 26,24). Denn trotz der Reue, die Judas empfindet, da er »sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war« (vgl. Mt 27,3), erkennt er nach seiner Zurückweisung durch die Hohenpriester und Ältesten keinen Weg der Umkehr: »Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich« (Mt 27,5). Nicht »durch die Angst vor dem Eschatologischen« in Jesus ist sein Selbstmord bedingt, sondern durch dessen Verkennung, die ihn zum Verrat trieb, um nicht das Schicksal Jesu zu teilen – und am Ende seine Vereinzelung, eine absolute menschliche Vereinzelung, konstatieren zu müssen: vor dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi. Darin liegt die Ausweglosigkeit eines Lebens beschlossen, das um keine Erlösung durch das Kreuz, durch das eschatologische Opfer Christi weiß, sondern mit der Auslieferung eines »unschuldigen Menschen« (vgl. Mt 27,4) zugleich sich selbst der Gleichgültigkeit der historischen Mächte ausgeliefert sieht (vgl. ebd.: »Was geht uns das an? Das ist deine Sache«). Niemand kennt die Zahl der Verräter und Täter, der Denunzianten und Henker, die nach vollbrachter Tat im Laufe der Geschichte von den Mächtigen samt ihrer Schuld sich selbst überlassen wurden: Darin liegt die Dialektik des Historischen, der Selbstwiderspruch der Geschichte beschlossen, deren Machthaber ihre Helfershelfer mit Geld oder leeren Versprechungen abfinden, um sie am Ende an sich selbst Hand anlegen zu lassen, insofern sie nicht die Gleichgültigkeit ihrer Herren gegenüber den Opfern teilen.

Dass in Jesus Christus der Erlöser, der Menschensohn und Messias, selbst zum Opfer, ja zum Opferlamm geworden ist, ist alles andere als ein Zufall: Keine historische Zielsetzung, kein Weltfriedensreich, kein Reich der Freiheit oder Gerechtigkeit, wie man es seit dem Zeitalter der Aufklärung und des Deutschen Idealismus erträumt, führt am Opfer von Golgota vorbei, an das nicht allein das Zeugnis der Märtyrer, sondern jedes Opfer der Geschichte mahnt, mögen diejenigen, die Geschichte machen, auch alles daransetzen, die Blutspuren zu verwischen, die sie in der Geschichte hinterlassen, bis hin zur Liquidation der Henker als missliebige Zeitzeugen oder als potentielle Gefahr für die eigene Herrschaft. So überrascht es nicht, dass seit dem Zeitalter der Französischen Revolution alle Versuche, das Recht des Menschen mit Gewalt zu erkämpfen, in weitaus größeren Gewaltherrschaften endeten, als sie jeweils zuvor bestanden. Und auch die Versuche, auf friedlichem Wege, durch Handel und Wandel, zu einer Welt zu gelangen, die Unrecht und Elend kennt, hat sich nach der zweiten Jahrtausendwende als Illusion herausgestellt: Während die großen Industriestaaten in einem Schuldenmeer zu versinken drohen, kennt keiner die Millionen, wenn nicht Milliarden, die sich mit Not und Mühe buchstäblich über Wasser halten, um den Wohlstand der anderen zu sichern. Kein Vertreter der Theologie, die sich ohnehin seit geraumer Zeit durch eine auffallende Weltfrömmigkeit auszeichnet, vielmehr der Kulturhistoriker Niall Ferguson – laut The Times »der brillanteste Historiker seiner Generation« – hat in seinem monumentalen Werk The West and the Rest (2011) dem Schlusswort eine Betrachtung unter dem Titel vorangestellt: »Naht das Ende aller Tage?«

Nicht Ziel, sondern Ende – ist doch alles Historische schon seinem Begriff nach auf seine Zeit beschränkt, vermag den epochalen Rahmen nicht zu überschreiten, das Saeculum, in dem es steht bzw. in das es fällt. Mag der technologische Fortschritt in ungeahnte Dimensionen voranschreiten; ja mag es eine umfassende Völkerverständigung geben, wie sie die Vergangenheit nicht kannte, so ist der Menschheit nicht die Möglichkeit der Vollendung ihrer Geschichte gegeben, welche Ideale sie auch immer an den Himmel zeichnet. Entbehrt es schon nicht der Ironie, dass ausgerechnet ein Kulturhistoriker in unserer Zeit an die eschatologische Fragestellung mahnt, so nicht weniger, dass ein eher säkular gesonnener philosophischer Denker wie Walter Benjamin (1892–1940), dessen Gedanken bis zuletzt, bis zu seinen Aufzeichnungen »Über den Begriff der Geschichte«, seinem philosophischen Vermächtnis, um das Historische in seinen flüchtigsten Erscheinungen kreisen, zu Beginn seines »Theologisch-politischen Fragments« unmissverständlich konstatiert: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende« (GS II.1, 203). Darum kann es keine historische Begründung von Erlösung und Vollendung geben. Ebenso wenig überzeugt es, sich – analog zu Kierkegaards »Sprung« – aus dem Historischen ins Eschatologische retten zu wollen, da das Eschatologische die Zeit der Vollendung wie die Vollendung der Zeit darstellt. Denn Ende ist das Messianische bzw. das Eschatologische nicht in dem Sinne, »als ob das Historische nicht mehr da ist« bzw. »als ob die Geschichte dieser Welt schon vergangen ist« – das nominalistische »als ob« bekennt die Fiktion ein. Ein Ende bezeichnet das Kommen des Reiches Gottes vielmehr im Sinne der Vollendung des historischen Geschehens, das ja nicht als bloße »Weltgeschichte« der messianischen bzw. eschatologischen Zeit vorausliegt, sondern über Antike, Mittelalter und Neuzeit, über die Moderne und Gegenwart hinaus bis auf den Jüngsten Tag in den Prozess der Vollendung einbezogen ist.

Klarer als jeder namhafte Theologe seiner Zeit hat das der zu Unrecht vergessene Georg Feuerer (1900–1940) zu »Christus und die Vollendungsordnung« auf den Punkt gebracht: »Die Vollendungsordnung steht nicht neben der Schöpfungs- und Erlösungsordnung, sondern, tiefer gesehen, ist sie nur die tiefste werdende Schicht all dieser bestehenden Ordnungen. In Christus ist ein werdender Prozeß der Vollendung entgegen« (Unsere Kirche im Kommen, 41). Ein Prozess, der mit seiner Vorverurteilung vor dem Hohen Rat (vgl. Mt 26,64; par Mk 14,62) seinen Ausgang nimmt, um in seiner Verurteilung durch den römischen Statthalter Pilatus besiegelt zu werden, durch dessen Urteil das Wort Jesu seine Bestätigung erfahren wird: »Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden« (Joh 12,31). Wenn aber der Zusammenhang von Erlösungs- und Vollendungsordnung nicht mehr gesehen wird, dann wird auch die Konstellation von Jetztzeit und Endzeit nicht mehr erkannt, jener Prozess, der mit der Erhöhung Christi am Kreuz einsetzt und mit seiner Wiederkunft zum Abschluss, sprich: zum Urteil gelangt. Und genau an diesem Punkt steht die Theologie zu Beginn des dritten Jahrtausends.

Denn eines muss angesichts der Themenvielfalt der zeitgenössischen Theologie überraschen: Mit dem Jahr 2014 blicken wir hundert Jahre auf den Beginn des Ersten Weltkriegs zurück. Seitdem hat es nicht nur einen weiteren Weltkrieg gegeben, Massenmorde wie nie zuvor in der Geschichte, den Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus, Verwerfungen in der westlichen Welt – kurzum: eine Geschichte, die geradezu einem Auszug aus der Apokalypse entspricht. Und dennoch: KeineVollendungOffenbarungErscheinungsformen