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Martin Endreß
Hans-Joachim Höhn
Thomas M. Schmidt
Oliver Wiertz | Hg
Herausforderungen der Modernität

Religion in der Moderne

Herausgegeben
von Matthias Lutz-Bachmann,
Thomas M. Schmidt
und Michael Sievernich

RIM Band 25

Martin Endreß
Hans-Joachim Höhn
Thomas M. Schmidt
Oliver Wiertz | Hg

Herausforderungen
der Modernität

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Gedruckt mit
freundlicher Unterstützung
des Freundeskreises
Sankt Georgen e.V.

Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©2012 Echter Verlag, Würzburg
www.echter-verlag.de

Druckerei:
Difo-Druck, Bamberg

ISBN
978-3-429-03546-4 | Print
978-3-429-04666-8 | PDF
978-3-429-06075-6 | ePub

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Herausforderungen der Modernität.
Philosophisch-biographische Streiflichter

I. Metaphysik

Werner Löser SJ

Der christliche Beitrag zur Metaphysik. Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit Martin Heidegger

Edmund Runggaldier SJ

Dialogbereitschaft und die Ontologie der Dispositionen und der Kausalität

Hans-Dieter Mutschler

Logik und Metaphysik

Heinrich Watzka SJ

Analytische Metaphysik nach Kant

II. Subjektphilosophie

Thomas Hanke

Die Identitäten von Subjekt und Person. Über ein Strukturmerkmal der Spätphilosophie Dieter Henrichs und seine Herkunft aus der Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe

Josef Quitterer

Das tätige Bewusstsein. Kants Beitrag zur Philosophy of Mind

III. Theorie der Moderne

Thomas M. Schmidt

Reflexionsgleichgewicht. Die Rechtfertigung von Gerechtigkeit in einer pluralen Welt

Annette Pitschmann

Die Moderne als Schauplatz des Tragischen? Überlegungen im Horizont von John Deweys Pragmatismus

Winfried Löffler

Welche Funktion hat Populärwissenschaft? Lektionen von Wittgenstein und Fleck

IV. Philosophische Zeitdiagnose

Martin Endreß

Säkular oder Postsäkular? Zur Analyse der religiösen Konturen der Gegenwart im Spannungsfeld der Beiträge von Jürgen Habermas und Charles Taylor

Stephan Winter

Sloterdijk in der Sphäre des Heiligen? Ritualtheoretische Marginalien zu einem Stück spätmoderner Religionskritik

V. Religionsphilosophie

Hans-Joachim Höhn

Religion – das vernunftgemäße Andere der Vernunft? Kriterien zur rationalen Verantwortung religiöser Überzeugungen

Jörg Splett

Gottesbeweis?

Hilary Anne-Marie Mooney

‚Shifting brilliancies‘: Theologische Strategien angesichts des ‚überlichten Dunkels‘

Jan Korditschke

Wissen über Gott ohne stichhaltige Argumente. Überlegungen vor dem Hintergrund der Reformed Epistemology von Alvin Plantinga

Oliver Wiertz

Der Tod des Theismus in der Moderne. Zur Theismuskritik John Shelby Spongs

Autorenverzeichnis

Herausforderungen der Modernität. Philosophisch-biographische Streiflichter

Das Paradigma der Modernität stellt eine maßgebliche Herausforderung für die Philosophie dar. So konstituieren moderne Leitbegriffe wie Autonomie und Freiheit, Kritik und Rationalität sowie Individualisierung und Fortschritt bis in die Gegenwart hinein den Standard seriösen philosophischen Denkens. Zugleich steht die Modernität derzeit jedoch ihrerseits vor unhintergehbaren Herausforderungen. Die Rede von der Krise der Moderne, von ihren Pathologien und ihrer Entgleisung zeigt an, dass das Bild der Moderne als eines ungebrochenen Fortschritts der Relativierung oder zumindest der gründlichen Differenzierung bedarf.

Diese zweifache Rolle der Modernität wirft ein neues Licht auf die vormals als unantastbare Traditionsmächte angesehenen Unternehmen der Metaphysik und der philosophischen Gotteslehre. Einerseits müssen sich heute nicht allein ihre Thesen, sondern bereits ihre Fragestellungen fortwährend vor der kritischen Reflexion verantworten. Zugleich aber erweist sich ihre Relevanz unter dem Vorzeichen postsäkularen Denkens als unangefochten.

In fünf Themenkreisen sollen in diesem Band die Provokationen der Moderne für das philosophische Denken sondiert werden.1 Wer sich auf diese Provokationen einlässt, wird dies kaum anders tun können, als sich auf jenen Modus der Bestreitung einzulassen, mit dem die Moderne selbst aufwartet. Bestreiten heißt: Selbstverständlichkeiten in Frage stellen, einen Konsens aufkündigen, Revision beantragen, eine Sache neu aufrollen. Am deutlichsten ist dieser Gestus spürbar im Umgang mit der einst als philosophische Kerndisziplin geltenden Metaphysik (W. Löser, E. Runggaldier, H-D. Mutschler, H. Watzka). Auf dem Prüfstand steht auch die Bestimmung und Beschreibung des Subjekts, das sich die Position und den Status einer in Fragen der Welt- und Selbstverständigung unhintergehbaren Instanz zugeschrieben hat. Hat hier die Moderne nicht längst zu einer „Dekonstruktion“ dieser Ansicht geführt (Th. Hanke, J. Quitterer)? Die Kunst der Bestreitung erschöpft sich natürlich nicht in einer Haltung der Opposition. Im Bestreiten steckt immer auch ein Behaupten und ein Besserwissen. Man hat etwas entgegenzusetzen, das nicht im bloßen Neinsagen aufgeht. Manches Überkommene ist wohl auch zu ersetzen durch Neues. Dies darf durchaus etwas Eigenes sein, das man daran erkennt, dass es auch auf eigenwillige Weise eingebracht wird. Wer sich eingehend mit dem normativen Selbstverständnis der Moderne beschäftigt (A. Pitschmann, Th. M. Schmidt, W. Löffler) oder in zeitdiagnostischer Absicht seinen aktuellen sozio-kulturellen Rekonstruktionen und Konfigurationen nachgeht (M. Endreß, St. Winter), stößt unweigerlich auf dieses Kritik- und Innovationspotenzial. Wie kaum eine andere Epoche erhebt die Moderne auch den Anspruch, die Inhalte des religiösen Glaubens nach Maßgabe der Vernunft zu reflektieren. Kann man noch (oder wieder?) logisch widerspruchsfrei denken, was in religiösen Überzeugungen zum Ausdruck kommt? Ein plausible Antwort auf diese Frage verlangt von der Religionsphilosophie neu auszuloten, bis zu welcher Tiefe die gemeinhin als rational anerkannten Mittel der Schlussfolgerung zur Begründung religiöser Überzeugungen beitragen können (H.-J. Höhn, J. Korditschke, H. Mooney, J. Splett, O. Wiertz).

Das Werk von Hans-Ludwig Ollig stellt sich den vielfältigen Herausforderungen der Modernität auf beeindruckende Weise. Als Gelehrter und akademischer Lehrer hat er über Jahrzehnte hinweg Impulse gesetzt, um das Bewusstsein für die Spannung zwischen der herausfordernden und der herausgeforderten Modernität wachzuhalten. Diese Impulse sollen in dieser Festschrift aufgegriffen, gewürdigt und weitergeführt werden.

Innerhalb der Institution, die den Namen „Sankt Georgen“ trägt, war und ist Hans-Ludwig Ollig eine Institution sui generis. Als Jesuitenpater, der auf dem Campus der Hochschule wohnhaft ist, verkörpert er seit Jahrzehnten auf originelle Weise die Synthese von Akademischem und Seelsorglichem, Fachlichem und Persönlichem. Von früh bis spät zwischen Bibliothek und Mensa pendelnd, war er wie kein zweiter aus dem Kreis der Professorenschaft für jeden auf dem Campus permanent sichtbar und ansprechbar, und er nahm sich auch die Freiheit, jeden, den er noch nicht kannte, diskret anzusprechen. Über Generationen von Studierenden hinweg wob er so ein Netz von seelsorglichen, fachlichen und freundschaftlichen Kontakten, deren Fäden auch mit dem Studienende nicht abrissen und bis heute Vertreterinnen und Vertreter ganz unterschiedlicher Berufsgruppen erfassen.

Hans-Ludwig Ollig hatte bis zum Zeitpunkt seiner Emeritierung 63 Semester lang die Fächer Metaphysik und Ethik sowie verschiedene Epochen der Philosophiegeschichte in Forschung und Lehre an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen vertreten. 1943 geboren, durchlief er die Normalausbildung eines Jesuiten, wie sie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts im Orden üblich war. Direkt nach dem Abitur im Jahr 1963 trat er in das Noviziat des Jesuitenordens in Eringerfeld (Westfalen) ein. Es schlossen sich das dreijährige Philosophiestudium an der ordenseigenen Fakultät in Pullach, der Vorgängerinstitution der Hochschule für Philosophie in München, und das Theologiestudium an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main an, wo 1971 auch die Priesterweihe stattfand und eine einjährige pastorale Tätigkeit als Assistent des Regens am dortigen Priesterseminar nach sich zog. 1972 beendete Pater Ollig das Theologiestudium mit dem Lizentiat. Zur Fortsetzung seiner Studien ging er nach Freiburg im Breisgau und war zwischen 1973 und 1977 Doktorand von Prof. Karl Lehmann, dem heutigen Kardinal und Bischof von Mainz. Pater Ollig wurde 1977 mit einer Arbeit über Hermann Cohens späte Religionsphilosophie zum Doktor der Theologie promoviert. Die Dissertation erschien 1979 unter dem Titel: Religion und Freiheitsglaube. Zur Problematik Hermann Cohens später Religionsphilosophie als Band 179 der Monographien zur philosophischen Forschung. Nach dem Promotionsstudium war Ollig zwei Jahre lang als Hochschulseelsorger in Hamburg eingesetzt, bis ihn der Provinzial im Jahr 1979 zum Mentor der Gruppe der Laientheologen in Frankfurt und zum Lehrbeauftragten für Philosophie an die Hochschule Sankt Georgen berief. Sein Debut als Hochschullehrer war im Wintersemester 1979/1980 eine Vorlesung über die Philosophiegeschichte der Neuzeit. In den nachfolgenden Semestern kamen Vorlesungen zu anderen Epochen hinzu (Antike, Mittelalter), bis ihm die Vorlesungen in zwei Hauptdisziplinen der systematischen Philosophie, Metaphysik und Ethik, anvertraut wurden. 1983 erfolgte die Habilitation und 1985 die Berufung zum Professor für Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen.

Die in Freiburg bei Lehmann entstandene Dissertation widmete sich einer der Gründerfiguren des deutschen Neukantianismus, Hermann Cohen (1842-1918), der all das verkörperte, was man als die Idee des deutschen Judentums in der Epoche seiner Emanzipation im mittleren und späten 19. Jahrhundert ansehen kann. Cohen war ein jüdischer Intellektueller, der in der Philosophie zuerst den Ersatz für den ererbten Glauben erblickte, sein Judentum eher kulturell als religiös deutet und an die sozial und politisch herbeizuführende Erlösung der Menschheit glaubt, bis er den Agnostizismus in Glaubensdingen überwindet und eine explizite Religionsphilosophie entwickelt, die natürlich ganz unter dem Primat einer Vernunftphilosophie im Nachklang zu Kant und dem deutschen Idealismus steht und den Gottesbezug in den Kontext der Konstitutionsbedingungen menschlicher Freiheit hineinstellt. Olligs Beitrag „Hermann Cohen und das Problem der Selbsterhaltung“ (in: Theologie und Philosophie, 56, 1981) umreißt Fragen, die auch heute in einer theologisch anschlussfähigen Metaphysik der Subjektivität, wie sie beispielsweise Dieter Henrich vorgelegt hat, diskutiert werden: ob die Selbstbestimmung und Freiheit der Subjekte als Selbsterzeugung und Selbsterhaltung gedeutet werden müssen und ob die Idee der Selbstsetzung eines Subjekts die gegenläufige Idee der Bezogenheit auf Anderes und auf Gott aufhebt. Die 1979 veröffentlichte Monographie Der Neukantianismus (Stuttgart: Metzlersche Verlagshandlung) war über Jahrzehnte die Standardeinführung in den Neukantianismus im deutschsprachigen Raum und begründete Olligs Ruf als qualifiziertesten Historiographen dieser Schule. Es folgten mehrere Anthologien: Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker (Stuttgart: Reclam 1982); Materialien zur Neukantianismus-Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987) sowie der Artikel „Neo-Kantianism“ (in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, Vol. 6, London, New York 1998, S. 776-796).

Muss man den Neukantianismus kennen? Die wenigsten kennen heute die Exponenten der bedeutendsten deutschen Philosophenschule im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert: Lange, Riehl, Cohen, Natorp, Windelband, Rickert, Lask, auch nur dem Namen nach, mit Ausnahme Cassirers. Neukantianer waren in der Regel Juden. Die Ignoranz der Gebildeten, nicht nur der ganz jungen, ist das Ergebnis der Austreibung des jüdischen Geistes aus der deutschen Kultur im 20. Jahrhundert. Die Frau Hermann Cohens wurde noch mit 82 Jahren von den Nazis deportiert. Der Neukantianismus schrieb sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Rückkehr zu den zentralen Einsichten der kritischen Philosophie Kants auf die Fahnen. Die „Neu-Kantianer“ wollten etwas der Dominanz Hegels in Philosophenkreisen entgegensetzen, aber auch auf den subjektvergessenen Szientismus und den naiven erkenntnistheoretischen Realismus einer auf das Methodenideal der Naturwissenschaften starrenden Philosophie reagieren. Szientismus und Physikalismus prägen auch heute wieder die Weltanschauung der wissenschaftlich Gebildeten, die den Fortschritt der Naturwissenschaften auf ihrer Seite wissen. Ein Rückgang auf Kant täte unserer intellektuellen Kultur gut: der im Programm einer naturalisierten Erkenntnistheorie gewollte Verzicht auf die erkenntniskritische Frage kommt einem vollständigen Problemverlust gleich! Gerade die analytische Philosophie ist vom Bazillus des naiven wissenschaftlichen Realismus angesteckt. Auch die Religionsphilosophie kann immer noch viel von Kant lernen.

Von den 1980er Jahren an wandte sich Ollig verstärkt der Rezeption deutschsprachiger Beiträge zur philosophischen Gegenwartsdiagnose zu. Der Artikel „Philosophie und Zeitdiagnose. Aspekte deutscher Gegenwartsphilosophie“ (in: Theologie und Philosophie, 57, 1982), markiert diesen Übergang. Der 1991 herausgekommene Band Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze deutscher Gegenwartsphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft) ist die Frucht akribischer Lektüre und bietet eine konzise Darstellung der Beiträge renommierter Autoren in einem Genre, das als intellektuelle Antwort auf die Dauerkrisen der technischen Zivilisation und eines wildgewordenen Kapitalismus permanent Konjunktur hat und in den 1980er Jahren seine erste Blüte hatte. Philosophische Zeitdiagnose kommt nicht umhin, innerhalb des Streits um das richtige Verständnis der Moderne zum Phänomen der fortdauernden Existenz des Religiösen unter säkularem Vorzeichen Stellung zu beziehen. In „Habermas im Religionsdiskurs“ (in: Theologie und Philosophie, 83, 2008), präsentiert sich Ollig als verständiger Interpret und milder Kritiker von Habermas´ Versuch, der Religion in der „postsäkularen“ Gesellschaft eine Rolle zuzuweisen. Der Artikel „Herausgeforderte Metaphysik“ (in: Theologie und Philosophie, 84, 2009), zeigt ein weiteres Interessensgebiet an: das Ausloten der Möglichkeit eines Neuansatzes von Metaphysik im Zeitalter ihrer Bestreitung („nach Kant“, „nach Nietzsche“, „nach Ausschwitz“ könne es doch keine Metaphysik mehr geben). Als vor gut zwei Jahrzehnten Dieter Henrich und Jürgen Habermas über die Frage der Unumkehrbarkeit des nachmetaphysischen Denkens eine heftige Fehde austrugen, ergriff Ollig mit Spaemann für Henrich Partei. Seitdem Szientismus und Physikalismus unter Philosophen wieder zum feinen Ton gehören, schreibt Ollig an der Seite Franz von Kutscheras und Uwe Meixners gegen den mächtigen Trend zur Selbstnaturalisierung der Philosophie an.

Wer die Artikel, Darstellungen und Anthologien von Ollig kennt, weiß, wie umfassend seine Kenntnis der Quellen und der Sekundärliteratur auf den genannten Gebieten ist. Ihm entgeht kaum eine Neuerscheinung im deutschsprachigen Raum. Er ist ein wandelnder Monitor der deutschen Philosophieszene, ein akribischer Doxagraph ihrer Publikationswut, ein wacher Seismograph ihrer Verschiebungen und Verwerfungen. Dabei fehlt nie der Blick für die Einseitigkeiten und Begrenztheit einer Position. Die Entfaltung einer eigenen Position tritt dabei eher in den Hintergrund. Diese Zurücknahme seiner selbst bei wacher Registrierung nicht bloß der laufenden Diskussion, sondern auch ihrer Kernpunkte und offenen Stellen nötigt uns den größten Respekt ab. Die thematische Breite, das Bemühen um Aktualität und Zeitgenossenschaft spiegelt sich auch in den Themen der über die Jahre hinweg angebotenen Seminare: „Habermas als philosophierender Zeitdiagnostiker“, „Kultur als Thema der Philosophie“, „Glück als Thema der Gegenwartsphilosophie“, „Klassiker der Kunsttheorie“, „Klassiker der Sozialtheorie“, „Habermas und das Religionsproblem“, „Alterswerke bedeutender deutschsprachiger Gegenwartsphilosophen“. Die Vorlesungen in den systematischen Kerndisziplinen Ethik und Metaphysik waren über die Jahre hinweg eine permanente Baustelle: das Klassikertrio (Aristoteles, Thomas, Kant) bildete das Fundament, – an den Fundamenten wurde nicht herumgebastelt, sehr wohl aber den Stockwerken, die darauf aufbauen; hier war das permanente Bemühen leitend, die aktuelle Debatte einschließlich der jeweils aktuellen Bestreitungen des Fachs einzubauen. Die dargebotene Fülle der Argumente war stupend und umfassend. Wer unter den Nachkommenden ist zu so viel Askese, Fleiß und Selbstlosigkeit noch disponiert?

Hans-Joachim Höhn

Annette Pitschmann

Heinrich Watzka SJ

1 Die Herausgeber danken dem Freundeskreis Sankt Georgen e.V. für die Übernahme der Publikationskosten sowie Judith Hein und Jakob Mertesacker für die umsichtige Unterstützung der Endredaktion des Bandes.

I. Metaphysik

Werner Löser SJ

Der christliche Beitrag zur Metaphysik. Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit Martin Heidegger

„Der Christ ist jener Mensch, der von Glaubens wegen philosophieren muss.“1 Mit diesem inzwischen berühmt gewordenen Satz eröffnet Hans Urs von Balthasar den Abschnitt, der den umfangreichen Band, in dem er den Ertrag des Jahrhunderte währenden Nachdenkens über Fragen der Metaphysik vorgestellt hat, beschließt. Dabei versteht er die Metaphysik „als Wissenschaft vom Sein des Seienden“2. Der dem zitierten Anfangssatz folgende und ihn in äußerster Prägnanz erläuternde Satz lautet: „Weil er an die absolute Liebe Gottes zur Welt glaubt, ist er gehalten, das Sein in seiner ontologischen Differenz als Verweis auf die Liebe zu lesen...“3.

Die Einsicht, die sich hier ausspricht, ist das Konzentrat der Antwort auf die Anfragen und Anregungen, die von Balthasar aus dem Denken Martin Heideggers entgegen-genommen hat. Dass von Balthasar diese Antwort, in der die Grundentscheidungen seines philosophisch-theologischen Denkens enthalten sind, in dieser Form schließlich geben konnte, war das Ergebnis eines langen Weges. Doch zeigt sich im Rückblick auf dessen frühere Stadien, dass er ihnen seit langem auf der Spur war. Dass von Balthasar stärkste Impulse aus der Begegnung mit dem Denken Martin Heideggers empfangen hat, ist von den Interpreten seines Werkes bisher nur beiläufig wahrgenommen und dargestellt worden. Es kann auch hier nicht erschöpfend vorgestellt werden. Es mag genügen, wenn die Richtung, in der hier zu forschen wäre, erkennbar würde.

Hans Urs von Balthasar war ein Altersgenosse einiger katholischer Philosophen und Theologen, die sich in der Zeit ihrer Studien, d.h. in den späten 20er und den frühen 30er Jahren des hinter uns liegenden Jahrhunderts, dem Denken Heideggers mit wachem Interesse öffneten – Karl Rahner SJ, Johann Baptist Lotz SJ, Max Müller, Gustav Siewerth – um nur die bekanntesten unter ihnen zu nennen. Sofern von Balthasars Aufmerksamkeit auf das Denken Heideggers eine andersartige, auch kritischere war, zählt man ihn gewöhnlich und mit Recht nicht zur „katholischen Heidegger-Schule“. Man wird nicht fehlgehen, wenn man damit rechnet, dass von Balthasar sehr wohl wahrnahm, wie die Genannten, von denen ja zwei später seine jesuitischen Ordensbrüder waren, auf Heidegger entschlossen zugingen. Dies tat er ja ebenfalls. Aber er tat es gleichwohl auf andere Weise. Er hatte seine Position auf eigenen Wegen zu entwickeln. Ob er bei seinem Zugehen auf Heideggers Philosophie dessen Gedanken zur Seins-Frage so erfasst hat, wie Heidegger sie im Sinn hatte, ist nicht leicht zu sagen.4 Man mag damit rechnen, dass Heidegger sich durch das, was er in von Balthasars Bemühungen hätte wahrnehmen können, nicht oder nicht ganz wiedergefunden hätte. Doch dies ist gewiss: von Balthasar hat sich um ein Verständnis der Gedanken Heideggers bemüht und sein eigenes Denken auch in einer Auseinandersetzung mit dem, was sich ihm dabei gezeigt hatte, entwickelt. Dabei kam ihm schon früh ein anderer Jesuit zu Hilfe – Erich Przywara, den der junge Hans Urs von Balthasar im Frühjahr 1929 zum ersten Mal getroffen hat.

I. Von Balthasars Weg mit Heideggers Philosophie: Stationen

Ende Oktober 1928 hat Hans Urs von Balthasar in Zürich sein Studium der Germanistik und Philosophie mit dem Doktoratsexamen beendet. Die Dissertation, die er der Fakultät vorgelegt hatte, galt der „Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur“. 1930 wurde sie in von Balthasars „Selbstverlag“ publiziert. In dieser veröffentlichten Fassung findet sich ein Abschnitt, der überschrieben ist „Person und Tod“ und der den Gedanken sowohl Rainer Maria Rilkes als auch Martin Heideggers über den Menschen und seine in seinem Tod endgültig offenbar werdende Endlichkeit gilt.5 Das Werk Heideggers, das von Balthasar dort auswertet, war kurz zuvor – 1927 – erschienen: „Sein und Zeit“. Andere Schriften Heideggers kommen hier noch nicht zum Zuge. Ob von Balthasar die Analysen zu Heidegger schon in die der Züricher Fakultät 1928 eingereichte Fassung seiner Dissertation eingearbeitet oder erst im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Druckfassung 1928-1929 in den Text eingefügt hat, kann auf sich beruhen bleiben. Soviel ist klar: von Balthasar hat Heideggers „Sein und Zeit“ 1929 schon gekannt, also wohl 1928 studiert. Dies geht aus zwei Briefen hervor, die von Balthasar Anfang 1929 an Emil Lerch geschrieben hat und aus denen Manfred Lochbrunner in seinem Buch „Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde“ zitiert. Daraus geht zunächst hervor, dass von Balthasar Ende Januar 1929 nach Freiburg gefahren ist, um Vorlesungen von Heidegger zu hören. In seinem Brief vom 25. Januar 1929 an Emil Lerch finden sich solche Sätze:

„Kennst Du das unvergleichliche Buch von Heidegger: Sein und Zeit? Ich empfehle Dir diese letzte ‚Blüte des Chaos‘ und deutschen Tiefsinns zur Lektüre. Hier ist eine unmöglich scheinende Synthese von Husserl, Dilthey und Kierkegaard versucht […]. Bis Ende der Woche bin ich in Freiburg bei A. Hänle (Glümerstr. 3). Heideggers Vorlesungen werde ich nicht versäumen.“

Wenige Wochen später, am 27. März 1929, schrieb von Balthasar erneut einen Brief an Emil Lerch. Darin ist u.a. zu lesen

„Heidegger ist meine neue Entdeckung: fascinierende Filosofie, die sich eine positive Destruktion der Ontologie nennt und die phänomenologische Analyse des Seins, vorab des ‚Daseins‘ (d.h. Mensch), durchführt. Synthese von Aristoteles, Thomas, Kierkegaard, Husserl.“

Am 24. Juli 1929 hat Martin Heidegger in der Freiburger Universitätsaula seine berühmte Vorlesung „Was ist Metaphysik?“ gehalten. Von Balthasar hat sie sogleich zur Kenntnis genommen und noch eine Fußnote in die für den Druck vorbereitete Dissertation eingefügt, die dies erkennen lässt.6 Heideggers Vorlesung hatte mit der berühmten Frage „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ geendet und war im übrigen um das, was man seither als die „ontologische Differenz“ zwischen dem Sein und dem Seienden bezeichnet, gekreist. Die phänomenlogischen Analysen aus „Sein und Zeit“ hatten durch die Aussagen zur Metaphysik eine Zuspitzung und Vertiefung erfahren. Die Begegnung mit diesen Erörterungen Heideggers waren für von Balthasar äußerst folgenreich: die Fragen nach der ontologischen Differenz und nach den letzten Gründen, die das, was ist, tragen, waren nun zutiefst zu seinen eigenen geworden und ließen ihn nach Antworten Ausschau halten, die der Radikalität der Heideggerfragen gewachsen waren und zugleich über dessen Auffassungen hinausgingen.

Von einiger Bedeutung ist für von Balthasar ohne Zweifel auch die 1929 erschienene Schrift Heideggers „Kant und das Problem der Metaphysik“7 gewesen. In ihr finden sich im § 40 Formulierungen, die unmittelbar an Aussagen heranreichen, die man gewöhnlich mit dem Denken Thomas´ von Aquin verbindet. Da heißt es beispielsweise:

„Wir bestimmen und befragen das uns offenbare Seiende … einmal im Hinblick auf sein Was-sein (…). Dieses Was-sein nennt die Philosophie essentia (Wesen). Es macht ein Seiendes in dem, was es ist, möglich. … An jedem Seienden erwacht sodann die Frage, oder sie ist immer schon beantwortet: ob es, das Seiende dieses je bestimmten Was-seins, sei oder nicht vielmehr nicht sei. Wir bestimmen das Seiende demnach ‚auch‘ bezüglich seines ‚Daßseins‘ (…), was die Philosophie terminologisch als existentia (Wirklichkeit) zu fassen pflegt.“8

Und an solchen Bestimmungen entzündete sich für Heidegger auch die Frage nach dem Sein:

„An jedem Seienden ‚gibt es‘ so Was-sein und Daßsein, essentia und existentia, Möglichkeit und Wirklichkeit. Heißt hier ‚Sein‘ je dasselbe?“9

So stellt sich die Frage unausweichlich, was das Sein als solches sei. Heidegger geht aber noch weiter und sagt: „Existenz ist als Seinsart in sich Endlichkeit und als diese nur möglich auf dem Grunde des Seinsverständnisses“10. An solch einer Stelle wird sich von Balthasar zum Nachfragen oder gar zum Neinsagen gereizt erlebt haben. So lebten in ihm Gedanken auf, die ihn zeit seines Lebens begleiten sollten.

Am 31. Oktober 1929 ist von Balthasar ins Noviziat der Gesellschaft Jesu in Feldkirch eingetreten. Wie Manfred Lochbrunner in einem Gespräch mit von Balthasars damaligem Mitnovizen Alois Grillmeier erfahren hat, hat von Balthasar seinen Mitnovizen damals die Anregung gegeben, Heideggers „Sein und Zeit“ zu lesen. In welchem Maße von Balthasar sich während seiner Noviziatsjahre – Herbst 1929 bis Herbst 1931 – ansonsten mit Heideggers Philosophie vertiefend befassen konnte, ist nicht bekannt. Es ist aber eher zu vermuten, dass dies nur in begrenzter Weise möglich war.

Auf die Noviziatszeit folgten ein zweijähriges Philosophiestudium in Pullach bei München (1931-1933) und ein vierjähriges Theologiestudium in Lyon (1933-1937). In diesen Jahren hat von Balthasar sich mit den neueren Schriften Heideggers recht eingehend befasst. Was ihm dabei wichtig wurde, hat er in den dritten Band der „Apokalypse der deutschen Seele“11 eingearbeitet. Dort findet sich ein langes Kapitel, in dem wie schon in der Dissertation Ausführungen zu Rilke und zu Heidegger ineinander verwoben erscheinen.12 Viele Einzelthemen werden dort erörtert: die Zeitlichkeit des Daseins, der Tod als Horizont des Lebens, die Wahrheit und die Freiheit im Zeichen der Endlichkeit. Dies alles geschieht so, dass Heideggers Denken in den Strom des neuzeitlichen Denkens in Philosophie und Literatur eingebettet und es gleichzeitig an seine Grenzen führend erscheint. In die Darstellungen des heideggerschen Denkens sind immer auch kritische Anfragen eingefügt. Sie lassen erkennen, dass von Balthasar von den Analysen Heideggers einerseits beeindruckt war, aber andererseits ihre Einseitigkeiten nicht verschweigen wollte und konnte.

In einem kurzen Aufsatz aus dem Jahre 1939 hat von Balthasar seine damalige Stellung zur Philosophie Heideggers einem weiteren Leserkreis zugänglich zu machen versucht: „Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus“13. Kritische Anfragen an Heideggers Konzept einer Philosophie der Endlichkeit kommen hier recht deutlich zur Sprache.

Auch in späteren Jahren blieb von Balthasar an Heideggers Denken interessiert, ja er sah in dem Freiburger Philosophen einen der anregendsten und gleichzeitig herausforderndsten Vertreter der Moderne. Immer wieder wird in von Balthasars Schriften auf ihn verwiesen. In vier längeren Texten führt er das Gespräch mit Heidegger ausdrücklich weiter. Sie kommen darin überein, dass es in ihnen vorwiegend, ja fast ausschließlich um die Letztfragen der Metaphysik geht. Der erste dieser Text ist ein Abschnitt in der Schrift „Der Christ und die Angst“14. Wo dort das „Wesen der Angst“ erörtert wird, dringt von Balthasar bis zu den metaphysischen Letztfragen vor und setzt sich dabei auch mit Heideggers Philosophie auseinander.15 Dabei konfrontiert er dieses Konzept mit den entsprechenden Aussagen des Thomas von Aquin. Der zweite Text steht im Band III/1 von „Herrlichkeit“. Dort bietet von Balthasar eine Deutung der wesentlichen Anliegen Heideggers an und fügt sie in den langen Gang der Philosophiegeschichte ein, die unter der Leitfrage, was jeweils zum Thema „Herrlichkeit“ von Belang ist, dargestellt ist.16 Der dritte Text findet sich im selben Band „Herrlichkeit III/1“. Dort legt von Balthasar unter der Überschrift „Der Ort der Herrlichkeit in der Metaphysik“ seinen aufs gründlichste durchdachten Gegenentwurf zu Heideggers Metaphysik der ontologischen Differenz vor.17 Der vierte und letzte hier zu nennende Text aus der Feder von Balthasars steht im „Epilog“18. Dort gibt er noch einmal und abschließend Rechenschaft über die metaphysischen Grundlagen der gesamten theologischen Trilogie – „Herrlichkeit“, „Theodramatik“, „Theologik“. Er handelt dort von der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden in einer Weise, die die Philosophie wesentlich auf die Theologie hin offen sein lässt.19

Der Rückblick auf die Stationen der Aufmerksamkeit von Balthasars auf die Philosophie Heideggers lässt ein Doppeltes erkennen. Zum einen hat sich von Balthasar seit seiner Studienzeit bis in sein hohes Alter immer wieder mit Heidegger auseinandergesetzt. Immer war und blieb er an den Fragen interessiert, die Heidegger aufgeworfen hatte und die er seinerseits in umfassenderer und gültigerer Weise zu beantworten sich gedrängt sah. Zum anderen lässt sich ein thematisches Gefälle erkennen. Befasste sich von Balthasar anfangs vorwiegend mit den Themen, auf die er in „Sein und Zeit“ gestoßen war – das war eine Anthropologie im Zeichen einer Philosophie der Endlichkeit – und die er sowohl zustimmend als auch erweiternd und vertiefend bearbeitete, so verdichtete sich sein Interesse zunehmend auf die Metaphysik als der Frage nach der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden. Was sich ihm dabei zeigte, bestimmte in immer entschiedenerer Weise die Grundstruktur seines Denkens, wie es schließlich in der „Trilogie“ greifbar wurde.

II. Die Anregungen Erich Przywaras

Dass von Balthasar schon früh auf heideggersche Aussagen zur Metaphysik, konkret: zur Deutung der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden, aufmerksam wurde und das Interesse an ihnen nicht nur nie mehr erschlaffte, sondern im Laufe der Jahre immer mehr zunahm, geht ohne Zweifel in wesentlichem Sinn auf die Anregungen zurück, die von Erich Przywara ausgingen. Von Balthasar hat Przywara in der Karwoche 1929 in Bad Schönbrunn persönlich kennengelernt. Er nahm an Exerzitien teil, die Przywara damals leitete.20 Diese erste Begegnung zwischen Przywara und von Balthasar war der Ausgangspunkt einer langen, fruchtbaren, gleichwohl nicht immer einfachen Beziehung. Von Balthasar hat viele Anregungen seines älteren Mitbruders aus dem Jesuitenorden aufgenommen und schöpferisch weiterentfaltet. Zu den wichtigsten Anstößen, die von Balthasar aufgegriffen hat, gehörten Przywaras Darlegungen zur Metaphysik, die sich ihrerseits den Einsichten des Thomas von Aquin verdankten. Dies alles stieß bei von Balthasar sogleich auf höchstes Interesse, weil sich hier die Ansätze für eine kreative und kritische Rezeption der heideggerschen Ausführungen zur Metaphysik fanden. Das Motiv, das hier von entscheidendem Belang war, war die auf Thomas zurückgehende Lehre von der Realdistinktion von Esse und Essentia, von Sein und Wesen.

Während seines Philosophiestudiums ging von Balthasar diesen Fragen eindringlich nach. Er hatte das entscheidende Werk Przywaras, das den Titel „Analogia entis“ trug, zur Hand. Er rekonstruierte die Anliegen und Einsichten dieses Werkes in seiner Pullacher Lizentiatsarbeit und hatte dabei Heideggers metaphysische Aussagen zur ontologischen Differenz und ihre Entfaltungen im Horizont der Zeit- und Endlichkeit ständig vor Augen. Bald darauf, noch 1933, veröffentlichte er einen Aufsatz „Die Metaphysik Erich Przywaras“21, in dem er die wichtigsten Ergebnisse seiner damaligen Bemühungen mitteilte. Dabei war es nicht zuletzt um die Frage gegangen, was aus Przywaras analogia-entis-Lehre für eine tragfähige Antwort auf Heideggers Denken zu gewinnen sei. In diesem Aufsatz finden sich beispielsweise diese Aussagen:

„Klärte Husserl das Methodische, so erhebt nun Heidegger die metaphysische Grundfrage mit einem lange nicht gehörten Pathos: ti to on, was ist das Sein. Und seine Antwort: es ist ‚Zeit‘, als konstitutives ‚im Nichts‘, fundamental mit sich nicht identisches, schlägt unerwartet eine Brücke zum Herzproblem der Scholastik und Schlüsselproblem ihrer neueren Schulen, zur ‚distinctio realis‘, als der Nichtidentität von Wesen und Dasein im endlichen Sein. Diese Nichtidentität wird zum ersten unerschütterlichen Ausgangspunkt Przywaras. Jedes Endliche ist in seinem Sein ‚gespannt‘: sein Wesen hat eine Notwendigkeit, die sein Dasein nicht hat, Wesen und Existenz sind in ihm nur ‚faktisch‘, nicht ‚wesenhaft‘ eins ….“22

Dass Przywaras Einfluss auf von Balthasar sich nicht darin erschöpft hat, den nach einer tragfähigen Antwort auf Heideggers Philosophie Suchenden auf Thomas von Aquin und seine Lehre von der Realdistinktion von Esse und Essentia hinzuweisen, ist unbezweifelbar, kann aber hier auf sich beruhen bleiben.23

III. Das Erbe des Thomas von Aquin

Hans Urs von Balthasar hat die entscheidenden Einsichten, die es ihm ermöglichten, auf die Fragen, die die Aussagen Heideggers zur Metaphysik aufgeworfen hatten, zu antworten, bei Thomas von Aquin gefunden. Thomas hat sie dort entfaltet, wo er sich zur metaphysischen Konstitution alles Endlichen geäußert hat. Dass sie sich in vielem mit dem berührten, was Heidegger zur ontologischen Differenz und zur Konstitution alles Endlichen gesagt hatte, war von Balthasar ebenso wichtig, wie dass sie an entscheidender Stelle dazu eine Korrektur bedeuteten.

Von Balthasar hat sich, wenn es um die metaphysischen Letztfragen ging, immer wieder auf Thomas berufen. In der Regel tat er dies in knappen Hinweisen. Man findet sie in nicht wenigen Büchern und Aufsätzen, gleich ob sie den früheren oder späteren Schaffensperioden entstammen. Der wichtigste dieser Texte findet sich in dem Band, in den dann auch die Auseinandersetzung mit Martin Heidegger aufgenommen wurde: Herrlichkeit III/1: „Thomas von Aquin“24. In diesem Abschnitt geht es in immer neuen Anläufen auch um die Lehre vom Sein des Seienden. Innerhalb des umfangreichen Bandes, der einen Gang durch die Geschichte der Metaphysik bietet, stehen sich die beiden Thomas von Aquin und Martin Heidegger gewidmeten Kapitel wie zwei Brennpunkte innerhalb einer Ellipse einander gegenüber. Aber auch im „Epilog“ zur theologischen Trilogie spielen die beiden Denker eine große Rolle – auf Thomas nimmt von Balthasar ausführlich und ausdrücklich Bezug, aber auch Heidegger ist als geheimer Gesprächspartner ständig anwesend. Ein Text aus dem „Epilog“ mag dies belegen:

„Die Wirklichkeit (esse) kann nur eine sein …, sofern sie ‚completum et simplex‘ ist. Aber anderseits subsistiert sie nicht in sich, sondern in einer Unzahl von Wesen, und verleiht jedem von ihnen seine wesenhafte (substantielle) Einheit. Gewiss kann der ordnende Verstand diese Einheiten durch Vergleichen in Arten und Gattungen einteilen, aber weder Art noch Gattung subsistiert als solche, sondern nur das, was man mit Recht das Unteilbare, In-dividuum nennt. Auch hier herrscht ein gegenseitiges Sich-Beschenken: das Sein gibt dem Wesen seine Unteilbarkeit, das Wesen gibt dem Sein (als bloß schwebende in sich keinen Halt findende Wirklichkeit) seine Ver-wirklichung. Insofern ist Sein immer sowohl das Allgemeinst-Geltende, alles Endliche unendlich Umfassende, wie das je-Besondere, das so einmalig ist, dass es unter nichts eingeordnet werden kann.“25

Thomas von Aquin hat die entscheidende Einsicht in die Metaphysik als der Wissenschaft vom Sein des Seienden formuliert: das Sein, das „Esse“, ist die nicht-subsistierende Fülle und Vollkommenheit alles Wirklichen. Immer wieder zitiert von Balthasar den Satz, den Thomas im Anfangskapitel von De Potentia geschrieben hat: „Esse significat aliquid completum et simplex, sed non subsistens“26. In dieser Schlüsselaussage kommt verdichtet zum Tragen, was Thomas über die metaphysische Konstitution alles Endlichen und seiner Verwiesenheit auf Gott erkannt hat und was von Balthasar immer wieder in eigenen Aussagen nachvollzogen hat. So kann es einmal heißen:

„… weil das Esse nicht subsistiert, kann auch nicht gesagt werden, dass es selber die Naturen als ‚seine‘ Möglichkeiten aus sich entlässt; kommt es doch erst in ihnen zum ‚Stehen‘ und zur Subsistenz. Aus der Unendlichkeit des Möglichen, das am Seinsakt partizipieren kann, vermag nur der göttliche Intellekt die umrissenen Formen zu ‚erfinden‘ und zu setzen, auch wenn sie dem Akt nicht als Äußeres hinzugefügt, sondern sozusagen aus seiner (immer auch uneingeschränkten) Fülle herausgestanzt werden.“27

Ein anderes Werk, in dem Thomas seine entscheidende metaphysische Einsicht, entwickelt hat, ist sein „De ente et essentia“. Da finden sich beispielsweise solche Sätze:

„… essentia dicitur secundum quod per eam et in ea ens habet esse“.

„Omnis … essentia vel quiditas potest intelligi sine hoc quod aliquid intelligatur de esse suo; possum enim intelligere quid est homo vel Phoenix et tamen ignorare an esse habeat in rerum natura. Ergo patet quod esse est aliud ab essentia vel quiditate, nisi forte sit aliquid res, cuius quiditas sit ipsum suum esse; et haec res non potest esse nisi una et prima …“

„… relinquitur quod talis res, quae sit suum esse, non potest esse nisi una. Unde oportet quod in qualibet alia re praeter eam aliud sit esse suum et aliud quiditas vel natura seu forma sua.“

„… oportet quod omnis talis res, cuius esse est aliud quam natura sua habeat esse ab alio.“

In solchen Aussagen kommt zum Tragen, was Thomas von Aquin im Sinn hatte, wenn er über die Realdistinktion von Sein und Wesen, Esse und Essentia handelte. Sie ist konstitutiv für alles Endliche, das als solches und kraft dieser Realdistinktion auf Gott als seinen Ursprung verweist. Auf diese Art der Metaphysik als der Wissenschaft vom Sein des Seienden, wie sie in ihrer klarsten Weise bei Thomas von Aquin vorliegt, war von Balthasar immer aufmerksam, seitdem die Frage nach dem Sinn der ontologischen Differenz, angeregt durch Martin Heidegger, in ihm erwacht war. In späteren Jahren bestätigte sich ihm seine Sicht in Gesprächen mit Gustav Siewerth, der seinerseits solch eine Metaphysik entwickelt und in Büchern, die von Balthasar stärkste Anregungen gaben, niedergelegt hatte. Besonders wichtig waren für ihn Siewerths großes Buch „Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger“28 und dann auch die kleine Schrift „Das Sein als Gleichnis Gottes“29. Was Siewerth in seinen Schriften ausgeführt hat, hat die Reifegestalt der Auffassungen von Balthasars zur Metaphysik nachhaltig bestimmt. Der Band „Herrlichkeit“ III/1 wäre ohne die Anregungen, die von Balthasar in seinen Gesprächen mit Siewerth empfangen hat, so, wie er nun vorliegt, nicht zustande gekommen.

So kann man sagen: Von Balthasar erkannte in der Begegnung mit Heideggers Philosophie die Bedeutung der metaphysischen Frage nach dem Sein des Seienden. Wie für Heidegger, so wurde auch für von Balthasar die ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden zu einer bedeutsamen Grundannahme. Da, wo Heidegger diese ontologische Differenz in der Perspektive einer Philosophie der Endlichkeit deutet, antwortet von Balthasar mit einer Alternative, deren Kerneinsicht er von Thomas von Aquin übernehmen konnte. In der Entfaltung dieser Antwort auf Heidegger machte sich von Balthasar die Anregungen zunächst Erich Przywaras und dann Gustav Siewerths zunutze.

IV. Metaphysik unter dem Licht des Glaubens

Das Jahrzehnte währende Gespräch von Balthasars mit Heidegger erreichte seinen Höhepunkt und seine Endgestalt, als er nach den Konturen einer Metaphysik suchte, die das biblische Motiv der „Herrlichkeit“, der Doxa Gottes, zu tragen vermag.

Heidegger hatte in seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1929, der er die Überschrift „Was ist Metaphysik?“ gegeben hatte, als „Grundfrage der Metaphysik“ formuliert „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“30 Auch für von Balthasar ist diese Frage von grundlegender Bedeutung. Er ist nahe bei Heidegger, wenn er sie als „authentische metaphysische Frage“ und „Mitte“ aller „verschlungenen Geschichtswege abendländischer Metaphysik“31 bezeichnet. Dass etwas ist, ist das Wunder schlechthin, und der erste und wichtigste Akt des Menschen angesichts dieses Wunders ist das Sich-Wundern, das Staunen. Und jeder Entwurf einer Metaphysik hat sich schließlich daran messen zu lassen, ob sie zu sehen und zu sagen vermag, dass das Sich-Wundern und Staunen nicht nur der Anfang aller Begegnung mit dem, was ist, ist, sondern auch noch ihr unüberholbares Ende. Von Balthasars Gespräch mit Heidegger wird schließlich in die Feststellung einmünden, dass sich in dessen Metaphysikkonzept das anfängliche Staunen verbraucht.

„Die wahre Verwunderung, dass es etwas gibt und nicht lieber nichts, kommt bei Heidegger nicht zum Austrag, denn sie verweist auf eine Freiheit, die er nicht wahrhaben will.“32

Von Balthasar hält Heidegger entgegen, dass das Staunen nur dann nicht etwas nur Anfängliches und Vorläufiges ist, wenn das, was ist, als ein solches erfasst wird, das wesentlich auf einen transzendenten schöpferischen und freien Grund bezogen ist. Dies aber – so von Balthasar – stellt sich nur auf der Basis einer metaphysischen Sicht alles Endlichen ein, die um die ontologische Differenz von Sein und Seiendem einerseits und um seine Gegründetheit im transzendenten Gott andererseits weiß. Dass es zur Verwirklichung dessen kommt, was ist, geht zurück auf den freien schöpferischen Akt des transzendenten Grundes, in dem allein das Sein wesentlich subsistiert. Ob und wie dieser diesen Akt setzt, ist durch kein Gesetz vorherseh- und sagbar. So bleibt das Staunen aktuell, wenn und sofern es das, was ist, gibt. Weil – so von Balthasar – Heidegger das, was ist, nicht in seiner Bezogenheit auf seinen transzendenten Grund, Gott, denkt, muss er das Sein als in sich und aus sich subsistierend verstehen. Es entlässt aus sich das Seiende, um in ihm erscheinen zu können. In diesem Sinn ist das Sein auch auf das Seiende angewiesen. Das Seiende seinerseits ist nur, wenn es seine Wirklichkeit aus dem Sein empfangen hat. Wenn es das, was ist, wirklich gibt, so ereignet sich das Sein im Seienden nicht nur tatsächlich, sondern auch naturhaft notwendig. Angesichts der so verstandenen ontologischen Differenz wandelt sich das Staunen ins Begreifen: ja, was ist, hat so zu sein, wie es ist.

„Wo die immanente Seins-Analogie zwischen actus essendi und essentia sich nicht vertieft zur transzendenten Sein-Analogie zwischen Gott und Welt, hebt sie sich selber in Identität auf,…“33

In der Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik hatte Heidegger die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden thematisiert. Sofern die überlieferte Metaphysik diese Differenz nicht in ihren Blick genommen hat, sondern sich darauf begrenzt hat, auf das Seiende als das Seiende zu achten, gelte es nun, sie zu überwinden, damit sich so der Raum öffne, in dem das Sein selbst gedacht werden kann. Dies zu vermögen, sei des Menschen eigenste Möglichkeit. Er sei das „Dasein“. Er erfasse, dass das Sein sich in das Seiende hinein ereignet und das Seiende im Sein gründet. Im Sinne der Differenz zwischen ihnen kann die Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik bei Heidegger nur lauten: Es gibt Seiendes, weil das Sein sich ins Seiende hinein äußert und weil das Seiende dem Sein Gestalt gibt. In solch einer Aussage kommt die Größe Gott nicht zur Sprache. Das ist kein Zufall; Heidegger beabsichtigt, das Ereignis Sein-Seiendes nicht in einem Gott gründen zu lassen. Die gebräuchliche Rede von Gott im Sinne des überlieferten metaphysischen Denkens sei überholt. Das rechte Denken bedürfe ihrer nicht, wenn es das Sich-Ereignen des Seins im Seienden zur Sprache zu bringen trachte.

An dieser Stelle, so kann noch einmal im Sinne einer Zusammenfassung der schon mehrfach gemachten Andeutungen gesagt werden, meldet sich von Balthasar zu Wort. Seine Wortmeldung stammt aus einem Denken der Differenz und der Konkretion von Sein und Seiendem, das sich da, wo Heidegger endet, noch nicht beruhigt, sondern noch einmal aufmacht. Da zeigt sich ihm, dass das Sein von sich aus nicht subsistiert und also dann auch Seiendes nicht aus sich entlassen kann. Es vermöchte das Sein sonst nur kraft und dank des Seienden zu sein. Andererseits sah von Balthasar ein, dass umgekehrt das Seiende nur durch das Sein existent sein kann. Ohne dieses wäre und bliebe es bloße Form und Idee. Das Seiende aber schöpft das Sein nicht aus, und das Sein erschöpft sich nicht darin, dass es dem Seienden zur Existenz verhilft. All dies, so von Balthasar, ereignet sich nicht naturhaft; das Sein-Seiendes-Ereignis verweist vielmehr auf einen Grund, der aus Freiheit tätig ist und die Sein-Seiendes-Differenz in ihrer Konkretheit und Wirklichkeit gesetzt hat. Heidegger hat die ontologische Differenz von Sein und Seiendem mit Recht herausgestellt; aber er hat nicht erfasst oder er hat verdrängt, dass das Sein von sich her nicht subsistiert. Kommt es gleichwohl zu seiner Subsistenz und damit zum Sein des Seienden in dem, was wirklich ist, so ist dies gewollt und gewirkt durch den transzendenten Grund der Welt, das ist der freie und mächtige Gott. Wird dagegen mit diesem transzendenten Grund alles Wirklichen nicht gerechnet, so verbleibt alles letztlich im Bereich des Naturhaften. Das Sich-Wundern erschöpft sich, wenn das, was ist, nicht daraufhin wahrgenommen wird, dass es auf einen freien, ja göttlich personalen Grund seiner selbst verweist. Heidegger

„denkt zwar über Aristoteles hinaus die thomanische Differenz mit ihrem rational unergründlichen Geheimnis, und kann von hier aus sowohl den Griechen wie den Modernen Seinsvergessenheit vorwerfen; aber er denkt die Differenz nicht auf thomanische Art, nämlich als Anzeige der Kreatürlichkeit, christlich, deshalb fällt er aus der Differenz in eine … Identität zurück.“34

Von Balthasar hat seine Alternative zu Heidegger in vier Schritten entfaltet. Jeder dieser Schritte thematisiert eine Differenz, die sich dem unbefangenen und eindringlichen Blick zeigt. In einem zusammenfassenden Text stellt sich dies so dar: