Christiane Brendel / Adelheid Wenzelmann

Martin Luther und Ignatius von Loyola

Entdeckung einer spirituellen Verwandtschaft

Ignatianische Impulse

Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ und Martin Müller SJ

Band 74

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Christiane Brendel
Adelheid Wenzelmann

Martin Luther und Ignatius von Loyola

Entdeckung einer spirituellen Verwandtschaft

echter

Inhalt

Annäherungen

Sr. Adelheid Wenzelmann

Christiane Brendel

Vorwort

Zwei Biografien

Beten und Meditieren

Zwei Männer des Gebets

Beten lernen

Geistliche Begleitung

Meditation der Heiligen Schrift

Das Vaterunser

Die Psalmen

Fundament und Ziel

Schöpfer und Geschöpf

Frei werden

Danken und loben

Umkehr und Versöhnung

Gewissen

Sünde und Selbsterkenntnis

Gespräch mit dem Gekreuzigten

Beichte

Jesus Christus und Nachfolge

Gott wird Mensch

Nachfolgen

Eins-Sein mit Gott und Christus

Wille Gottes und Gehorsam

Trost und Heiliger Geist

Trostlosigkeit und Anfechtung

Selbstlosigkeit und Demut

Kreuz und Auferstehung

Kreuz Christi und Leiden der Christen

Sterben und Tod

Auferstehung und ewiges Leben

Leben in der Kirche

Kirche

Gemeinschaft der Heiligen

Eucharistie – Abendmahl

Maria

Glauben im Alltag

Arbeit und Segen

Muße und Gelassenheit

Glaube und gute Werke

Krankheit und Gesundheit

Nächstenliebe und Barmherzigkeit

Schöpfung und Lebensfreude

Singen und Musik

Nachwort

Dank

Textnachweise

Literatur in Auswahl

Anmerkungen

Annäherungen

Auf den Spuren des Ignatius in Rom

Januar 2010. Freisemester in Rom. Ich besuche die Jesuitenkirche Il Gesu. Es ist halb sechs Uhr abends. Über einen Lautsprecher ertönt Chormusik. Scheinwerfer beleuchten den großen Altar über dem Grab des Ignatius. Die schöne barocke Kirche erstrahlt in hellem Licht. Texte von Ignatius werden in italienischer Sprache gelesen. Zum Schluss zieht man eine Leinwand mit dem Bild des Ignatius nach unten und seine Gestalt wird als silberne Statue sichtbar. Übersät mit einer Fülle von Edelsteinen, hoch aufgerichtet, den Blick zum Himmel.

Ich trete näher heran und schaue mir die marmornen Gestalten im unteren Teil des Altares an. Zwei allegorische Frauengestalten mit einer Fackel und einem Kreuz in der Hand stürzen elende Gestalten mit verzerrtem Gesicht zu Boden. Kleine Engel helfen dabei. Neben den zu Boden geworfenen Gestalten liegen Bücher. Ein Engel reißt eifrig Seiten aus einem Buch, auf dessen Rücken ich bei der hellen Ausleuchtung den Namen Martin Luther entziffern kann. Auf dem Buchrücken zweier anderer Bücher kann ich Johannes Calvin und Huldreich Zwingli erkennen. Die Bücher der Reformatoren sollen vernichtet werden: Ignatius, der triumphale Kämpfer für den rechten Glauben. Auf der Postkarte zu dem Altar steht: »Der Glaube schlägt die Ketzerei nieder«.

Ich spüre an diesem Grabmal die Wucht des Kampfes zwischen Reformation und Gegenreformation. Was hat man auf beiden Seiten einander angetan, hat sich bekämpft, verteufelt und im Namen Gottes sogar getötet. Heute würde niemand mehr solche Werke in Auftrag geben. Welche Entwicklungen haben wir inzwischen durchgemacht! Mich erfüllt eine große Dankbarkeit für die andere ökumenische Situation, in der wir heute leben.

Als ich meinem geistlichen Begleiter, einem Jesuiten, betroffen von der Entdeckung des Grabmals erzähle, schreibt er mir: »Die Zerstörung der Lutherbücher am Ignatius-Altar … ist für mich immer ein Grund für Nachdenklichkeit, Scham und das Knüpfen aufrechter Beziehungen, die helfen, die Spaltung zu überwinden. Wegmeißeln wird man das am Marmor wohl nicht, aber es gibt ja Gott sei Dank andere Weisen der Revision, z.B. die Art, wie der Orden … sich heute um Ökumene bemüht.«

Eine eindrückliche Weise der Revision erleben wir als Communität in der Zusammenarbeit mit Jesuiten im Kloster Wülfinghausen, südlich von Hannover. Ausgebildet in katholischen Kursen für Exerzitienbegleitung und geistliche Begleitung,1 war die Wiederbelebung dieses alten Augustinerinnenklosters der Klosterkammer Hannover von Anfang an von ökumenischer Weite geprägt.

Inzwischen werden in unserer evangelischen Kirche Exerzitien im Alltag in vielen Gemeinden angeboten – oft ökumenisch verantwortet. Einzelexerzitien gehören zum Kursprogramm etlicher Einkehrhäuser unserer Kirche, besonders im Umfeld der evangelischen Communitäten. In einigen Landeskirchen werden seit einigen Jahren Ausbildungskurse für geistliche Begleitung angeboten.

Noch in meiner Jugend wurden Jesuiten und »Gegenreformation« in einem Atemzug genannt; die Jesuiten – der antiprotestantische Orden im Dienst des Papstes.

Durch die Wiederentdeckung der geistlichen Begleitung aus der ignatianischen Spiritualität hat ein fruchtbarer ökumenischer Austausch begonnen. Es ist ein Netz geistlicher Freundschaft zwischen evangelischen und katholischen Christen entstanden. Neue Räume geschwisterlicher Zusammenarbeit haben sich eröffnet, die für die Kirchen fruchtbar werden.

Sr. Adelheid Wenzelmann

Eine lutherische Pfarrerin begegnet den ignatianischen Exerzitien in einer evangelischen Communität

Im Sommer 2007 begann ich die berufsbegleitende Fortbildung »Geistliche Begleitung« im Kloster Wülfinghausen. Sie lockte mich, weil ich meine seelsorgerliche Arbeit in der Gemeinde ausbauen und vertiefen wollte.

Von Anfang an war in diesem Kurs und an diesem Ort nahezu alles ökumenisch: katholische und evangelische Referentinnen und Supervisoren, die Stundengebete der Communität, die sich liturgisch aus beiden Traditionen speisen, sowie eine theologisch gebildete und menschliche Weite, die mich von Anfang an faszinierte.

In Vorträgen, Diskussionen und Übungen haben wir im Laufe von zwei Jahren Traditionen geistlicher Begleitung bei unseren Müttern und Vätern im Glauben aufgespürt und von ihnen wertvolle Anregungen für unsere eigene pastorale und seelsorgerliche Arbeit bekommen.

Das Herzstück der Fortbildung: die neuntägigen Exerzitien in der Mitte der Kurszeit. Kompetent angeleitet und liebevoll begleitet von den Schwestern und Kursleitern, machten wir uns auf die Reise in die Stille. Hörendes Verweilen vor Gott, betendes Betrachten biblischer Texte und gemeinsame abendliche Feiern des Abendmahls. Dabei habe ich noch einmal neu das Staunen gelernt.

Im Mitleben des klösterlichen Rhythmus’ von »ora et labora«, bei der Arbeit im Klostergarten genauso wie im Mitfeiern der Stundengebete, spürte ich den Segen der Unterbrechung.

Und ich bin reicher geworden um die kostbare Erfahrung, selbst begleitet zu werden im Zurückschauen auf gegangene Lebens- und Glaubenswege ebenso wie auf den gegenwärtigen Spuren meiner Sehnsucht.

Viel habe ich in dieser Zeit und im Fortgang des Kurses über ignatianische Spiritualität und ihre heutige Vermittlung erfahren. Zugleich ist mir klar geworden, wie sehr Martin Luther – nicht zuletzt durch seine monastische Prägung – selbst ein leidenschaftlicher Beter und Gebetslehrer war. Was er uns an spirituellen Schätzen hinterlassen hat, lohnt sich jenseits konfessioneller Dogmatik wieder neu zu entdecken.

Manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn Luther und Ignatius einander zu Lebzeiten begegnet wären. Welcher Dialog wäre wohl zwischen ihnen entstanden? Bei ihrem Temperament hätten die beiden über manche Themen gewiss streiten können. Aber vermutlich hätten sie auch festgestellt, dass es im Blick auf ihr geistliches Leben und auch auf ihr seelsorgliches Anliegen viele Berührungspunkte gab.

Über diese Berührungspunkte können die beiden in diesem Buch miteinander in ein »fiktives Gespräch« kommen.

Christiane Brendel

Vorwort

Die Motivation für dieses Buch ist die ökumenische Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Anlass für dieses Buch zu Ignatius von Loyola und Martin Luther ist das Reformationsjubiläum 2017, das dazu einlädt, sich mit Luther und seiner Botschaft neu zu befassen.

Von der Erfahrung der Exerzitien und den Gebetsanregungen des Ignatius her gewinnen wir einen neuen Blick auf vergessene Schätze der Praxis Pietatis bei Luther. Zeit seines Lebens hat er – in der Tradition der Augustinereremiten ausgebildet – das Beten geübt. Im betenden Umgang mit der Heiligen Schrift ist ihm die Erfahrung der Rechtfertigung »allein aus Gnade« geschenkt worden.

In diesem Buch unternehmen wir den Versuch, vor allem Themen aus dem Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola in Beziehung zu setzen zu Aussagen und Erfahrungen Martin Luthers. Es ging uns darum, »Fundstücke« zusammenzutragen, die das eigene geistliche Leben inspirieren können. Dabei orientierten wir uns an dem, was beide Gebetslehrer verbindet und wo sich ihre Auffassungen berühren.

Es ist uns bewusst, dass Ignatius und Luther hinsichtlich der Bedeutung von Bibel, Tradition, Autorität, Amt, Kirche und Sakramente zu unterschiedlichen Bewertungen gelangt sind. Ignatius war ein Praktiker, der die Lehre der katholischen Kirche nie grundsätzlich infrage stellte. Luther war gezwungen, seine neue Lehre im Disput zu verteidigen. Dies führte, auch im Verlauf der weiteren Kirchengeschichte, zu konfessionellen Zuspitzungen und Verhärtungen. Sie wurden und werden wissenschaftlich erforscht, beschrieben und diskutiert, sind aber nicht Gegenstand dieses Buches.

Luther hielt als Professor Vorlesungen, verfasste Bücher und Schriften, schrieb Briefe und predigte regelmäßig in der Stadtkirche in Wittenberg. Die Weimarer Ausgabe seiner Schriften umfasst mehr als 120 Bände.

Ignatius schrieb das Exerzitienbuch, diktierte in den letzten Jahren auf Bitten seiner Brüder seine Autobiographie, den sogenannten »Pilgerbericht«, erarbeitete die Satzungen des Ordens und schrieb Tausende von Briefen.

Dieses Buch will anregen, die Worte und Gedanken der beiden Gebetslehrer in den Alltag mitzunehmen. Beide wollten den Menschen helfen, ins Gespräch mit Gott zu finden und ein selbstständiges geistliches Leben zu führen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit den gesammelten Zitaten umzugehen:

Ich kann mir für einen Tag oder für mehrere Tage einen Ignatius- oder einen Luthertext auswählen, der mich besonders anspricht. Was löst das Zitat in mir aus? Wie kommt das angesprochene Thema in meinem Leben vor? Wie habe ich es erlebt, und wie würde ich es ausdrücken? Meine Erfahrungen und Eindrücke lassen sich auch in einem »geistlichen Tagebuch« festhalten. Ich kann mich darüber mit einem Freund oder einer Freundin austauschen und sie in meine geistliche Begleitung einbringen. Oder in einen Gesprächskreis, am besten in ökumenischer Zusammensetzung. Im gemeinsamen Gespräch werden die konzentrierten Zitate noch einmal flüssig und können sich mit Erfahrungen verbinden oder neue Erfahrungen auslösen.

Bei der Reihenfolge der Themen haben wir uns in etwa an den Aufbau des Exerzitienbuches angelehnt. Einige Hinweise zum Beten, die auch über das Exerzitienbuch verteilt sind, wurden an den Anfang genommen. Die Texte bauen inhaltlich nicht unmittelbar aufeinander auf, sodass es möglich ist, nach Lust und Neigung an einer Stelle aufzuschlagen: lesen, betrachten, meditieren, über manches staunen und sich an anderem reiben.

Wir würden uns freuen, wenn dieses Buch neben einem »Lesebuch« auch ein »Lebebuch« werden könnte.

Sr. Adelheid Wenzelmann und Christiane Brendel