Jörg Alt

Wir verschenken Milliarden

Ergebnisse des Forschungsprojekts

„Steuergerechtigkeit und Armut"

Jörg Alt

Wir verschenken Milliarden

Ergebnisse des Forschungsprojekts „Steuergerechtigkeit und Armut“

Band 14 der Reihe

Veröffentlichungen der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus

www.cph-nuernberg.de

echter

Inhalt

1 Vorwort und Dank

2 Einführung zum Projekt

3 Forschungsdaten, -methoden, -schwerpunkte

SEHEN

4 Einkommens- und Vermögensungleichheit, Armut, öffentliche Schulden

4.1 Wohlstandsgefälle und Armut

4.2 Staatsverschuldung

4.3 Ein Blick auf Bayern

5 Grundlagen der Steuergerechtigkeit

6 Entwicklungen bei Steuern und Sozialabgaben

6.1 Einkommensteuer

6.2 Vermögensteuern

6.3 Ungerechtigkeiten bzw. Krise der Sozialversicherung

6.4 Belastung durch direkte und indirekte Steuern

6.5 Steuerwettbewerb

6.6 Sicht von Ministerien und Parteien

6.7 Schlussfolgerungen

7 Schnittmengen zwischen Steuerrecht und -verwaltung

7.1 Einfachheit und Komplexität

7.2 Politische Lenkungsziele

7.3 Transparenz und Kontrollen

7.4 Sicht von Ministerien und Parteien

7.5 Schlussfolgerungen

8 Steuerverwaltung, Schwerpunkt Bayern

8.1 Personalausstattung

8.1.1 Die Situation

8.1.2 Reaktionen

8.1.3 Bewertung

8.2 Kollege Computer

8.2.1 Die Situation

8.2.2 Reaktionen

8.2.3 Bewertung

8.3 Kontrolle von Betrieben

8.4 Kontrolle von „Personen mit besonderen Einkünften“

8.5 Kontrolle von Umsatzsteuerbetrug

8.6 Steuerfahndung

8.7 Eliten, Verfahren, Politik

8.8 … und was ist mit Deutschland insgesamt?

8.8.1 Personalausstattung

8.8.2 Kollege Computer

8.8.3 Kontrollen

8.8.4 Länderfinanzausgleich und -wettbewerb

8.9 Zentralisierung oder Dezentralisierung?

8.10 Fahndungsdruck, Datenlecks, ‚Wertewandel‘

8.11 Sicht von Ministerien und Parteien

8.12 Schlussfolgerungen

9 Fokus: Illicit Financial Flows (IFFs)

9.1 Worum geht es?

9.2 Das Offshore-System und die Steueroase Deutschland

9.3 Geldwäsche

9.4 Meldepflichten und Zuständigkeiten

9.5 Personelle Ressourcen

9.6 Datenschutz und Transparenz

9.7 … und wieder: Wettbewerb

9.8 Whistleblower und ‚systemische Korruption‘

9.9 Sicht von Ministerien und Parteien

9.10 Schlussfolgerungen

10 Fokus: Besteuerung von privatem Reichtum

10.1 Worum geht es?

10.2 Einordnungen

10.3 Kategorien von Einkommen und Vermögen

10.4 Familienunternehmen und Unternehmerfamilien

10.5 Reiche und ihre Werte

10.6 Vermögen und Steuern

10.7 Privatvermögen und die Steuerverwaltung

10.8 Sicht von Ministerien und Parteien

10.9 Schlussfolgerungen

11 Fokus: Schattenwirtschaft/Schwarzarbeit

11.1 Worum geht es?

11.2 Übergang zwischen Niedriglohnsektor und Schwarzarbeit

11.3 Netzwerkgeschehen oder Organisierte Kriminalität?

11.4 Ressourcen der Bekämpfungsbehörden

11.5 Sicht von Ministerien und Parteien

11.6 Schlussfolgerungen

12 Relevantes aus den Partnerprojekten

12.1 Sehr unterschiedliche Länder

12.2 Rechtliches

12.3 Institutionelles

12.4 Faktisches

12.5 „The West and the Rest“?

12.6 Schlussfolgerungen

URTEILEN

13 Ethische Diskussion

13.1 Grundlegendes

13.1.1 Pluralität der Weltbilder

13.1.2 Soll Markt, Staat oder Demokratie dominieren?

13.1.3 Sind Menschen primär gleich oder unterschiedlich?

13.1.4 Soziale Gerechtigkeit, Verteilungsund Generationengerechtigkeit

13.1.5 Steuergerechtigkeit

13.2 Katholische Soziallehre

13.2.1 Prinzipien

13.2.2 Privateigentum und Gemeinwohl

13.2.3 Kapital und Arbeit

13.2.4 Steuergerechtigkeit

13.2.5 Internationale Aspekte

13.3 Besteuerung großer Privatvermögen

13.4 Schlussfolgerungen

HANDELN

14 Das Angemessene und das Mögliche

14.1 Drei Verteilungsebenen?

14.2 Reform des Finanzsektors

14.3 Umbau der Realwirtschaft

14.4 Schlussfolgerungen

15 Alternativen zur Besteuerung?

15.1 SRI, CSR

15.2 Spenden und Stiftungen

15.3 Kombinationsmodell „steuerliche Subsidiarität“

15.4 Schlussfolgerungen

16 Reformen im Steuer- und Abgabensystem

16.1 Einleitung und Eingrenzung

16.2 Mehr Forschung erforderlich

16.3 Grundsätzliches und Prioritäres

16.3.1 Bekämpfen von Steuerhinterziehung und -betrug

16.3.2 Steuerwettbewerb

16.3.3 Rechtsreformen und -harmonisierungen

16.3.4 Institutionelles

16.3.5 Geheimnisse und Transparenz

16.3.6 ‚Ökosteuern‘

16.3.7 Unterstützung armer Länder

16.3.8 Nationale Alleingänge?

16.3.9 Schlussfolgerungen

16.4 Einzelempfehlungen

16.4.1 Einkommen von Kapital und Arbeit

16.4.2 Progressive Einkommensteuer

16.4.3 Gemeinschaftsteuer auf Vermögen

16.4.4 Fairnesssteuer auf Erbschaften und Schenkungen

16.4.5 Grund- und Grunderwerbsteuer

16.4.6 Kombinationen

16.4.7 Schlussfolgerungen

16.5 Umsatzsteuern

16.5.1 Der Zustand

16.5.2 Lösungsperspektiven

16.6 Sozialsysteme

16.6.1 Der Zustand

16.6.2 Lösungsperspektiven

17 Schluss

17.1 Status quo

17.2 Pyramide vs. Champagnerkelch, Zwiebel vs. Ei

17.3 Cui bono?

17.4 Mehr Geld - für was?

17.5 Chancen von Verbesserung?

18 Ausblick

19 Nachwort des Herausgebers der Reihe

20 Literaturverzeichnis

1 Vorwort und Dank

Liebe Leserinnen und Leser,1 das Zitat, das diesem Buch den Titel gibt, stammt von einem bayerischen Finanzbeamten, der einer Umsatzsteuertrickserei in Höhe von etwa 1 Million Euro auf die Spur kam und die Abteilungsleitung bat, dies verfolgen und ahnden zu dürfen. Dies wurde abgelehnt mit dem Hinweis auf die knappen Ressourcen der Abteilung: Eine Prüfung hätte zur Folge, dass man mit der regulären Bearbeitung von Steuerfällen in Verzug käme, was angesichts von Arbeitsanfall und Erledigungsquoten-Erwartung nicht hinnehmbar sei. Diesen Vorfall kommentierte der Beamte mit dem Ausruf: „Das Geld liegt auf der Straße und wir dürfen es nicht aufheben. Wir verschenken Milliarden!“

Dies ist kein Einzelfall. Laut dem Bayerischen Obersten Rechnungshof entgehen allein Bayern pro Jahr „mindestens eine Milliarde Euro“ durch Umsatzsteuerbetrug (2011, S. 87). Aber natürlich liegt das Problem nicht nur bei unterbesetzten Finanzbehörden. Es liegt auch am Steuerwettbewerb, an rechtlichen ‚Gestaltungsoptionen‘ und den Möglichkeiten, die die finanzielle Globalisierung politisch gewollt für Illicit Financial Flows geschaffen hat, wie Ökonomen die illegalen oder in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität angesiedelten Geldflüsse bezeichnen.

Die Jesuitenmission Nürnberg finanzierte das Dreiländer-Projekt zu Steuergerechtigkeit und Armut zunächst aus einem Bauchgefühl heraus. Wir waren der Ansicht, dass sowohl das Wohlstandsgefälle als auch das Staatsdefizit in Deutschland, Kenia und Sambia keine Naturgewalten sind, sondern von Menschen ermöglicht wurden und entsprechend auch wieder behoben werden können. Konkret: Afrikanische Länder bräuchten eigentlich keine Entwicklungshilfe bzw. die Staatsverschuldung unserer Länder könnte behoben werden, wenn, ja wenn man das Geld dort abschöpfen könnte, wo es vorhanden ist.

Dieses Bauchgefühl wandelte sich zunehmend in eine konsolidierende Gewissheit: Das Geld für viele drängende Gemeinschaftsaufgaben ist da, aber man kommt nicht ran.

Dabei verkennen wir als Spenden sammelnde Organisation durchaus nicht, dass viele Vermögende auf ihre Weise in der Welt viel Gutes tun. In diesem Buch geht es aber auch um Bestimmungsversuche zu Verhältnismäßigkeit und Proportionen zwischen den Profiten weniger und dem, was der Gemeinschaft zurückgegeben wird. Dabei steht immer wieder der global-katholische Blickwinkel mit den (auch) legitimen Interessen von Investoren oder örtlichen Gemeinschaften und Politikern in Spannung.

Was Sie in der Hand halten, ist die deutschsprachige Kurzzusammenfassung längerer Ausführungen zu unseren Forschungsergebnissen. Diese aufgrund des internationalen Charakters des Projekts auf Englisch verfassten Publikationen (sowie Hinweise zu daraus erwachsenden Publikationen) sind auf der Projektwebsite www.taxjustice-and-poverty.org veröffentlicht.

Dieses Buch wäre ohne die großzügige Hilfe der vielen Gesprächspartner nie zustande gekommen. Diesen sei abschließend besonders gedankt, ebenso allen, die Texte gegengelesen haben, etwa Peter Wahl, Verlagslektor Heribert Handwerk sowie jenen acht anderen, die namentlich nicht genannt werden wollen.

Wir hoffen, dass dieses Buch Grundlage für weitere gute Gespräche sein kann, ebenso wird gebeten, Fehler und Verbesserungsvorschläge rückzumelden.

Nürnberg, 17. Oktober 2016

Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut

Klaus Väthröder SJ

Leiter der Jesuitenmission Nürnberg

1 Der Lesbarkeit halber wird auf eine „gegenderte“ Ausdrucksweise verzichtet, selbstverständlich sind Männer und Frauen jeweils gleichberechtigt mit-gemeint.

2 Einführung zum Projekt2

Anfang des Jahres 2013 beschlossen die Jesuitenmission Deutschland, das Jesuit Hakimani Center in Nairobi/Kenia und das Jesuit Centre for Theological Reflection in Lusaka/Sambia ein dreijähriges Forschungsprojekt mit dem Titel „Steuergerechtigkeit und Armut: Verringerung des Wohlstandsgefälles und der Staatsverschuldung“.

Der Schwerpunkt dabei lag auf „Armut“, d. h. darauf, inwieweit aktuell gültige oder denkbare Steuersysteme sich auf Armut und Arme auswirken bzw. wie Reformen die Situation verbessern können. „Armut“ wird dabei nicht nur materiell verstanden, etwa im Hinblick auf ein finanzielles Mindesteinkommen (aktuell laut Weltbankfestsetzung 1,90 US-Dollar) oder die Entwicklung von nationalen Durchschnittseinkommen. Entscheidend bei der Beurteilung ist die De-facto-Entwicklung der Lebensbedingungen von Personen und Haushalten am untersten Ende der Gesellschaft: Verbessert sich diese Situation bzw. nimmt die Größe dieser Gruppe zu oder ab? Rein an finanziellen Größen gemessen scheint sich die Situation vielerorts während der vergangenen Jahrzehnte tatsächlich verbessert zu haben. Die Frage ist allerdings, ob man sich von dem verfügbaren Geld heute genauso viel leisten kann wie noch vor einigen Jahren und wo man lebt. Darüber hinaus hat das Projekt einen erweiterten Armutsbegriff, etwa im Sinne von Amartya Sens Befähigungsansatz oder von Oswald von Nell-Breunings Auslegung der Katholischen Soziallehre, nach der zusätzlich zu Fragen der materiellen Lebenserhaltung auch jene Faktoren berücksichtigt werden müssen, die eine selbstbestimmte Lebensgestaltung und damit Möglichkeiten zu sozialem Aufstieg beeinflussen.

Dabei muss zunächst geklärt werden, welche Zusammenhänge zwischen „Armut“ und „Ungleichheit“ bestehen, d. h. zwischen Schlüsselkonzepten des Titels und Untertitels, denn nach Annahmen der neoliberalen „Trickle-down“-Theorie kann Ungleichheit wachsen und Armut gleichzeitig abnehmen. Hier stellen sich die Forscher auf die Seite jener, die ein Funktionieren dieser Annahme hinterfragen und im Hinblick auf ihre Länder als nicht (mehr) gültig ansehen.

Sodann müssen die Zusammenhänge geklärt werden, die zwischen „Steuersystemen“3 einerseits und Armut andrerseits bestehen. Diese Zusammenhänge sind vierfach:

 Zunächst können existierende Steuersysteme Arme mehr belasten als Reiche.

 Wenn dem so ist, können Veränderungen (zweitens) bewirken, dass Reiche wieder ihrem Leistungsvermögen entsprechend stärker besteuert würden und dadurch Armut durch Umverteilung besser bekämpft bzw. Armen besser geholfen werden könnte.

 Drittens muss bedacht werden, ob nicht Alternativen, etwa Privatinvestitionen oder private Stiftungen, Armut besser und wirkungsvoller verringern können als Steuern bzw. ob Steuern solche besseren Alternativen schwächen würden.

 Letztlich gehört die Frage dazu, inwieweit hier vorkommende kriminelle Praktiken Marktmechanismen verzerren (etwa über Korruption oder durch Abgabenbetrug erlangte Vorteile gegenüber Mitbewerbern in Ausschreibungen) bzw. hier vorkommende Straftaten (Steuerhinterziehung, Karussellbetrug, Schwarzarbeit …) sich in den großen Bereich der weltweiten Illicit Financial Flows einordnen lassen.

Vorstehendes deutet bereits an, dass im Laufe der regelmäßigen Auswertungstreffen der Forscher vier Bereiche als so bedeutsam für die Situation in allen drei Ländern erkannt wurden, dass ihnen verstärkte Beachtung gewidmet wurde: die Frage ethischer Begründungen, die Problematik großer privater Vermögen, Illicit Financial Flows sowie Besteuerungsprobleme im Kontext der informal economy in afrikanischen Ländern bzw. der Schattenwirtschaft für Deutschland.

Die Arbeit zu vorstehenden Themen fand in den drei Ländern des Projekts unter sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen statt (Tendet-Ki- protich, Alt & al., 2013). Für alle Forscher galt jedoch, was ein deutscher Experte aus der Steuerverwaltung so formulierte: „Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber als Außenstehender werden Sie das System nie verstehen. Eigentlich kann man das System und seine Schwachstellen nur verstehen, wenn man drinsteckt und damit klarkommen muss.“

Das ist für Sozialwissenschaftler zugegebenermaßen schwierig, dennoch halten wir die Veröffentlichung der in dreijähriger Arbeit gewonnenen Erkenntnisse für gerechtfertigt. Die publizierten Unterlagen wurden nach bestem Wissen und Gewissen zusammengetragen. Wir halten die Zusammenstellung unterschiedlicher Perspektiven und Reflexionsebenen für einen nützlichen Beitrag, um die gemeinsame Suche nach einer national und international gerechteren Besteuerung weiter zu befruchten – „gemeinsame Suche“ auch deshalb, weil wir selbst nach drei Jahren Beschäftigung zu vielen Themen lediglich begründete Präferenzen, aber keine eindeutigen Vorschläge bieten können.

2 Siehe ausführlicher: Tax Justice & Poverty, 2013a, Alt & al., 2016a, Alt & al., 2016b.

3 Unter „Steuersystem“ wird das Gesamt aus Steuergesetzen, deren nationalem und internationalem Vollzug sowie die dazugehörige Rechtsprechung verstanden.

3 Forschungsdaten, -methoden, -schwerpunkte4

Die Forschungsergebnisse beruhen auf folgenden Quellen: Literaturrecherche, Erkenntnisse durch Methoden der Qualitativen Sozialforschung sowie Umfragen.

Die Literaturrecherche war nur von begrenztem Nutzen: Die Kompliziertheit der Materie bringt es mit sich, dass man eigentlich alles beweisen kann, was man beweisen will. Hier ist stets wichtig zu schauen, wer was warum sagt und womit vergleicht. Hier wurde das Prinzip des ‚unüblichen Verdächtigen‘ angewendet: Wenn zu einem Sachverhalt Zitate der OECD oder eines Rechnungshofs vorlagen, wurde jenen Aussagen der Vorzug vor gleich lautenden gegeben, die (z. B.) von Wohlfahrtsverbänden oder Gewerkschaften stammen. Sodann existieren in der öffentlich zugänglichen Literatur für wichtige Bereiche kaum Informationen, was etwa an der überragenden Bedeutung des Steuergeheimnisses liegt. Entweder waren die Informationen so allgemein, dass sie nutzlos waren, oder sie waren unter Verschluss. Von Dritten (z. B. Universitäten) durchgeführte und veröffentlichte Forschung, wie sie in anderen Ländern existiert, ist in Deutschland extrem selten. Das Gleiche gilt für öffentlich zugängliche Erkenntnisse zu den Schwerpunktthemen dieses Projekts, nämlich Illicit Financial Flows, private Großvermögen sowie Schwarzarbeit. Diese Milieus sind extrem abgeschottet und schwer zugänglich, hinzu kommt, dass das Segment der Vermögenden derart klein ist, dass es sich gängigen, repräsentativen Bevölkerungsbefragungen (Mikrozensus, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, Sozio-oekonomisches Panel [SOEP]) zunächst einmal entzieht, während viele der verfügbaren Informationen, etwa in „Reichtumsrankings“, auf Eigenangaben beruhen, die kaum angemessen überprüfbar sind.

Ein Kernelement der qualitativen Sozialforschung sind formelle und informell-vertrauliche Interviews und der Versuch, aus solchen Einzeldaten größere Zusammenhänge herauszufiltern. Wegbereitend war hier die Unterstützung der Bayerischen Staatsministerien für Inneres, Finanzen und Justiz sowie ihrer untergeordneten Behörden und Dienststellen. Dafür sind wir dankbar, denn es öffnete Türen, die sonst zweifelsohne verschlossen geblieben wären.

Insgesamt standen dem deutschen Projekt im Laufe der drei Jahre 23 formelle (d. h. von Vorgesetzten benannte) und 62 informelle Gesprächspartner zur Verfügung, zu denen Kontakte auf unterschiedlichste Weise zustande kamen. Bei der Gruppe der informellen Gesprächspartner kam es teilweise zu zehn und mehr persönlichen, telefonischen und/ oder schriftlichen Kontakten. Die Gesprächspartner kamen schwerpunktmäßig aus der Bayerischen Steuerverwaltung, aber auch aus den Bereichen Polizei, Justiz oder Zoll. Daneben wurden Vermögende und Vermögensverwalter, Steuerberater, Anwälte, Experten aus den Bereichen Banken, (Groß-)Unternehmen, Journalismus, NGOs und Informationstechnologie sowie Politiker und Abgeordnete befragt.

Vertraulich-informelle Interviews haben den Vorteil gegenüber formellen, dass die Zusicherung von Anonymität es dem Gesprächspartner ermöglicht, seine Sicht der Dinge spontaner-offener darzulegen, als er es tun würde, wenn er damit rechnen müsste, dass seine Vorgesetzten seine Aussagen über die Forschungspublikation erfahren würden.5 Und genau hier wird die Stärke des vorliegenden Projekts gesehen: Auch wenn die offiziell zur Verfügung gestellten und formell interviewten Gesprächspartner interessante Informationen gaben, so kamen die weitaus interessanteren Informationen in solch vertraulichen Gesprächen zur Sprache.

Während der Gespräche wurden schriftliche Notizen gemacht. Im Folgenden werden sowohl „wörtliche Zitate“ aus Gesprächen und Mails wiedergegeben als auch durch ‚einfache Anführungszeichen‘ gekennzeichnete Passagen aus zusammenfassenden Gesprächsprotokollen.

Die veröffentlichten Texte wurden auf Informationen aus diesen Gesprächen aufgebaut. In der „technischen Version“ der Kapitel dokumentieren über 500 Endnoten Schritt für Schritt Quellen und Informationen, die den niedergeschriebenen Aussagen zugrunde liegen. Aus Datenschutzgründen, d. h. um Personenbeziehbarkeit der Informationen und Quellen zu vermeiden, wird die „technische Version“ jedoch nicht veröffentlicht.

Wie bei früherer Forschung im abgeschotteten Milieu ‚illegaler‘ Migranten (Alt, 1999), über die während der Vorbereitungs- und Planungsphase ebenfalls wenig öffentliches Wissen zur Verfügung stand, veränderten bzw. differenzierten sich auch bei diesem Projekt im Verlauf der Interviews Hypothesen, Fragestellungen und Schwerpunkte in dem Maße, in dem Gesprächspartner ihre Sicht der Dinge darlegten und Aussagen sich widersprachen oder verstärkten.

Ein solches Vorgehen wird Fragen bezüglich der Richtigkeit und Verallgemeinerbarkeit solcher Aussagen wecken: Wie kann ausgeschlossen werden, dass eine ‚kernige‘ Information die Abrechnung eines frustrierten Beamten mit Vorgesetzten ist und insofern eher eine Ausnahme denn generalisierbare Regel ausdrückt? Dass eine Einzelperson aufgrund ihrer Beschäftigung nicht den Einblick in Zusammenhänge hat, die Vorgesetzte und Politiker haben?

Hierzu gibt es eine Reihe von Verifikationsmöglichkeiten, die in den in Fußnote 4 genannten Texten dargelegt werden. Lediglich zwei Punkte sollen hervorgehoben werden:

 Informationen wurden vor allem dann verwendet, wenn Schnittmengen zu öffentlich zugänglichen Quellen existieren – deshalb auch die vielen Literaturverweise in dieser Zusammenfassung.

 Ebenso sprach für sie, wenn sie von mehreren Informanten vorgetragen werden, bei denen ausgeschlossen werden kann, dass sie sich kennen oder abgesprochen haben.

Freilich: Aufgrund der Bedingungen, unter denen dieses Forschungsprojekt stattfand, der Natur der Methoden und Stichprobengröße sowie der fachlichen Komplexitäten sind die Aussagen in diesem Buch begründbar, aber nicht repräsentativ und umstandslos verallgemeinerbar.

Eine dritte Informationsquelle schließlich waren (halb-)standardisierte Befragungen: zunächst eine kleine anonymisierte und zufällige Bevölkerungsbefragung, sodann ein gezielt versandter Fragebogen, mit denen Verantwortliche in Ministerien und Parteien um zitierfähige Äußerungen zu forschungsrelevanten Themen gebeten wurden.6

Angesichts der Komplexität der Materie und der Tatsache, dass zur Bearbeitung derselben lediglich eine Teilzeitstelle zur Verfügung stand, ist eine Reihe von Einschränkungen erforderlich gewesen, um das Thema bearbeitbar zu halten. Die wichtigsten sind:

 Beschränkung auf die Erhebung von Steuern und Abgaben, nicht auf deren Verwendung oder gar Verschwendung.

 Da große Betriebsvermögen bzw. Steuerpraktiken großer Konzerne aufgrund von Offshore- und Luxemburg-Leaks bereits im Fokus der Öffentlichkeit stehen, wurde hier kein eigener Schwerpunkt gesetzt. – Auf dem Hintergrund der föderalen Struktur der deutschen Steuerverwaltung lag der Schwerpunkt beispielhaft auf dem Bundesland Bayern.

 Nicht alle Forschungsdaten konnten zum Publikationszeitpunkt dieses Buchs publikationsfähig für die Projektwebsite aufbereitet werden. – Aktualitätsstand des Buchs ist der 15. August 2016.

4 Siehe ausführlicher: Alt & al. (2016c) sowie http://tinyurl.com/tjp-GER-II

5 In den veröffentlichten Texten werden Aussagen formell vermittelter Gesprächspartner aus der Steuerverwaltung dadurch kenntlich gemacht, dass bei ihnen von „halboffiziellen Gesprächspartnern“ die Rede ist, um ihre Aussagen von „informellen“ Gesprächspartnern aus der Steuerverwaltung abzugrenzen. Die anderen Ministerien verlangten eine solche Kenntlichmachung der von ihnen zur Verfügung gestellten Gesprächspartner nicht.

6 Ausführlicher bzw. zum Nachlesen eingestellt unter http://tinyurl.com/tjp-GER-Umfrage sowie http://tinyurl.com/tjp-GER-Fragenkatalog

SEHEN