CHRISTOF MÜLLER

GUNTRAM FÖRSTER

HERAUSGEBER

Von Menschenwerk und Gottesmacht

CASSICIACUM

 

CASSICIACUM

Forschungen über Augustinus und den Augustinerorden.
Herausgegeben von der Bibliotheca Augus tiniana – Forschungsbibliothek der Deutschen Augustiner

 

will theologische und philosophische Studien in der Augustinerfamilie fördern im Gedenken an die wissenschaftliche Tätigkeit Augustins zu Cassiciacum bei Mailand, wo er sich im Freundeskreis auf die Taufe vorbereitete.

 

 

Band 3912

RES ET SIGNA

12

Augustinus-Studien

CHRISTOF MÜLLER

GUNTRAM FÖRSTER

HERAUSGEBER

Von Menschenwerk und Gottesmacht

Der Streit um die Gnade
im Laufe der Jahrhunderte

Beiträge des XI. Würzburger
Augustinus-Studientages
vom 7. Juni 2013

Augustinus bei echter

Den Tagungsband des 11. Augustinus-Studientages

Von Menschenwerk und Gottesmacht

Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte

widmet das

Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg

den lebenden und verstorbenen Mitgliedern der

Deutschen Ordensprovinz der Augustiner.

Sie haben auf vielfältige Weise dazu beigetragen,

die Gnadenlehre des Augustinus von Hippo

tiefer zu erfassen und breiter zu vermitteln.

Ihr Engagement lässt erkennen,

dass das Wesen der Gnade

sich nur von der Barmherzigkeit her erschließt,

unter deren Zeichen Papst Franziskus

das Jahr 2016 gestellt hat.

GRATIA ENIM ET PAX

SINE MISERICORDIA ET CARITATE

INTELLEGI NON POTEST

Augustinus

Epistulae ad Romanos inchoata expositio 12

Inhalt

CHRISTOF MÜLLER

Vorwort des Herausgebers

BARBARA SCHMITZ

Der Mensch als erkennendes Wesen
Anthropologische Aspekte nach Gn 2,4–3,24

JÖRN MÜLLER

Freiheit, Gnade und die Macht der schlechten Gewohnheit
Der schwache Wille bei Paulus, Origenes und Augustinus

VOLKER HENNING DRECOLL

Die Gnadenlehre Augustins und der Brief 194 an Sixtus

GUNTRAM FÖRSTER

Geschenkter Glaube – Augustins Anliegen im ‹semipelagianischen› Streit ….

HARM KLUETING

«… ut ecclesiam emendes …»: Was ist Katholische Reform?
Das 15. und das 16. Jahrhundert als Epoche der Kirchengeschichte

TANJA THANNER

Gnade und Werke im Umfeld der Jansenismus-Debatte

Abkürzungsverzeichnisse

Stellenregister

Namenregister

Autoren- und Herausgeberverzeichnis

Christof Müller

Vorwort

Nachdem das Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg im Jahr 2012 seinen 10. Augustinus-Studientag als Jubiläumsveranstaltung mit einem großen internationalen und interdisziplinären Symposion in Rom begehen konnte1, fiel der Studientag 2013 wieder etwas lokaler und bescheidener aus – keinesfalls zu verwechseln mit ‹provinzieller› und ‹weniger gehaltvoll›, lautete das gewichtige Thema doch: «Von Menschenwerk und Gottesmacht. Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte».

‹Nicht schon wieder Gnadenlehre›, werden vielleicht einige Hörer oder Leser dieses Studientagsmottos gestöhnt haben. Doch taucht die augustinische Gnadenthematik nicht ohne systematischen Grund immer wieder auf der Agenda der Geisteswissenschaften und auf den Titelseiten zahlreicher Publikationen auf, stoßen wir mit dieser Fragestellung doch zweifelsohne in das Zentrum dessen vor, was theologiegeschichtlich, aber auch philosophie- und politikgeschichtlich unter ‹Augustinismus› verstanden wurde und verstanden wird: Augustinus trägt nicht umsonst den Titel des ‹doctor gratiae›, des ‹Lehrers der Gnade›.

Das Spektrum der Vorträge des 11. Augustinus-Studientages bzw. der Aufsätze des vorliegenden Tagungsbandes macht zudem deutlich, dass das Gnadenthema mit seiner Dialektik von ‹Menschenwerk› und ‹Gottesmacht› nicht nur ein Herzstück des Denkens Augustins auf das Podest hebt, sondern eine Fragestellung aufgreift, die bereits vor und die noch nach diesem spätantiken Geist Geistesgeschichte geschrieben hat. Schon in den antiken Religionen und Philosophien und verstärkt mit und seit Paulus fragen Menschen danach, was sie selbst bewerkstelligen können, was das Numinose und Transzendente, was Gott, ausrichten und bewirken will oder kann und schließlich – am spannendsten und spannungsvollsten –, was Gott im Menschen zu wirken vermag. Theologisch äußern sich die Kontroversen um diese grundlegenden Fragen in den immer wieder aufflammenden Gnadenstreitigkeiten im Laufe der Jahrhunderte, doch auch philosophisch treiben diese Problemstellungen die Menschen verschiedenster Epochen – verschärft seit dem Fortschrittsversprechen von Neuzeit und Aufklärung – an und um, unter anderem als Frage nach Autonomie oder Heteronomie des Menschen und nach Freiheit oder Unfreiheit seines Willens, Strebens und Handelns.

Und heute? Gehen uns diese Fragen auch heute noch etwas an? Ich meine: ‹Ja›, vielleicht sogar mehr denn je – und das nicht nur in den elfenbeinernen Türmen akademischer Diskurse! Wenn Wissenschaftler sich dieser Tage anschicken, das menschliche Erbgut zu ‹optimieren›: sind sie dann von göttlicher Macht inspiriert oder sind sie menschlichem Machbarkeitswahn verfallen? Wenn Zeitgenossen dieser Tage danach streben, sich ihre Lebenserfüllung und ihr Selbstbild über ökonomische Hochleistung zu erarbeiten, über Konsum und Erlebnis zu erkaufen oder über mediale Aufmerksamkeit zu erkämpfen: sind sie dann schöpferische Gestalter ihrer selbst oder sind sie zutiefst von der Angst getrieben, ohne ihr ‹Menschenwerk› in ein Sinnvakuum und in ein kosmisches ‹Nichts› zu fallen?

Um den Übergang fort von der Einführung und hin zur ‹gratia›-Thematik zu markieren, möchte ich mit einem ‹gratias agamus›, einer Danksagung schließen: Dank vor allem an die Referierenden des Augustinus-Studientages bzw. an die Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Tagungsbandes! Für die Druckfassung wurden die Referate noch einmal zum Teil erheblich erweitert und überarbeitet sowie um zwei zusätzlich aufgenommene Aufsätze ergänzt: um den Beitrag von Frau Prof. Barbara Schmitz zum Alten Testament und denjenigen von Prof. Harm Klueting zur Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit. Die Chronologie der Gnadenthematik ‹im Laufe der Jahrhunderte› wurde auf diese Weise um einige wichtige Referenzsysteme und Epochen angereichert.

Dank gebührt selbstredend auch meinem Mitherausgeber, Herrn Kollegen Guntram Förster – er leistete zumal die Kärrnerarbeiten der Druckvorbereitung –, ebenso wie dem Verlag Echter für die verlegerische Betreuung. Einen besonderen Dank möchte ich schließlich der Deutschen Ordensprovinz der Augustiner aussprechen, und dies gleich in mehrerer Hinsicht. Um vom Konkret-Handfesten auszugehen und zum Ideellen fortzuschreiten: Provinzial Pater Alfons Tony und die Seinen haben zum einen einen beachtlichen Druckkostenzuschuss für die Publikation des Tagungsbandes gewährt, des weiteren die Aufnahme des Buches in die gut gedeihende Reihe ‹Cassiciacum. Res et Signa› befördert, zudem dem ZAF seit Jahr und Tag die hervorragende Infrastruktur für seine Augustinus-Forschungen und -veröffentlichungen bereitgestellt und schließlich durch ihre lebendige augustinische Spiritualität dafür gesorgt, dass die Gnadenlehre Augustins sich den Zeitgenossen von ihrer besten Seite her präsentiert: als Theorie und Praxis der zuvorkommenden Liebe Gottes.

1 Cf. den mittlerweile erschienenen Tagungsband: CHRISTOF MÜLLER (Hg.), Kampf oder Dialog? Conflict/ Dialogue? Begegnung von Kulturen im Horizont von Augustins ‹De ciuitate dei›. Augustine’s Engagement with Cultures in ‹De ciuitate dei›. Internationales Symposion / International Symposium. Institutum Patristicum Augustinianum, Roma 25.–29. September 2012 (= Cassiciacum 39,11. Res et Signa 11), Würzburg 2015.

Barbara Schmitz

Der Mensch als erkennendes Wesen

Anthropologische Aspekte nach Gn 2,4–3,24

«Der Sündenfall» ist bis heute die Überschrift1, unter der die Erzählung von Gn 3 in unseren Bibelausgaben präsentiert wird. Mit dieser Überschrift, die von den Herausgebern der modernen Bibelausgaben in den alten biblischen Text hineingesetzt wird, wird den Lesern die Perspektive auf die Erzählung vorgegeben: Das, was nun folgt, wird durch die Überschrift als Geschichte vom ‹Sündenfall› gelesen, obwohl – und das fällt den meisten Lesern gar nicht auf – in der Erzählung an keiner Stelle das Wort ‹Sündenfall›, ja noch mehr, an keiner Stelle das Wort ‹Sünde› oder ‹Schuld› vorkommt.

Die Deutung von Gn 3 als ‹Sündenfall› ist freilich keine moderne Erfindung, sondern geht auf eine alte Interpretation zurück (cf. Rm 5,12; 4 Esr 7,118 u.a.), die Augustinus mit seiner Lehre von der ‹Erbsünde› bzw. ‹Ursünde› noch weiter ausgebaut hat. So alt diese Sicht auf Gn 3 auch sein mag, sie bleibt eine Interpretation, die zudem weit reichende anthropologische Implikationen in sich birgt: Aus der Interpretation von Gn 3 als ‹Sündenfall› erscheint der Mensch von Anfang an als sündig, in sich schlecht und damit erlösungsbedürftig.

Ohne rezeptionsästhetische Ansätze bemühen zu müssen, ist theologisch wie hermeneutisch klar, dass eine Interpretation eines Textes nicht mit der einen Interpretation verwechselt werden darf. Texte, biblische Texte allzumal, eröffnen immer eine Pluralität von Deutungsmöglichkeiten. Daher wird im Folgenden eine Deutung von Gn 3 im Horizont von Gn 2 vorgelegt, die nicht der üblichen Interpretation der Erzählung als ‹Sündenfall› folgt, sondern die davon ausgeht, dass die Menschenschöpfung mit Gn 2 keineswegs abgeschlossen ist, sondern sich in Gn 3 fortsetzt, weil in Gn 3 narrativ entfaltet wird, wie sich der erschaffene Erdling nach und nach zum erkennenden Wesen und damit eigentlich zum Menschen entwickelt.

1. Der Mensch nach der zweiten Schöpfungserzählung

Im Vergleich zur ersten Schöpfungserzählung, in der die Menschen von vornherein als männliche und weibliche Wesen geschaffen werden (Gn 1,27), vollzieht sich die Menschenschöpfung in der zweiten Erzählung in einem längeren Prozess: Zuerst wird von Gott ein Mensch (ʾādām) geschaffen (Gn 2,7), den Gott aus der Erde (ʾdāmāh) formt. Diesem ‹Erdling› bläst Gott dann mit seiner Nase den Atem (nešāmāh) ein, der ihn zu einem lebendigen Wesen (nœphœš) macht. Dieses Mischwesen aus Erde und göttlichem Atem erhält einen von Gott gepflanzten Garten in Eden im Osten (Gn 2,8) als Lebensraum. In diesem befinden sich neben Bäumen, die gut zum Essen und schön anzusehen sind, zwei weitere Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis (Gn 2,9). Die Aufgabe des ersten Menschen ist es, diesen Garten zu bearbeiten und zu bewahren (Gn 2,15). Zugleich untersagt es Gott dem Menschen, vom Baum der Erkenntnis zu essen, da er sonst stürbe (Gn 2,16sq.). Weil dieser erste Mensch noch ganz allein im Garten ist, beschließt Gott, ihm einen Gefährten als sein Gegenüber zu schaffen (Gn 2,18). Zu diesem Zweck formt Gott, wie er es zuvor beim Menschen getan hat, nun die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels, führt diese dem Menschen zu und lässt ihn diese benennen, um zu sehen, ob der Mensch ein ihm adäquates Gegenüber unter ihnen findet (Gn 2,19sq.). Der Mensch jedoch findet kein Gegenüber, daher lässt Gott einen Tiefschlaf über den Menschen fallen, nimmt eine von seinen Rippen und baut daraus einen zweiten Menschen (Gn 2,21sq.). Erst in diesem sieht der erste Mensch ein Gegenüber – eine Frau (ʾiššāh). Beide, der erste Mensch wie auch die Frau, sind nackt (Gn 2,25). Mit der Schlange tritt eine neue Figur in der Erzählung auf, die als ‹klüger› als alle Tiere beschrieben wird (Gn 3,1). Im Gespräch mit der Frau stellt die Schlange das an den ersten Menschen gerichtete Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, in Frage und behauptet, dass die Menschen nicht sterben, sondern erkennen werden (Gn 3,1–5). Daraufhin nimmt die Frau und isst, gibt ihrem Mann, und auch er isst. Jetzt erst gehen beiden die Augen auf und nun erkennen sie erstmals, dass sie nackt sind (Gn 3,6sq.). Als sie die Stimme Gottes, mit dem sie zuvor ganz unbefangen umgegangen waren, im Garten hören, verstecken sie sich (Gn 3,8). Im folgenden Gespräch Gottes mit dem Mann, der Frau und der Schlange werden das Geschehene rekapituliert und die Folgen des Tuns benannt (Gn 3,10–20): Die Schlange muss nun auf dem Boden kriechen, Mühsal («saure Arbeit» ʿiābōn) wird das Leben von Mann und Frau prägen – bei der Schwangerschaft ebenso wie bei der Arbeit auf dem Erdboden. Dennoch stellt Gott für die Menschen Kleider her und bekleidet sie (Gn 3,21). Der bisher nur als ‹Frau› bezeichnete Mensch erhält nun einen bedeutungstragenden Eigennamen: «Eva – Mutter alles Lebendigen» (Gn 3,20)2. Unter den veränderten Bedingungen schickt Gott nun das erste Menschenpaar aus dem Garten fort und lässt den Weg zum Baum des Lebens besonders bewachen (Gn 3,22–24).

2. Der Zusammenhang von Gn 2 und Gn 3 als eine Erzählung

Üblicherweise werden Gn 2 und Gn 3 als zwei getrennte Erzählungen behandelt: Die erste erzähle, wie Gott die Menschen geschaffen habe, die zweite erzähle vom sogenannten ‹Sündenfall›. Gegen diese übliche Sicht auf den Erzählzusammenhang von Gn 2–3 sei betont, dass der Prozess der Menschenschöpfung weder mit dem Schaffen des (ersten) ‹Menschen› (hāʾādām) in Gn 2,7, über dessen Geschlechtlichkeit keine Aussage getroffen wird, noch mit der Schaffung des zweiten Menschen, der Frau (ʾiššāh) in Gn 2,22, die der erste Mensch als ein ihm adäquates ‹Gegenüber› anerkennt (Gn 2,23, cf. ib. 2,20), abgeschlossen ist. Vielmehr setzt sich die Entwicklung dieses ersten Menschenpaares in Gn 3 fort. Gn 3 gehört zur Erzählung über die Schaffung des Menschen von Gn 2 und sollte nicht als eine eigene Erzählung von dieser abgetrennt werden. Anders formuliert: In Gn 2,4 beginnt ein Erzählzusammenhang, der erst in Gn 3,24 an ein erstes Ende kommt und der erzählt, wie es zu dem Wesen ‹Mensch›, das sich einerseits von den Tieren, andererseits von Gott unterscheidet, gekommen ist. Die These einer Aufteilung in eine Erzählung von der Erschaffung des Menschen (Gn 2,4–25) und einer sogenannten ‹Sündenfallerzählung› (Gn 3,1–24) ist mithin nicht haltbar. Dies aber hat Auswirkungen auf die Interpretation und Funktion der sogenannten «Sündenfallerzählung» (Gn 3,1–24). Um dies zu erläutern, sei der Blick auf die Interaktion zwischen der Schlange und den Menschen gerichtet.

3. Die Schlange

In Gn 2,4–25 wird geschildert, wie der Garten Eden mit Pflanzen, Bäumen und Figuren ausgestattet ist. Bewegung kommt in die statisch anmutende Szenerie jedoch erst durch die Schlange, die in Gn 3,1 erstmals auftritt. ‹Die›3 Schlange gehört zu den Tieren, die Gott geschaffen hat. Dennoch aber wird dieses Tier als «klüger» (ʿārûm)4 gegenüber allen anderen Tieren bezeichnet (Gn 3,1). Damit unterscheidet sich die Schlange nicht nur von den anderen Tieren, sondern auch von den ersten Menschen. Wie die Schlange ‹klüger› (ʿārûm) als alle anderen wurde, wird in der Erzählung nicht explizit erläutert. Der Erzählduktus legt aber den Schluss nahe, dass die Schlange von Gott selbst mit ebendieser Qualität des ‹klüger als› geschaffen wurde.

Die Klugheit der Schlange zeigt sich darin, dass sie die Frau mit der Frage, ob Gott das Essen von allen Bäumen verboten habe, provoziert (Gn 3,2) und damit die Aufmerksamkeit auf die Frage nach ‹Gut› und ‹Böse› lenkt. Mit dieser Frage beginnt in der Erzählung erstmals eine eigenständige Handlungssequenz und Interaktion der Figuren innerhalb des Gartens Eden.

Die Frau weicht – intuitiv oder intendiert – der Provokation der Schlange aus, indem sie Gottes Worte in verschärfter oder missverstandener Form wiedergibt: Sie wiederholt die Worte Gottes, bezieht aber das Essverbot auf den Baum in der Mitte des Gartens (Gn 3,2sq.). Der Baum in der Mitte des Gartens (Gn 3,2) ist aber der Baum des Lebens (cf. Gn 2,9), während Gott bei dem Essverbot explizit vom Baum des Erkennens von Gut und Böse gesprochen hatte (cf. Gn 2,17). Dieser Wiedergabe der Gottesrede widerspricht ihrerseits die Schlange, indem sie die von Gott angekündigte Folge als leere Drohung entlarvt: Keineswegs würden die Menschen sterben, sondern Gott erkenne und wisse vielmehr, dass den Menschen die Augen geöffnet würden und sie dann wie Gott sein würden (Gn 3,4sq.). Die Schlange beschreibt, was «Sein wie Gott» bedeutet: «Sein wie Gott» – so die Schlange – hieße demnach, dass die Menschen ‹Gut› und ‹Böse› erkennen könnten (ib.). Entscheidend ist, dass dies kein Wunsch der Menschen ist, sondern eine Einschätzung der Schlange und daher das Wie-Gott-sein-Wollen in Gn 3 nicht als ‹Wurzelsünde des Menschen› zu verstehen ist.

Die Schlange entfaltet ein weisheitliches5 Gegenkonzept, indem sie den Menschen ankündigt, dass ihnen die Augen geöffnet würden und sie ‹wie› Gott Gutes und Böses erkennen könnten (Gn 3,5)6. Umgekehrt heißt dies, dass die Menschen bisher nicht selbständig aus eigenem Antrieb ‹erkennen›. Damit fehlt diesen von Gott geschaffenen Wesen noch das, was den Menschen zutiefst auszeichnet: erkennen zu können. Deswegen ist die Menschenschöpfung noch nicht abgeschlossen, sondern vielmehr vollzieht sich in Gn 3 ein Prozess, in dem und durch den der Mensch erst zum Menschen wird. Dieses Wie-Gott-Werden hat nichts Überhebliches, vielmehr werden die von Gott geschaffenen Menschen erst durch dieses Erkennen zu ‹echten› Menschen, die selbständig denken und unterscheiden und vor allem Gott erkennen können. Mit Erkenntnis partizipieren die Menschen dann an etwas, was in der Welt des Gartens Eden bisher allein Gott vorbehalten zu sein scheint.

Tatsächlich ‹sieht› die Frau (Gn 3,5) – mit noch ‹ungeöffneten› Augen (cf. Gn 3,5.7) – einen ‹gut› schmeckenden Baum, der eine ‹Lust für die Augen› ist und der ‹Einsicht› verspricht (Gn 3,6, cf. ib. 2,9). Mit ‹ungeöffneten› Augen und noch ohne Erkenntnis ist aber offenbar in der Frau durch die Schlange, die klüger als alle anderen Tiere ist, etwas angestoßen worden: «Die Frau will klug werden, sonst nichts!»7.

Folgerichtig wird die Frau zum ersten Mal aktiv und ‹nimmt› von den Früchten, isst und gibt diese an ihren Mann weiter (Gn 3,6). Interessant daran ist, dass dieser ‹neben ihr› steht (ib.). Der Mann hat somit nicht nur die ganze Szene mit der Schlange mitverfolgt; er hat das Gespräch mit der Schlange mitbekommen, hätte eingreifen, hätte das Essen verhindern können und hätte an die ursprüngliche Weisung, die ja nur er erhalten hat – die Frau war ja noch gar nicht geschaffen (cf. Gn 2,16sq.) –, erinnern und sie richtigstellen können. An Stelle dessen versucht er später, sich herauszureden und sich seiner (Mit-)Verantwortung zu entziehen (Gn 3,17–19).

Mit dem Nehmen vom Baum überschreitet die Frau die göttliche Weisung und mit ihr die bisherigen Grenzen zwischen Gott auf der einen und Mensch und Tier im Garten Eden auf der anderen Seite: Das Verb ‹nehmen› bezeichnet bisher das Schöpfungshandeln Gottes (Gn 2,15.21.22, cf. ib. 2,23). Wenn die Frau nimmt, handelt sie tatsächlich ‹wie Gott› (cf. Gn 3,5). Damit partizipiert sie an Gottes Weltgestaltung und handelt – nach der Schlange – als erstes Wesen im Garten selbständig.

Dies hat zur Folge, dass den beiden Menschen ‹die Augen geöffnet werden› (passiv) und sie ‹erkennen› (aktiv; Gn 3,7). Dieser entscheidende Moment wird als ein reziproker Vorgang von aktivem Handeln und passivem Erleben geschildert. Offen bleibt, ob das Öffnen der Augen automatisch durch das Essen erfolgt oder ob Gott als Passivum divinum Subjekt ist und damit die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis aktiv ermöglicht hat.

Mit geöffneten Augen können die Menschen erst jetzt ‹Gut› und ‹Böse› erkennen8. Die Überschreitung des Verbots ist nicht eine Entscheidung zwischen ‹Gut› und ‹Böse›, sondern vielmehr eine Entscheidung für das Erkennen. Durch das Essen vom Baum der Erkenntnis wird Erkenntnis überhaupt erst ermöglicht. Dieses Erkennen wird durch die Alternative ‹Gut› und ‹Böse› als ein Wahrnehmen von Differenzen charakterisiert; ‹Gut› und ‹Böse› haben die Funktion, Differenzen wahrzunehmen, Grenzen zu ziehen und damit unterscheidendes Erkennen zu ermöglichen.

4. Folgen des Essens vom Baum der Erkenntnis

Dass das erste Menschenpaar nun über die Möglichkeit der Erkenntnis von ‹Gut› und ‹Böse› verfügt, hat eine Reihe von Konsequenzen:

Erstens nehmen die Menschen jetzt erst wahr, was sie schon lange sind und was sie schon längst hätten sehen können, wenn sie wirklich sehen gekonnt hätten: sie sind nackt9 (Gn 3,7, cf. ib. 2,25). Was die Lesenden durch den Erzähler schon längst wissen, lernen die ersten Menschen erst durch den Baum der Erkenntnis. Diese Selbst-Erkenntnis macht sie ‹wie Gott› (Gn 3,5.22) und ‹klug› wie die Schlange10. Durch die Erkenntnis von Gegensätzen entsteht erst ein Bewusstsein für sich selbst und für den Anderen, so dass sie ihre Unterschiedlichkeit erkennen und diese sofort durch erste pflanzliche Kleidung zu bedecken suchen (Gn 3,7). Mit dem neuen Selbst-Bewusstsein entwickeln sie zugleich ein Gespür für ihre eigene Ohnmacht und Schutzbedürftigkeit11.

Eine zweite Konsequenz des neuen Erkennens ist, dass sich die Gottesbeziehung grundlegend verändert: Während die ersten Menschen zuvor in naiver Vertrautheit mit Gott im Garten Eden umgegangen sind (Gn 2), die darauf schließen lässt, dass sie ihn nicht als den ganz Anderen erkannt haben, verstecken sie sich jetzt vor Gott (Gn 3,8). Offenbar hat das Gespür für ‹Gut› und ‹Böse› die Menschen so verändert, dass sie Gott nun als fremdes Gegenüber erfahren, vor dem sie sich verstecken. Das bedeutet, dass die Menschen erst nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis Gott als Gott kennenlernen, vorher aber aufgrund ihrer Unfähigkeit, Differenzen wahrzunehmen, Gott als den ganz Anderen und als den von ihnen Unterschiedenen gar nicht wahrnehmen konnten. Es geht also beim Verstecken nicht in erster Linie um den Versuch, das Übertreten des Verbots und den eigenen Ungehorsam zu kaschieren, sondern vielmehr um die aus der Erkenntnis resultierende Wahrnehmung des eigenen Selbst, des Anderen und Gottes als des ganz Anderen. Zugleich wird daraus rückblickend deutlich, dass die Menschen das Verbot Gottes, vom Baum zu essen, auch nicht recht einschätzen konnten. Daher ist es konsequent, dass nicht die Menschen auf Gott zugehen, sondern es Gott selbst ist, der die sich vor ihm versteckenden Menschen sucht und mit ihnen in Kommunikation tritt (Gn 3,8sq.).

Beide Aspekte, die Selbsterkenntnis und die Gotteserkenntnis, gehören insofern zusammen, als sie beide eine grundlegende Fähigkeit beschreiben: das Erkennen grundlegender Unterscheidungen. Genau dies ist es, was Menschsein nach Gn 2–3 auszeichnet: Differenzen wahrnehmen und beurteilen können.

Neben der Selbsterkenntnis und der veränderten Gotteserkenntnis entwickeln die Menschen als dritte Auswirkung ein Bewusstsein für ihre Sterblichkeit. Auch wenn sie vermutlich schon vorher sterblich waren, so hat sich verändert, dass sie nun wissen, dass sie sterben müssen. Wie bei der Nacktheit ist es ihr Bewusstsein, das sich verändert hat. Offensichtlich haben sie zuvor kein (Selbst-)Bewusstsein für die Grenze und Differenz von Leben und Tod besessen; dies wird den Menschen erst durch ihre neu erworbene Fähigkeit der Erkenntnis bewusst.

Das lässt die Frage stellen, ob die Androhung des Todes, mit der Gott die Übertretung des Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, belegt hat (Gn 2,16sq.), eine leere Drohung gewesen sein könnte12. Wenn dem so wäre, erwiese sich das ursprüngliche göttliche Verbot als durch und durch paradox: «Es tabuisiert die Erkenntnis, die es voraussetzt. Kann der Mensch das Böse tun, wo er doch offensichtlich noch gar nicht über ein Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse verfügt?»13. Insofern kann das Übertreten des göttlichen Verbots kein schuld- oder sündhafter Akt sein, sondern ist vielmehr der entscheidende Schritt überhaupt zur Erkenntnis, der seinen Ausgang von der von Gott als ‹klüger› geschaffenen Schlange genommen hat. Martin Buber formuliert es so: «Es ist offensichtlich: die zwei Täter wissen nicht, was sie tun, mehr noch: sie können nur tun, nicht wissen»14.

Aber die Folgen dieser Erkenntnis muss der Mensch tragen. Entscheidend dabei ist, dass es sich um Folgen, nicht um Strafen Gottes handelt. Im Gegenteil: Diese Folgen sind eher eine Kette von Ereignissen, die notwendig mit der Möglichkeit der Erkenntnis verbunden sind (Gn 3,16–19). In der traditionellen Auslegung wird das Leben außerhalb des Gartens Eden als ‹Strafe› Gottes verstanden. Zu beachten ist allerdings, dass die Menschen vor dem Essen vom Baum der Erkenntnis noch über keine Erkenntnis verfügen. Sie können noch nicht differenzieren und sind somit auch noch nicht schuldfähig. Erst mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis erlangen sie die Fähigkeit der Erkenntnis. Als sowohl schuldfähige als auch straffähige Menschen nach dem Essen können sie nicht nur, nun müssen sie für ihr Handeln Verantwortung übernehmen. Daher geht es bei der Reaktion Gottes um die Konsequenzen aus der Handlung der Menschen. Damit wird deutlich, dass es sich hier nicht um einen willkürlich agierenden Gott gegenüber schuldunfähigen Menschen handelt, sondern vielmehr Gott die Menschen, die nun im Stand der Erkenntnis sind, ernst nimmt. Unterscheiden zu können, bedeutet verantwortlich für die eigene Handlung zu sein. Deswegen ist es keine Strafe, die Gott den Menschen auferlegt, sondern er benennt die Folgen, die ihr Handeln hat.

Erst mit den von Gott genannten Konsequenzen beendet und vollendet sich der Prozess der Menschwerdung: Deswegen ist mit der Erkenntnis ein Leben in Eden aber nicht mehr möglich. Jenseits von Eden lernen die Menschen aber eigentlich keine völlig neue Lebenswelt kennen, weil ihre Aufgabe in Eden auch schon war, zu arbeiten und das Land zu bebauen (Gn 2,15). Offenbar aber erleben die Menschen diese Aufgabe ganz anders: ‹Jenseits von Eden› müssen sie das Gleiche tun: sie arbeiten, aber offenbar empfinden sie die gleiche Arbeit nun als ‹Mühe› und ‹saure Arbeit› (ʿiābōn, Gn 3,17–19).

Weil der Mensch nun erkennt, muss Gott neue Grenzen setzen: Er lässt den Unsterblichkeit verheißenden Baum des Lebens besonders bewachen und schickt die Menschen aus dem Garten Eden fort (Gn 3,22–24). Dies veranlasst Gott, weil er Sorge hat, der Mensch könne «wie einer von uns» werden (Gn 3,22). Damit zementiert Gott die Grenze zwischen ihm und den Menschen als Grenze zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit.

5. Anthropologie nach Gn 2,4–3,24

Die zweite Schöpfungserzählung erzählt Welt- und Menschenschöpfung als einen Prozess, in dem die Erkenntnis von ‹Gut› und ‹Böse› erfolgt. Diese wird als ein ineinander verzahnter Vorgang in der Reihenfolge der erzählten Ereignisse beschrieben: Zuerst wird ʾādām geschaffen (Gn 2,7), dann werden die Bäume geschaffen, sodann wird der ʾādām in ein zweigeschlechtliches Wesen ausdifferenziert (Gn 2,18–25). Das erste Menschenpaar verfügt nicht über Erkenntnis und ‹Einsicht›15, sondern erwirbt diese erst (Gn 3,6) durch das Essen vom ‹Baum der Erkenntnis von Gut und Böse›. Der Blick auf Gn 2,4–3,24 versteht das Essen vom Baum der Erkenntnis als einen notwendigen und von Gott selbst durch das Erschaffen der klügeren Schlange letztlich ermöglichten Prozess. Diese Perspektive auf die Erzählung macht deutlich, dass der Mensch auch nach Gn 2,4–3,24 «weder böse (ist), noch böse geschaffen (wurde). Der Mensch aktiviert lediglich das Böse, verhilft ihm von einer Potentialität zur Aktualität. Aber auch das nur auf Initiative einer erzähltechnischen Zwischengröße in Form der Schlange – diese explizit ein Geschöpf, das Gott gemacht hatte – und die … im Arrangement des Textes jedoch viel eher eine Entlastungsfunktion erfüllt, insofern als der Ursprung des Bösen weder direkt auf Gott selbst noch auf den Menschen zurückgeführt wird»16.

Für die Menschen bedeutet das Erlangen von Erkenntnis, eine Grenze zu übertreten, die ihren erzählerischen Ausdruck im Verbot des Essens vom Baum der Erkenntnis gefunden hat. Mit der Übertretung des Verbots erlangen die Menschen eine Mittelstellung: Sie bleiben, wie die Tiere, sterblich, wie Gott aber verfügen sie über die Fähigkeit der Erkenntnis und der Unterscheidung von Gut und Böse. Diese Stellung aber erlangen die Menschen in dem von Gott geschaffenen Garten, in den Gott den Baum der Erkenntnis hineingepflanzt und in dem er erst durch sein Verbot die Aufmerksamkeit auf die beiden Bäume gelenkt hatte (Gn 2,16sq.): «Das Verbot schafft die Erkenntnis, die es verbietet. … Noch ehe er (sc. der Mensch) also vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, ist er durch das Verbot bereits in die Unterscheidung von Gut und Böse eingewiesen worden. … Wenn ein Leben jenseits von Gut und Böse – in einer Unschuld also, die von dieser Unterscheidung noch nichts weiß –, wenn ein solches Leben paradiesisch gewesen sein sollte, dann hat der Mensch seine paradiesische Unschuld nicht erst verloren, als er vom Baum der Erkenntnis aß, sondern seit es ihm verboten wurde. Indem Gott dem Menschen freistellte, das Verbot zu akzeptieren oder zu übertreten, hat er ihm das Geschenk der Freiheit gemacht»17. Insofern hat Gott durch den von ihm in den Garten gesetzten Baum der Erkenntnis die Möglichkeit zur Erkenntnis selbst geboren, um den Menschen den Weg aus dem von G.W.F. Hegel abschätzig als «Garten für Tiere»18 bezeichneten ‹Wonne›-Garten Eden in die Freiheit zu ermöglichen. Dazu hat Gott in seiner Schöpfung Grenzen gezogen, um mit diesen eine Grenzüberschreitung des Menschen zu provozieren. Damit wird in Gn 2–3 eine paradoxe Situation geschildert: Gott verbietet den Menschen einerseits den Baum der Erkenntnis, zugleich jedoch müssen sie von diesem Baum essen, damit ihnen die Augen geöffnet werden, damit sie erkennen können (Gn 3,5.22). Das legt aber die Vermutung nahe, dass das göttliche Verbot nicht zum Halten, sondern zum Übertreten gedacht ist: Dass die Erzählung das Erlangen der eigentlich von Gott verbotenen Erkenntnis als Übertretung seines Verbots inszeniert, veranschaulicht, dass Freiheit nicht umsonst ist, sondern ihren Preis hat, der in der Erzählung in der Form von Mühe, Arbeit und Schmerzen in der Schwangerschaft als Folge beziffert wird.

Trotz dieser Folgen ist Gn 3 keineswegs eine Erzählung eines ‹Sündenfalls›, sondern eine Erzählung darüber, wie der Mensch zum Menschen, d.h. zu einem erkennenden Wesen, geworden ist. Dass es sich hier nicht um einen ‹Sündenfall› handelt19, lässt sich schon aufgrund des sprachlichen Befundes zeigen: In dieser Erzählung fallen weder lexematisch noch inhaltlich Begriffe wie ‹Sünde›, ‹Schuld› oder Ähnliches. Sünden- und Schuldterminologie findet sich erst in der darauf folgenden Erzählung mit Blick auf Kains Tat (cf. Gn 4,7.13). Nicht das Essen vom Baum der Erkenntnis wird als ‹Sündenfall› verstanden, vielmehr ist nach der biblischen Vorgabe die erste Tötung eines Menschen mit den Kategorien ‹Sünde› und ‹Schuld› verbunden. Die zweite Schöpfungserzählung hingegen erzählt vielmehr eine Grenzüberschreitung, die in sich keineswegs als ‹sündig› qualifiziert wird. Vielmehr ermöglicht diese Grenzüberschreitung den ersten Menschen die Unterscheidung von ‹Gut› und ‹Böse› und macht sie damit zu erkennenden Wesen.

Mit der Erzählung von Gn 2,4–3,24 kommt nicht die Sünde, sondern vielmehr die Erkenntnis in die Welt: Gn 2–3 erzählt somit von dem Weg der ersten Menschen zu einer durch Erkenntnis ermöglichten Freiheit. «Freiheit aber ist nur dort gegeben, wo der Mensch an der Freiheit scheitern kann»20. Diese Freiheit bedeutet, dass die Menschen von nun an erkennen und zwischen ‹Gut› oder ‹Böse› wählen können (cf. Gn 4,7; 6,5). Daher schließt sich an Gn 2,4–3,24 die Geschichte über Kain und Abel an (Gn 4), die von der Abgründigkeit der neuen Wahlfreiheit erzählt: Menschen können nun zu Tätern werden und müssen für die Folgen ihres eigenen Tuns einstehen21. So ist es konsequent, dass erst hier ‹Schuld› und ‹Sünde› als neue Kategorien eingeführt werden (Gn 4,7, cf. ib. 4,13).

Literatur

R. ALBERTZ, «Ihr werdet sein wie Gott» (Gen 3,5): Was ist der Mensch…? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments. H.W. Wolff zum 80. Geburtstag (hrsg. von F. CRÜSEMANN/C. HARDMEIER/R. KESSLER), München 1992, 11–27.

M. BUBER, Bilder von Gut und Böse, Köln/Olten 1952.

F. HARTENSTEIN, «Und sie erkannten, dass sie nackt waren…» (Gen 3,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählung: Evangelische Theologie 65 (2005) 277–293.

T. KRÜGER, Sündenfall? Überlegungen zur theologischen Bedeutung der Paradiesgeschichte: Das menschliche Herz und die Weisung Gottes. Studien zur alttestamentlichen Anthropologie und Ethik, Zürich 2009, 33–46.

P. KÜBEL, Ein Wortspiel in Genesis 3 und sein Hintergrund. Die «kluge» Schlange und die «nackten» Menschen: Biblische Notizen 93 (1998) 11–22.

F. MATHEUS, Pons Kompaktwörterbuch Althebräisch, Stuttgart 2006.

U. NEUMANN-GORSOLKE, Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 101), Neukirchen-Vluyn 2004.

S.A. NITSCHE, Grenzüberschreitungen. Prometheusaussage und biblische Urgeschichte als Ursprungserzählung der westlichen Kultur: Evangelische Theologie 65 (2005) 444–458.

G. OBERHÄNSLI-WIDMER, Bilder vom Bösen im Judentum. Von der Hebräischen Bibel inspiriert, in jüdischer Literatur weitergedacht, Neukirchen-Vluyn 2013.

E. OTTO, Woher weiß der Mensch um Gut und Böse? Philosophische Annäherung der ägyptischen und biblischen Weisheit an ein Grundproblem der Ethik: Recht und Ethos im Alten Testament – Gestalt und Wirkung. Festschrift für H. Seebass zum 65. Geburtstag (hrsg. von S. BEYERLE/G. MAYER/H. STRAUß), Neukirchen-Vluyn 1999, 207–231.

M. SÆBØ, כל śkl hi. einsichtig sein: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament (hrsg. von E. JENNI/C. WESTERMANN), Bd. 2, München/Zürich 62004, 824–828.

R. SAFRANSKI, Das Böse oder Das Drama der Freiheit, München 1997.

K. SCHMID, Die Unteilbarkeit der Weisheit. Überlegungen zur sogenannten Paradieserzählung Gen 2f. und ihrer theologischen Tendenz: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 114 (2002) 21–39.

Id., Genealogien der Moral. Prozesse fortschreitender ethischer Qualifizierung von Mensch und Welt im Alten Testament: Gut und Böse in Mensch und Welt. Philosophische und religiöse Konzeptionen vom Alten Orient bis zum frühen Islam (hrsg. von H.-G. NESSELRATH /F. WILK = Orientalische Religionen in der Antike 10), Tübingen 2013, 83–102.

U. SCHMIDT, Als das Leben anfing… Körperkonzepte in Gen 3: Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte einer Feministischen Anthropologie (hrsg. vom HEDWIG-JAHNOW-FORSCHUNGSPROJEKT), Stuttgart 2003, 44–63.

J. SULOWSKI, Zweierlei Weisheit – mit oder ohne Gott: Studies on the Bible (ed. by F. SIEG), Warszawa 2000, 189–294.

1 So zu finden in der Einheitsübersetzung, der Herder-Übersetzung, der Luther-Bibel und der Zürcher-Bibel; lediglich die Elberfelder-Bibel verzichtet auf Überschriften.

2 Der erste Mensch erhält seinen Eigennamen ‹Adam› erst in Gn 4,25.

3 Anders als es heutigen Lesern aus der abendländischen Rezeptionsgeschichte vertraut ist, die ‹die› Schlange als ein weibliches Wesen verstehen, ist ‹die› Schlange im Hebräischen maskulin.

4 Cf. das Wortspiel mit ‹nackt› (ʿārûmmîm) in Gn 2,25, cf. auch P. KÜBEL, Ein Wortspiel in Genesis 3 und sein Hintergrund. Die «kluge» Schlange und die «nackten» Menschen: BN 93 (1998) 11–22.

5 Cf. K. SCHMID, Die Unteilbarkeit der Weisheit. Überlegungen zur sogenannten Paradieserzählung Gen 2f. und ihrer theologischen Tendenz: ZAW 114 (2002) 21–39; cf. auch id., Genealogien der Moral. Prozesse fortschreitender ethischer Qualifizierung von Mensch und Welt im Alten Testament: Gut und Böse in Mensch und Welt. Philosophische und religiöse Konzeptionen vom Alten Orient bis zum frühen Islam (hrsg. von H.-G. NESSELRATH/F. WILK), Tübingen 2013, 83–102.

6 So R. ALBERTZ, «Ihr werdet sein wie Gott» (Gen 3,5): Was ist der Mensch…? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments. H.W. Wolff zum 80. Geburtstag (hrsg. von F. CRÜSEMANN/C. HARDMEIER/R. KESSLER), München 1992, 11–27.

7 ALBERTZ (cf. n. 6) 20.

8 Das Verb ‹erkennen› ist polyvalent und «bezeichnet das dem Gegenstand der Betrachtung entgegengebrachte adäquate Erkennen, das vollständige und angemessene Erfassen seiner Beschaffenheit. Das wirkliche Erfassen eines Gegenübers kann auch sexuelle Erfahrungen einschließen» (F. MATHEUS, Pons Kompaktwörterbuch Althebräisch, Stuttgart 2006, 120). Martin Buber nimmt als ursprüngliche Bedeutung des Verbs «in unmittelbarem Kontakt stehen» an (M. BUBER, Bilder von Gut und Böse, Köln/Olten 1952, 24).

9 Julian Sulowski plädiert dafür, dass ʿārûmmîm in Gn 2,25 wie in Gn 3,1 ‹weise› heiße (J. SULOWSKI, Zweierlei Weisheit – mit oder ohne Gott: Studies on the Bible [ed. by F. SIEG], Warszawa 2000, 189–294, hier 190).

10 Die Klugheit macht die Schlange neben dem Erdboden, nicht aber die Menschen in den Augen Gottes zu ‹Verfluchten› (ʿārûr, Gn 3,14.17); erst in der zweiten Generation erreicht die Verfluchung die Menschen über das Verhalten des den Erdboden bearbeitenden Kain (Gn 4,11).

11 Nacktheit steht in der Hebräischen Bibel häufig für Schutzlosigkeit und Ohmacht (cf. Is 20,2–4; Os 2,5; Am 2,16; Iob 22,6; 24,7), cf. zum Motiv der Nacktheit und der Zeichensprache der Kleidung F. HARTENSTEIN, «Und sie erkannten, dass sie nackt waren…» (Gen 3,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählung: EvTh 65 (2005) 277–293 sowie zum Körperkonzept in Gn 3 U. SCHMIDT, Als das Leben anfing… Körperkonzepte in Gen 3: Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte einer Feministischen Anthropologie (hrsg. vom HEDWIG-JAHNOW-FORSCHUNGSPROJEKT), Stuttgart 2003, 44–63.

12 So auch S.A. NITSCHE, Grenzüberschreitungen. Prometheusaussage und biblische Urgeschichte als Ursprungserzählung der westlichen Kultur: EvTh 65 (2005) 444–458, hier 454.

13 G. OBERHÄNSLI-WIDMER, Bilder vom Bösen im Judentum. Von der Hebräischen Bibel inspiriert, in jüdischer Literatur weitergedacht, Neukirchen-Vluyn 2013, 22.

14 BUBER (cf. n. 8) 18.

15 So M. SÆBØ, כל śkl hi. einsichtig sein: THAT 2,824–828, hier 825; zum Motiv des Herrschens cf. U. NEUMANN-GORSOLKE, Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten (WMANT 101), Neukirchen-Vluyn 2004, 300–315.

16 OBERHÄNSLI-WIDMER (cf. n. 13) 23.

17 R. SAFRANSKI, Das Böse oder Das Drama der Freiheit, München 1997, 23.

18 Cf. SAFRANSKI (cf. n. 17) 24.

19 So auch T. KRÜGER, Sündenfall? Überlegungen zur theologischen Bedeutung der Paradiesgeschichte: Das menschliche Herz und die Weisung Gottes. Studien zur alttestamentlichen Anthropologie und Ethik, Zürich 2009, 33–46.

20 E. OTTO, Woher weiß der Mensch um Gut und Böse? Philosophische Annäherung der ägyptischen und biblischen Weisheit an ein Grundproblem der Ethik: Recht und Ethos im Alten Testament. Gestalt und Wirkung. FS für H. Seebass zum 65. Geburtstag (hrsg. von S. BEYERLE/G. MAYER/H. STRAUß), Neukirchen-Vluyn 1999, 207–231, hier 229.

21 So wird in Gn 4 darüber reflektiert, was ‹gut handeln› bzw. ‹nicht gut handeln› bedeutet (Gn 4,7).