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Philipp Görtz

Ignatianische Schulpastoral

Anregungen für eine spirituelle Praxis
an konfessionellen Schulen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg

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Inhalt

Vorwort

Einführung

1Allgemeine Entwicklung und religiöse Bildung Heranwachsender

1.1Entwicklungspsychologische Aspekte

1.1.1Entwicklungsaufgaben

1.1.1.1Umgang mit inneren Veränderungen

1.1.1.2Umbau des sozialen Beziehungsgefüges

1.1.1.3Umgang mit kulturellen Ansprüchen

1.1.1.4Identitätsarbeit – Entwicklungsaufgabe auf der Metaebene

1.1.2Zielrichtung humaner Entwicklung

1.2Religionspsychologische Aspekte

1.2.1Religiöse Entwicklung der Person

1.2.2Religiöse Entwicklungskontexte

1.2.3Entwicklungsaufgaben und Religiosität

1.2.3.1Emotionsregulation, Entspannung und Sammlung

1.2.3.2Aufbau und Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls

1.2.3.3Aneignung von Belastungsbewältigung

1.2.3.4Entwicklung und Aufrechterhaltung einer positiven Lebenseinstellung

1.2.3.5Aufbau prosozialen Empfindens, Denkens und Verhaltens

1.2.3.6Gewissensbildung und differenziertes Verantwortungsbewusstsein

1.2.4Zielrichtung religiöser Entwicklung

1.3 Entwicklung, Bildung, Erziehung, formatio

2Grundsätzliches zur Schulpastoral

2.1Konzeptionen von Schulpastoral

2.1.1Das Dokument „Schulpastoral“ der VDO

2.1.2Das Dokument „Schulpastoral“ der DBK

2.1.3Der Würzburger Fernkurs „Schulpastoral“

2.2Grundlagen von Schulpastoral/Schulseelsorge

2.2.1Grundlegungen

2.2.1.1Systemtheoretische Grundlegung von Schulpastoral

2.2.1.2Schulpädagogische Grundlegung von Schulpastoral

2.2.1.3Theologische Grundlegung von Schulpastoral

2.2.2Gestaltungsprinzipien und Handlungsfelder

2.3Unterstützung, Unterweisung, Unterbrechung

3Jesuitische Erziehung und ignatianische Pädagogik

3.1Grundsatzdokumente der Pädagogik des Jesuitenordens

3.1.1Das Dokument „Grundzüge jesuitischer Erziehung“

3.1.1.1Prinzip und Fundament – ein positives Bild von Gott und Welt

3.1.1.2Mensch und Freiheit

3.1.1.3Werteorientierung und Urteilsfähigkeit

3.1.1.4Jesus Christus – DER Mensch für andere

3.1.1.5Optionen treffen und handeln

3.1.1.6Kirche und Sendung

3.1.1.7magis – das Außergewöhnliche

3.1.1.8Zusammenarbeit mit Laien und Gemeinschaft

3.1.1.9Gemeinschaftliche Unterscheidung und Vision

3.1.1.10 Zusammenfassung und kritische Würdigung

3.1.2Das Dokument „Ignatianische Pädagogik“

3.1.2.1Das Ziel jesuitischer Erziehung

3.1.2.2Eine Pädagogik für Glaube und Gerechtigkeit

3.1.2.3Die Pädagogik der Exerzitien

3.1.2.4Die Lehrer-Schüler-Beziehung

3.1.2.5Das Ignatianische Paradigma und seine Dynamik

3.1.2.6Merkmale des Ignatianischen Pädagogischen Paradigmas

3.1.2.7Widerstände beim Einrichten einer ignatianischen Pädagogik

3.1.2.8Ignatianische Pädagogik in Anwendung

3.1.2.9Zusammenfassung und kritische Würdigung

3.2Grundelemente der formatio

3.2.1Prinzip und Fundament – omnia ad maiorem Dei gloriam

3.2.2Menschen für andere – competentia, conscientia et compassio

3.2.3Leitung und Begleitung – alumnorum cura personalis

3.2.4Lieben und Dienen – magis

3.2.5Methode und Vorgehensweise – noster modus procedendi

3.3Mehr lieben und leben

4Konzeption ignatianischer Schulpastoral

4.1Situation und Rahmenbedingungen

4.1.1Gesellschaftliche Entwicklungen im schulischen Kontext

4.1.2Der Bildungs- und Erziehungsauftrag an Jesuitenschulen

4.1.3Herausforderungen ignatianischer Schulpastoral

4.2Grundlagen

4.2.1Begriffliche Grundlegungen

4.2.2Schulpädagogische Grundlegungen

4.2.3Theologisch-spirituelle Grundlegungen

4.3Gestaltungsprinzipien

4.3.1Subjektorientierung

4.3.2Systemorientierung

4.3.3Prozessorientierung

4.3.4Freiwilligkeit

4.3.5Gastfreundschaft

4.3.6Partnerschaftlichkeit

4.3.7Kooperation

4.3.8 Ökumene und Interreligiosität

4.4Ziele und Inhalte

4.4.1Die Frage nach Gott und Jesus Christus wachhalten

4.4.2Lebenskompetenz fördern

4.4.3Glaube und Gerechtigkeit verbinden

4.4.4Nach den Sternen greifen

4.5Adressaten und Träger

4.5.1Adressaten

4.5.2Träger

4.6Handlungsfelder und Realisierungsformen

4.6.1Schulpastorales Handeln im Bereich der Diakonia

4.6.2Schulpastorales Handeln im Bereich der Martyria

4.6.3Schulpastorales Handeln im Bereich der Liturgia

4.6.4Schulpastorales Handeln als Dienst aus und an der Koinonia

Anmerkungen

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Papst Franziskus ist im strengen Sinne zwar kein Jesuit mehr, was ihn allerdings nicht daran hindert, durch und durch von einem ignatianischen Geist geprägt zu sein. Im Sommer 2013 besuchten ihn etliche Schülerinnen und Schüler von Jesuitenschulen aus Italien und Albanien in Rom. In freier Rede wandte er sich an die Kinder und Jugendlichen und kam mit ihnen darüber ins Gespräch, was seines Erachtens jesuitische bzw. ignatianische Erziehung und Bildung ausmacht. Für ihn ist „die Großherzigkeit der Schlüssel für die Entwicklung des Menschen“. Und gleichsam als Jesuit fuhr er fort: „Wir müssen großherzig sein, mit großen Herzen, ohne Angst. Natürlich braucht man auch große Ideale, aber vor allem Großherzigkeit in den kleinen Dingen, in den alltäglichen Dingen, mit großem und weitem Herzen. Es ist wichtig, diese Großherzigkeit mit Jesus zu finden, in der Betrachtung Jesu, der uns die Fenster zum Horizont öffnet. Großherzigkeit bedeutet, mit Jesus zu gehen und aufmerksam zu sein für das, was Jesus uns sagt.“ Viel besser kann man wohl kaum einleiten, worum es uns Jesuiten geht, wenn wir seelsorglich und pastoral tätig sind an unseren Kollegien, in unserer Jugendarbeit und wo auch immer wir für Erziehung und Bildung einstehen. Dort sprechen wir von cura personalis oder davon, dass wir den Seelen helfen, und wir sind uns mehr denn je darüber im Klaren, dass so etwas nur mit einem großen Herzen, mit einem tiefen Glauben und mit viel viel Liebe gelingt.

Knapp vier Jahre nach Veröffentlichung meiner Doktorarbeit ist es nun an der Zeit, das Thema Ignatianische Schulpastoral einem breiteren Publikum in Form einer Volksausgabe zugänglich zu machen. Eine erste Idee dazu hatte Pater Georg Schmidt SJ. Ihm und nicht zuletzt der Stiftung Ignatianische Jugendpastoral, die sich im wesentlichen auf die Inhalte der Dissertation stützt, sei an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön gesagt. All denjenigen, die sich im Bereich von Schulpastoral engagieren und die sich für eine ignatianische Akzentuierung ihrer Arbeit und ihres Dienstes interessieren, wünsche ich eine anregende Lektüre und etwas Wegweisung beim Auf- oder Ausbau von Schulpastoral vor Ort.

Beilstein, im Frühjahr 2014

Pater Philipp Görtz SJ

Einführung

Ignatius von Loyola saß in Rom nachts oft draußen und betrachtete den Sternenhimmel. Vielleicht tat er dies in Erinnerung an den Anfang seines geistlichen Weges, als er sich in der Heimat auf dem Krankenlager befand. Damals war es für ihn überaus trostreich, „den Himmel zu schauen und die Sterne. Dies tat er viele Male und über lange Zeit; denn dadurch verspürte er in sich einen sehr großen Eifer, Gott unserem Herrn zu dienen. Er dachte viele Male an seinen Vorsatz und wünschte, bereits ganz gesund zu sein, um sich auf den Weg zu machen“ (BP 11). Es waren allerdings nicht so sehr die unendlichen Weiten des Universums oder die Schönheit der Sterne, die ihn beeindruckten. Ignatius war vielmehr erfüllt von der Größe und Schönheit sowie von der Liebe und Fürsorge dessen, der all das erschaffen und so wohl geordnet hatte. Von ihm, seinem Herrn und Gott, wollte er sich führen lassen, in seine Schule wollte er gehen und von seiner Pädagogik wollte er lernen, um ihm je besser zu dienen und den Menschen je mehr zu helfen.

Wer immer pädagogisch und seelsorglich mit jungen Menschen zu tun hat und will, dass Kinder und Jugendliche in Freiheit wachsen und reifen und ihren je eigenen Weg finden, muss an sie „glauben und sie ermutigen, nach den Sternen zu greifen“. In jedem Heranwachsenden liegt ein Potential, das geweckt und gefördert werden will: Junge Menschen sind offen dafür und neugierig darauf, nach den Quellen des Lebens zu suchen. Sie haben „Interesse an existentiellen Fragen“ und lassen sich ansprechen „von Visionen, wie es einmal sein könnte“. Die eindringlichste und zugleich zurückhaltendste Form der Ermutigung besteht im Vorleben der eigenen Vision vom Leben und in der Bereitschaft, davon Zeugnis zu geben und einladend darüber zu sprechen. Die Vision, welche die Gesellschaft Jesu für die Schülerinnen und Schüler an ihren Schulen hat, zielt darauf, dass diese „ein tiefes und allgemeines Mitgefühl für die Nöte ihrer Mitmenschen“ erwerben und dass sie sich selber bilden und sich bilden lassen „zu Männern und Frauen für Frieden und Gerechtigkeit“, die aus dem Glauben heraus ganz konkret am Aufbau des Reiches Gottes mitarbeiten (s. KOLVENBACH 1993, 123).

Die Vision, dass junge Menschen zu ermutigen sind, nach den Sternen zu greifen, steht am Anfang aller Überlegungen zu einer Konzeption ignatianischer Schul- und Jugendpastoral und beinhaltet etwa folgende Fragen: Wie muss ignatianische Schulpastoral konzipiert sein, dass Heranwachsende nach den Sternen greifen und über sich hinauswachsen können? Was gehört in eine Konzeption von Schulpastoral, die sich der Jesuitenorden als Träger mehrerer Kollegien und Einrichtungen der Jugendarbeit zu eigen machen sollte? Welche schul-/jugendpastoralen Konzepte dienen Jugendlichen und anderen Adressaten für ihr menschliches, geistiges und geistliches Wachstum? Und welche schul- und jugendpastoralen Angebote und Maßnahmen tragen dazu bei, dass ein Kolleg bzw. eine jugendpastorale Einrichtung der Gesellschaft Jesu humaner, sozialer und gerechter wird sowie offener für die Frage nach Gott?

Hintergründe

Dem Kern nach sind das keine neuen Fragen. Schon kurz nach der Ordensgründung (1540) ging es den ersten an Schulen und Kollegien arbeitenden Jesuiten neben intellektueller immer auch um religiöse Bildung und darum, den Seelen zu helfen. Sie wollten immer zugleich Seelsorger für die ihnen anvertrauten Menschen sein. Im Dienste dieses iuvare animas und im Sinne der Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola (1491–1556) fragten sie: Was hilft den Menschen, den Willen Gottes für sich und ihr Leben zu finden, und was hilft ihnen, Gott je mehr zu lieben und ihm je besser zu dienen? Juan Alphonso de POLANCO (1512–1576) war der Meinung, dass es „allgemein gesehen in der Gesellschaft Jesu zwei Weisen gibt, den Nächsten zu helfen: die eine besteht darin, in den Kollegien die Jugend in Literatur, Lernen und christlichem Leben zu erziehen, und die zweite darin, an jedem Ort jeder Art von Personen durch Predigen, Beichthören und andere Mittel zu helfen, entsprechend unserer üblichen Weise des Vorangehens“1. Den Menschen helfen zu wollen, war für Ignatius deswegen so wichtig, weil er während seiner Zeit in Manresa (1522) selber Hilfe erfahren hatte, als Gott ihn auf eine Weise geführt hatte (s. BP 27), die es ihm ermöglichte, Jesus persönlich nachzufolgen. Die ihm gewährten geistlichen Einsichten und befreienden Erfahrungen wollte er weitergeben, weswegen er zunächst Einzelne zu Exerzitien2 anleitete und sich später mit seinen ersten Gefährten besonders der Katechese für Kinder und einfache Leute zuwandte.

Obwohl die ersten Gefährten frei sein wollten von Institutionen, die sie binden und in ihrer Mobilität behindern würden, waren sie bereit, jede Art von Mitteln anzuwenden, um den Menschen zu helfen. So entsprach Ignatius bereits 1548 der Bitte der Stadtväter von Messina, dort ein erstes Kolleg zu gründen, an dem Jesuiten junge männliche Laien unterrichteten. Bis zu seinem Tod (1556) unterhielt der Orden 40 Kollegien, die nach Maßgabe der Satzungen geführt wurden. Ihre Ausrichtung bestand darin, „den eigenen Seelen und denen der Nächsten zu helfen, das letzte Ziel zu erreichen, für das sie geschaffen worden sind“, wozu „außer dem Beispiel des Lebens Lehre und eine Weise, sie vorzulegen, notwendig sind“ (Sa 307). Dadurch war die Gesellschaft Jesu früh zu einem Orden geworden, der Bildungsarbeit als apostolische und seelsorgliche Arbeit verstand.

Im Jahr 1599 wurde die Ratio Studiorum veröffentlicht, eine sehr allgemein gehaltene Studienordnung, die die Erziehungs- und Bildungsarbeit an den Kollegien regelte. Der Unterricht in den verschiedenen Wissenschaften orientierte sich am modus parisiensis, der mittels Übungen, Disputationen und Repetitionen die Schüler dazu anhielt, den Lehrstoff häufig und auf vielfältige Weise zu wiederholen und zu verinnerlichen und der nicht zuletzt auf die Erziehung und Bildung von christlichen Persönlichkeiten zielte. Daneben waren die Unterweisung in geistlichen Dingen sowie die seelsorgliche Begleitung von Anfang an fester Bestandteil des christlich-humanistischen Curriculums. Zum spirituellen Programm gehörten neben häufiger Beichte und Kommunion sowie täglichem Gebet und regelmäßiger Gewissenserforschung, dass Schüler Teile der Geistlichen Übungen machten und sich – ihrem Alter entsprechend – in Werken der Barmherzigkeit übten. Neue seelsorgliche Akzente setzte Johannes LEUNIS (1535–1584), als er 1563 seine besten Schüler um sich sammelte und sie außerhalb des Unterrichts dazu ermutigte, sich auf den Gebieten der Frömmigkeit, der künstlerisch-musischen Bildung und des apostolischen Einsatzes zu engagieren. Die Marianischen Kongregationen, die daraus entstanden, nahmen in ihrer ganzheitlichen Ausrichtung das vorweg, was später als Schülerseelsorge bzw. als Jugendarbeit bezeichnet wurde.

Über die Jahrhunderte wandelte sich die Art der Seelsorgstätigkeit an den Schulen. In den 1950/60ern wurde versucht, einzelne Schüler für Exerzitien im strengeren Sinne zu gewinnen, ganze Klassen dagegen für eher niederschwellige Besinnungstage. In Bezug auf die Entwicklung „von der Schülerseelsorge zur Schulseelsorge“ spielten Alfonso PEREIRA (1917–1991) und Clemente PEREIRA (1911–1990) eine wichtige Rolle. Mit zahlreichen Schriften erfüllten sie das Gebetsapostolat mit neuem Leben und wollten in den sogenannten Religiösen Schul-Wochen „nicht nur einzelne Schüler, sondern alle Schüler in ihrem ‚Milieu‘ in einer außerordentlichen Schulung zur Erneuerung“ anregen. In Form der Werktagsheiligung sollte „die ganze Schule erfasst werden, damit der Geist der Schule religiöser und die Atmosphäre reiner werde“ (PEREIRA, Clemente 1960, 226).

Schaut man heute in die Jesuitenkollegien, so trifft man dort auf eine breite Vielfalt schulseelsorglicher Angebote und schulpastoraler Maßnahmen. Die Marianischen Kongregationen sind abgelöst durch Jugendverbände (J-GCL, KSJ etc.), die vor allem auf dem Sektor der Freizeitbetreuung Kinder- und Jugendgruppen anbieten, worin durchaus ein konkreter schulpastoraler Dienst gesehen werden kann. Aus den Religiösen Schul-Wochen wurden Besinnungstage bzw. Tage religiöser Orientierung. Exerzitienähnliche Angebote oder Exerzitien für Einsteiger gibt es meist in der Oberstufe, vor dem Abitur bzw. um den Überstieg in die Zeit nach der Schule „ins Gebet zu nehmen“. Nachdem in den vergangenen Jahren im Bereich der Schulpastoral vielfältige Anstrengungen in Theorie und Praxis unternommen wurden, scheint es angebracht, danach zu fragen, wie sich ignatianische Schulpastoral heutzutage gestalten sollte, wovon sie profitieren und was sie selber von ihrem Proprium in die allgemeine Diskussion um Schul- und Jugendpastoral einbringen kann.

1Allgemeine Entwicklung und religiöse Bildung Heranwachsender

Ein professionelles Engagement im Bereich der Schul- und Jugendpastoral setzt voraus, dass man sich ausführlich mit den Personen beschäftigt, mit denen man zu tun hat. Wer sind die Kinder und Jugendlichen, die heute unsere Schulen besuchen und an unseren Jugendarbeiten teilnehmen? Was sind die wichtigsten Faktoren ihrer Entwicklung? Wofür interessieren und mit was beschäftigen sie sich? Wie bildet sich ihr Glauben und was prägt ihre Überzeugungen? Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen haben Auswirkungen auf die Art und Weise, wie ignatianische Schul- und Jugendpastoral zu konzipieren ist und was man dabei zu berücksichtigen hat.

1.1Entwicklungspsychologische Aspekte

Die Entwicklungspsychologie des Jugendalters befasst sich vor allem mit der detaillierten Beobachtung von Lebensbewältigungsprozessen Jugendlicher. Sie versteht Entwicklung als einen Prozess, der vom Heranwachsenden selbst getragen und gestaltet wird. Wie dieser verläuft, hängt besonders „von den personalen und sozialen Ressourcen“ ab, „die für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben zur Verfügung stehen“ (FEND 2003, 21 f). Im Laufe der Geschichte der Entwicklungspsychologie setzte man zunächst auf sogenannte endogene Theorien, die sich der Entwicklungsdynamik der Person annahmen.3 Später konzentrierte man sich auf sogenannte exogene Theorien, denen die Annahme zugrunde liegt, dass Entwicklung maßgeblich durch soziale Kontexte geprägt wird.4 Beide Ansätze sind mittlerweile abgelöst worden von einer interaktiven Theorie, die sich auf die Erkenntnisse der beiden älteren Theorien stützt und sie gleichsam in sich aufnimmt. Sie beschreibt die Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor allem mit Hilfe von Entwicklungsaufgaben.

1.1.1Entwicklungsaufgaben

Interaktive Theorien betrachten den Jugendlichen als Werk seiner selbst. Ihrer Untersuchung liegen handlungstheoretische Modelle von Entwicklung zugrunde, die von selbstständigen Verarbeitungsprozessen des Individuums ausgehen und dabei nach Verarbeitungsformen innerer und äußerer Handlungsbedingungen und deren Niederschlag in der Persönlichkeit fragen. Verhaltens-Psychologen sprechen bei der zu untersuchenden Lebensphase von der Adoleszenz. Die menschliche Entwicklung wird nun nicht mehr nur deskriptiv und theoretisch analysiert, sondern normativ weitergeführt. Angezielt wird eine pädagogische Leitidee, die besagt, dass der Entwicklungsprozess der Adoleszenz darauf zielt, dass der Heranwachsende mehr und mehr selbstverantwortlich seine Entwicklung gestaltet, indem er die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben5 bewältigt. Auf die Frage, wer diese Entwicklungsaufgaben stellt, stößt man auf eher implizite denn explizite Erwartungen der Umwelt, der Gesellschaft und der Erwachsenen (speziell der Lehrer, Erzieher und Eltern). In Abgrenzung zu expliziten Entwicklungsnormen ist allerdings zu betonen, dass Entwicklungsaufgaben zugleich eine individuelle Setzung des Jugendlichen sind: Sie hängen ab von seiner individuellen Leistungsfähigkeit, von pluralen soziokulturellen Normen, mit denen er konfrontiert wird, und von selbst gesetzten individuellen Zielen.

Die im Folgenden dargestellten Entwicklungsaufgaben scheinen mir von besonderer Relevanz im Hinblick auf heutige Schüler an weiterbildenden Schulen in Deutschland. Sie decken das Spektrum des sozialen Kontextes weitgehend ab, rekurrieren auf Gesetzmäßigkeiten der inneren Entwicklung und nehmen Bezug sowohl auf die häufigsten Herausforderungen und Probleme des Alltags von Jugendlichen als auch auf die ko-konstruktiv einzusetzenden personalen und sozialen Ressourcen der Problembewältigung, der Normalentwicklung und der Risikoentwicklung, die ihnen zur Verfügung stehen.

1.1.1.1Umgang mit inneren Veränderungen

Umgang mit dem Körper: Mitten in der Schulkarriere einer Schülerin bzw. eines Schülers verändert sich mit einem mal etwas, was bisher eher langsam und kontinuierlich gewachsen war. Der Körper zeigt Anzeichen einer selbst-beobachtbaren und massiv geschlechtsspezifischen Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen. Jugendliche haben den Eindruck, in ihrem Körper gingen Dinge vonstatten, die ihnen bislang unbekannt waren, und sie beschleicht das Gefühl, ihr Körper habe mehr Macht über sie als sie über ihn. Was im Körper eines Jugendlichen genau vorgeht, lässt sich nicht simplizistisch beschreiben, sondern stellt vielmehr einen komplexen Vorgang dar, bei dem hormonelle Veränderungen einhergehen mit der Entwicklung der Geschlechtsmerkmale sowie der Entfaltung der Fortpflanzungsfähigkeit.

Ein interaktives Verarbeitungsmodell geht davon aus, dass Jugendliche puberale Prozesse wahrnehmen und zunächst subjektiv interpretieren. Je nachdem, in welchem Maße ein Jugendlicher über persönliche und soziale Ressourcen im Sinne von Selbstbewusstsein und sozialer Unterstützung verfügt, kann er ein mehr oder weniger positives Konzept der eigenen Attraktivität entwickeln, was sich wiederum auf sein emotionales Befinden auswirkt. Darüber hinaus versuchen die meisten Jugendlichen das eigene äußere Erscheinungsbild aktiv zu gestalten und sich zu „inszenieren“, um den eigenen Körper zur Kontaktaufnahme einzusetzen, was sich auf die soziale Stellung und Akzeptanz auswirkt. Gelingt dieser Prozess in den Augen des Jugendlichen, so wird dies sein Selbstbewusstsein stärken. Wenn nicht, so drückt sich dies in mangelnder Selbstakzeptanz aus und kann bis hin zu Depressionen führen.

In der Pubertät schenkt die Natur dem Heranwachsenden einen „neuen Körper“, den zu „bewohnen“ gelernt sein will. Dazu gehört, dass Jugendliche sich mit der eigenen Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit auf der einen sowie mit Schönheitsidealen und Allmachtsfantasien auf der anderen Seite auseinandersetzen. Sie stehen vor der Aufgabe, ein diszipliniertes und zugleich natürliches Ess-, Hygiene- und Gesundheitsverhalten einzuüben und sich genügend körperlich zu betätigen. Will der Heranwachsende bei der Verarbeitung seiner Pubertät selber Verantwortung übernehmen und will er diese rational und verantwortlich steuern und gestalten, so muss er lernen, auf verschiedene Ressourcen zuzugreifen und sich neue Fähigkeiten anzueignen: Er sollte sich von wohlwollenden Erwachsenen unterstützen lassen, statt sich zurückzuziehen und sich zu distanzieren. Er sollte sich nicht allein über meinungsmachende Medien aufklären lassen, sondern fundierte Informationen z. B. von Eltern oder aus dem Sexualkundeunterricht annehmen, sich in gesundem Maße disziplinieren (lassen), statt „herumzuhängen“ und sich treiben zu lassen, und er sollte die häufig dramatische Kluft zwischen äußerem Verhalten und innerer Stimmungslage aushalten, annehmen, ausdrücken und nach und nach überbrücken lernen.

Auch von Pädagogen, Erziehern, Lehrern und Eltern wird im Umgang mit den körperlichen Veränderungen bei Jugendlichen einiges verlangt: Sie sollen sich über die Inhalte der Aufklärungsangebote von Medien, an denen sich Jugendliche orientieren, informieren, Hilfreiches betonen und unterstreichen, Ungenügendes ergänzen sowie Falsches richtigstellen. Wichtig ist, dass sie die Probleme und Nöte von Jugendlichen kennen und ernst nehmen, vor allem in Bezug auf den Entwicklungsvorsprung bzw. Entwicklungsrückstand6 einzelner. Im Hinblick auf Schulklassen und noch mehr auf Jugendgruppen ist zu beachten, dass zwischen dem Einsatz der Pubertät von Frühentwicklern und Spätentwicklern bis zu sechs Jahre liegen können.

Umgang mit der Sexualität: „Liebe, Sex und Partnerschaft“ ist eine Thematik, die auf Besinnungstagen der Jahrgangsstufen 8 und 9 am häufigsten gefragt ist, wenn Jugendliche frei wählen können. Das ist für diese Altersgruppe nicht verwunderlich, sind doch die körperlichen Veränderungen eng mit der fortschreitenden Entwicklung der Sexualität verknüpft: die Intensität sexueller Bedürfnisse nimmt zu, Jugendliche werden reproduktionsreif und empfängnisfähig. Kaum etwas anderes ist in der Pubertät so interessant, als was man mit seinem Körper eben auch „machen“ kann. Kulturell unterliegt Sexualität normativen Regulierungen. War sie früher über Gebote und Verbote eher institutionell geregelt, so orientierte sie sich seit dem 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts immer stärker an persönlicher Zuneigung. In der modernen und postmodernen Gesellschaft sind Regulierungsnormen von Sexualität äußerst individualisiert, ihr moralischer Wertemaßstab ist die Selbstentfaltung der Person.

Zur Integration sexueller Potenz und kultureller Normen in einer selbstverantworteten Persönlichkeit gehört, dass Jugendliche ausgehend von den eher unverbindlichen Beziehungen und Freundschaften der Kindheit lernen, personale Intimbeziehungen zu einem konkreten gegengeschlechtlichen Gegenüber aufzubauen. Heranwachsende bewältigen die Entwicklungsaufgabe Umgang mit der Sexualität derart, dass sie ein Gespür dafür entwickeln, was für sie und den Partner gut und stimmig ist, was sie sexuell möchten und was sie zu geben bereit sind. Sie müssen sich um sexuelle Authentizität bemühen. Wenn Sexualität nicht auf „Sex“ reduziert werden soll, müssen sie fernerhin lernen, dass diese mit dem Bedürfnis zusammenhängt, geliebt und akzeptiert zu werden, mit Verantwortung und gegenseitigem Respekt sowie mit der Bereitschaft, eine soziale Bindung einzugehen, auch wenn diese in der Pubertät noch eher experimenteller Natur und in der Regel nicht auf Dauer angelegt ist.7 Auch der Umgang mit äußerst problematischen Aspekten der Sexualität will gelernt und eingeübt sein: Formen sexueller Gewalt, Verführung und Missbrauch8 dürfen nicht verschwiegen oder ausgeblendet werden; Kinder und Jugendliche müssen wissen, wie sie sich schützen und an wen sie sich verlässlich wenden können. Nach wie vor ein wichtiges Thema bleibt, dass Jugendliche sich ein Wissen um die Wirkung und Anwendung unterschiedlicher Verhütungsmethoden erschließen. Und schließlich müssen sie sich die Fähigkeit aneignen, darüber zu sprechen, wenn sie erniedrigt oder missachtet werden bzw. wenn eine Beziehung in die Brüche geht.

Aus pädagogischer Sicht ist es wichtig, dass neben der besten Freundin bzw. dem besten Freund auch Erwachsene als authentische und unaufdringliche Ansprechpartner zur Verfügung stehen, die Jugendliche bei der Entwicklung eines soliden Selbstvertrauens unterstützen, was wiederum Grundlage dafür ist, verantwortungsvoll mit der eigenen Sexualität umzugehen, sie in sozialen Bindungen zu verankern und in der Mitte des eigenen Selbstverständnisses zu platzieren. Nach wie vor sind die Eltern eine wichtige Vermittlungsinstanz in Sachen Aufklärung und Vertrauenspersonen für sexuelle Fragen. Über Verhütung wird meist im Schulunterricht informiert. Beratungsstellen sind zwar anerkannt, werden aber nur wenig genutzt. Nach wie vor besteht ein hoher Bedarf an Aufklärung, Beratung und Unterstützung.

1.1.1.2Umbau des sozialen Beziehungsgefüges

Bei der Entwicklungsaufgabe Umgang mit der Sexualität wurde deutlich, welche Rollen soziale Bindungen spielen und in welchem Maß gerade Eltern als Vertrauenspersonen zu Rate gezogen werden. Diese Beziehungen stehen in dem Maße, wie Kinder zu selbstständigeren und verantwortungsbewussteren Jugendlichen werden, vor einer Reorganisation, die bewältigt und gestaltet werden muss.

Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter: „Pubertät ist, wenn Eltern kompliziert werden!“, so lautet ein verbreiteter Schülerspruch, der das auf den Kopf stellt, was Eltern gegenüber ihren Kindern im Jugendalter empfinden. Was hier umgangssprachlich als Alltagsweisheit formuliert wird, deutet an, dass es bei der Entwicklungsaufgabe des Umbaus des sozialen Beziehungsgefüges nicht um einen einseitigen Prozess geht, sondern um ko-konstruktive Interaktionen im Rahmen interner Vorgaben und kultureller Kontexte.

Das Eltern-Kind-Verhältnis hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Die traditionelle „Kommandofamilie“, in der Kinder eine Art Altersvorsorge darstellten, die Autorität allein bei den Eltern lag und der Generationenkonflikt ein schier unausweichliches Phänomen war, wandelte sich im Zuge des Autoritätsverlustes der Eltern und einer emotionalen Intimisierung zur „Verhandlungsfamilie“. Was Jugendliche wollen und dürfen, wird oft individuell und demokratisch ausgehandelt, wobei beide Seiten, Eltern und Kinder, sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Mit Blick auf die strukturelle Situation, auf die legalen Verantwortlichkeiten, Ressourcen, Sanktionen und Rechte bleibt in der Familie oder zwischen Generationen dennoch ein asymmetrisches Verhältnis, welches auch in Aushandlungssituationen nicht ohne Konflikte abläuft. Wichtig ist, festzuhalten, dass Jugendliche vermehrt Eigenverantwortung für den Prozess ihres Selbstständigwerdens übernehmen und dass Eltern sie dabei begleiten, fördern und unterstützen.

Die hiesige Entwicklungsaufgabe zielt auf die Individuation der Heranwachsenden, bei der wachsende Selbstständigkeit und bleibende Verbundenheit mit der eigenen Herkunft Hand in Hand gehen. Wenn Jugendliche sich von ihren Eltern emanzipieren, beginnt ein Prozess von Interessenkonflikten9: Eltern wollen das Beste für ihre Kinder; Jugendliche dagegen wollen mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheiten und mehr Rechte. Ausgehandelt werden diese Konflikte in einem familiären Diskurs, der von Elternseite nicht interesselos geführt wird und der aus individuell-persönlicher Sicht zumeist die optimale Entwicklung der Kinder zum Ziel hat. Aufgabe der Heranwachsenden ist es, Strategien zu entwickeln, um eigene Vorstellungen in diesen Diskurs einzubringen, sie durchzusetzen und umzusetzen. Dies gelingt ihnen umso besser, je mehr ihre Eltern das Gefühl haben, dass sich ihr Verhalten und die Ergebnisse, die sie damit erzielen, langfristig positiv auf ihre Entwicklung auswirken. Konfliktiv ist dieses Interaktionsgeschehen meist deswegen, weil ein großer Unterschied zwischen beiden Seiten besteht: Während Eltern ihre Lebenszufriedenheit davon abhängig machen, dass sie eine positive und emotional befriedigende Beziehung zu ihrem Kind haben, ist für Heranwachsende das Leben zusammen mit ihren Eltern alles andere als die Erfüllung ihres Lebensprojektes. Ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet, sie streben nach neuen Bindungen, nach Beziehungen zum anderen Geschlecht. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass, wenn Kinder in die Pubertät kommen, sie und ihre Eltern die gegenseitigen Erwartungen und ihren Kommunikationsstil so reorganisieren, dass Verlässlichkeit und Anpassungsfähigkeit gleichermaßen gewährleistet sind. Als „normalverlaufend“ kann man eine Eltern-Kind-Beziehung in der Adoleszenz dann bezeichnen, wenn Jugendliche ihre sozialen Aktivitäten auch nach außerhalb der Familie verlagern, wenn sie Selbstständigkeit und Selbstverantwortung gerade durch Konflikte hindurch erobern, wenn sie weniger emotional in die Familie investieren und die Beziehung zu den Eltern „zurückfahren“ und wenn Eltern mit der Zeit immer weniger Einfluss auf ihre Kinder ausüben.10