Georg Langenhorst

Toter Dekan – guter Dekan

Mord in der Theologischen Fakultät

Kriminalroman

Georg Langenhorst

Toter Dekan – guter Dekan

Mord in der Theologischen Fakultät

Kriminalroman

Freundlich gewidmet den Kolleginnen und Kollegen an der Katholisch-Theologischen Fakultät Augsburg, die ganz anders sind als die im Folgenden Geschilderten. Nur deshalb konnte ich dieses Buch schreiben.

Überhaupt gilt: Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Folgende Personen treten auf

Bernd Kellert, Kriminalhauptkommissar

Beate Kellert, Ehefrau von Bernd Kellert, Steuerfachfrau

Dominik Thiele, Kriminalhauptmann

Maria Bächtle, Cousine und Haushälterin von Professor Gerstmaier

Dr. Reinhard Baumjohann, Professor für Moraltheologie

Dr. Elmar Maria Brandtstätter, Professor für Pastoraltheologie

Dr. Klauspeter Gehrke, Professor für Exegese des Alten Testaments und Hochschulpfarrer

Dr. Anton Gerstmaier, Professor für Kirchenrecht, Dekan

Silvia Hoberg, Dekanatssekretärin

Dr. Hermann-Josef Kösters, Professor für Exegese des Neuen Testaments, Prodekan

Dr. Klara Mechtersheim, Professorin für Religionspädagogik

Caroline Möckner, ehemalige Assistentin am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie

Dr. Dr. Michael Mühlsiepe, Professor für Dogmatik

Verena Obmöller, Theologiestudentin und Mitarbeiterin im Dekanat

Dr. Korbinian Reutter, ehemaliger Akademischer Rat am Lehrstuhl für Kirchenrecht

Dr. Winfried Schachner, Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik

Dr. Karlheinz Schulze-Vorrath, Professor für Fundamentaltheologie

Sebastian Tränkner, Theologiestudent und ehemaliger Mitarbeiter im Dekanat

und viele mehr

Vorspiel

Zeitenwende

„Sie? Um diese Uhrzeit?“ Dekan Gerstmaier blickte überrascht und misstrauisch den nur schwach beleuchteten Gang vor seiner Bürotür entlang. Er hatte das heftige Klopfen zunächst gar nicht gehört, so sehr war er in die Lektüre von Papieren auf seinem Schreibtisch vertieft gewesen. Die leise durch den Raum summende klassische Musik aus dem CD-Player hatte ihn zusätzlich ganz in eine zeit- und raumlose geistige Innenwelt versenkt. Mühsam, stirnrunzelnd, den Kopf ruckartig nach rechts und links schüttelnd hatte er sich in die Spätabendstimmung seines Dienstzimmers zurückgetastet. Und dann tatsächlich, ein Klopfen! Verwundert hatte er auf seine Armbanduhr geschaut – fast halb elf! Um diese Uhrzeit war er gewöhnlich der Einzige, der noch in diesem Gebäudetrakt der Universität arbeitete. Vor allem freitags war hier schon seit den frühen Nachmittagsstunden fast nichts mehr los. Nach kurzem Zögern hatte sich Gerstmaier mit mürrischer Miene dann doch zur Tür begeben.

„Nun gut, kommen Sie rein“, knurrte er nun, verzog das Gesicht zu einer schwer deutbaren Grimasse, hob aber doch einladend die linke Hand, drehte sich um und ging langsam zurück zu seinem Schreibtisch.

Es waren seine letzten Worte. Zweimal, dreimal ertönte ein gedämpftes „Plopp“. Getroffen von den Kugeln – eine im Rücken, zwei im Hinterkopf – kippte er lautlos nach vorn, streifte den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch mit der Schulter und fiel vornüber auf den abgetretenen dunkelblauen Teppichboden. Es blieb ihm nicht einmal Zeit für ein letztes Gebet. Professor Dr. Anton Gerstmaier, zweiundsechzig Jahre alt, Kirchenrechtler, Priester und päpstlicher Ehrenprälat, seit knapp drei Jahren Dekan der renommierten KatholischTheologischen Fakultät an der altehrwürdigen Gregor-Hu-bertini-Universität zu Friedensberg, war tot.

Dass sein Schreibtisch sorgsam untersucht, sein Büro gründlich durchforstet wurde, dass der anonyme, durch einen Handschuh nicht identifizierbare Zeigefinger den Druckknopf des CD-Players bediente und dadurch den Raum in plötzliche gespenstische Stille tauchte, dass einige schmale Mappen, Schnellhefter und andere zusammengeheftete Kopien in einer dunklen Aktentasche verschwanden, dass die Lichtschalter neben der Tür auf Aus gedreht wurden, dass sich die Tür behutsam schloss – all das ereignete sich in einer Zeit, die ihm selbst bereits vorenthalten war.

Montag, 10. Mai, vormittags

Lust und Last des Lebens einer Universitätssekretärin

Silvia Hoberg war gern Sekretärin. Als sie vor etwas mehr als dreißig Jahren – tatsächlich, so lange war das schon her! – ihre Arbeit an der Universität von Friedensberg begonnen hatte, war sie eher zufällig an der Katholisch-Theologischen Fakultät gelandet. Im Büro des damaligen Moraltheologen Professor Gerhard Füstner war eine Stelle als Sekretärin ausgeschrieben, und sie hatte sich – damals vierundzwanzig-jährig und fast noch Berufsanfängerin – beworben.

Sehr zu ihrer Überraschung hatte sie die Stelle bekommen, obwohl sie evangelisch war, und das auch eher aus Tradition denn aus Überzeugung. Vom ersten Tag, vom Bewerbungsgespräch an hatte sie sich mit ihrem Chef verstanden. Ohne große Anweisungen oder Absprachen hatte sie sich das Arbeitsfeld selbstständig erschlossen. Füstner war froh über die immer adrett gekleidete, eigenständige, selbstbewusste, stets loyale Mitarbeiterin, die ihm mehr und mehr den Rücken freihielt von unliebsamen Organisationsaufgaben. Und sie genoss die Möglichkeiten zur kreativen Gestaltung und eigenverantwortlichen Tätigkeit in einem angenehmen Arbeitsklima.

Insofern war es nur konsequent, dass er sie einige Jahre später fragte, ob sie die frei werdende Stelle als Dekanatssekretärin übernehmen wollte. Er war gerade zum Dekan ernannt worden und wusste, dass dieses Amt nur mit einer überaus zuverlässigen Mitarbeiterin bewältigt werden konnte. Silvia Hoberg war eigenständig und flexibel, zudem zeitlich verfügbar, weil unverheiratet und ungebunden.

„Der Richtige war eben nie dabei“, sagte sie stets, wenn sie auf dieses Thema in vertrautem Rahmen zu sprechen kam. Und manchmal fügte sie schmunzelnd hinzu: „Oder schon vergeben an Mutter Kirche …“ Insider wussten, dass ihr gerade Füstner nur zu gut gefallen hätte, aber die gesteckten Grenzen waren immer klar und von beiden weder thematisiert noch innerlich – geschweige denn äußerlich – eingerissen worden.

Inzwischen – nach mehr als zwanzig Jahren – hatte sie mehrere Dekane kommen und wieder gehen sehen. Hatte sich daran gewöhnt, mit ganz unterschiedlichen Charakteren und Arbeitsstilen zurechtzukommen. Und war mehr und mehr selbst zur eigentlichen Herrscherin der Fakultät geworden. Die gewählten Dekane brachten meistens wenige Kenntnisse mit, die man zur Leitung einer Fakultät benötigte. Sie verstanden sich als Wissenschaftler, die in ihrem jeweiligen Spezialfach Forschungen betrieben. Das war ihre Welt.

Manche gaben sich darüber hinaus Mühe, Dozenten im eigentlichen Sinne zu sein, Hochschulpädagogen, die ihr Wissen so gut wie möglich an ihre Studierenden weitergeben wollten. Was sie jedoch allesamt nicht waren: Verwaltungsexperten; Leiter von Großinstitutionen wie einer Fakultät. Das hatten sie nicht gelernt, das wollten sie auch gar nicht. Die Pflichten der universitären Selbstverwaltung nötigten ihnen das Amt freilich auf, ob von ihnen gewollt oder nicht, ob dazu befähigt oder nicht.

Fast alle waren heilfroh, wenn sie das Amt wieder los waren, im Normalfall nach zwei Jahren. Und dazwischen ließen sie die Dekanatssekretärin gewähren. Sie kannte die Strukturen, die wichtigen Mitarbeiter in Universitätsleitung, Verwaltung und Bistum, die Dienstabläufe, die Zeitvorgaben der immer wiederkehrenden Aufgaben eines Semesters.

„Hobi macht das schon“, so lautete ein geflügeltes Wort in der Fakultät. „Hobi“, ihr Spitzname, gefiel Silvia Hoberg eigentlich nicht. Aber inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Wie an so vieles. Doch trotz der Routine, die sich im Laufe der Jahre eingestellt hatte, trotz der Hektik im Dekanatsbüro, in dem sich Professoren, Mitarbeiter des akademischen Mittelbaus und Studierende buchstäblich die Klinke in die Hand gaben, alle mit einem wichtigen und eiligen Anliegen, trotz alldem ging sie fast jeden Morgen gern zur Arbeit. Irgendwie war sie auch mit allen Dekanen gut ausgekommen. Das lag wohl an ihrem einzigartigen Talent, sich auf ganz unterschiedliche Menschen gut einstellen zu können und trotzdem immer ganz und gar sie selbst zu sein. „Hobi“ eben.

Umso schwerer fiel es ihr zu akzeptieren, dass sie mit dem jetzigen Dekan, Professor Gerstmaier, beim besten Willen nicht klarkam. Es passte einfach nicht. Er hatte von vornherein ihre starke Stellung in der Fakultät zu untergraben versucht, hier kritisiert, dort eingeschränkt. Viele Prozesse liefen nun an ihr vorbei, andere musste sie Schritt für Schritt durch den Dekan absegnen lassen.

Sie hatte nun wirklich versucht, sich auf den neuen Chef einzustellen und trotzdem ihre Eigenständigkeiten zu bewahren. Umsonst. Menschliche Wärme wollte sich einfach nicht einstellen. Früher war das Dekanat ein Ort von Humor und Geselligkeit gewesen. Hier war Raum für private Sorgen und Freuden, hier wurde auch gelacht, gelästert, Neues ausgetauscht, Altes umgewälzt. Seit Gerstmaier die Fakultät leitete, gab es all das nicht mehr.

Silvia Hoberg hatte sich allmählich damit abgefunden und sich auf die routiniert beherrschten Arbeitsabläufe konzentriert. Ohne dass es je zu einem lauten Streit zwischen ihr und ihrem jetzigen Chef gekommen wäre, hatte sie sich in ihr eigenes inneres Reich zurückgezogen. „Sie kommen mir vor wie in einer Art inneren Emigration“, hatte Füstner, ihr alter Chef und bleibender Vertrauter, ihr einmal bei einer Tasse Kaffee in der Fakultätscafeteria sanft vorgeworfen.

„Stimmt schon, Chef“, hatte sie in alter Verbundenheit und Anrede zurückgegeben. „Aber auch dieses Dekanat geht vorbei, und mit Kösters“ – Hermann-Josef Kösters war der Professor für die Exegese des Neuen Testamentes, derzeit Prodekan und damit designierter Anwärter auf das nächste Dekansamt – „mit Kösters wird das schon wieder passen.“

Dann war aber alles anders gekommen. Gerstmaier hatte zur Überraschung aller für eine zweite Dekanatszeit kandidiert. Kösters, froh, sich weitere zwei Jahre nur der geliebten Forschung und der gewohnten Lehre widmen zu können, hatte den Vorschlag vehement unterstützt, wohl wissend, dass nicht alle in der Fakultät eine Fortsetzung des Dekanats Gerstmaier gutheißen würden.

Angesichts dieses einmütigen Vorschlags hatte der Fakultätsrat den einzigen Kandidaten Gerstmaier tatsächlich in geheimer Wahl wiedergewählt, auch wenn es anfangs beträchtliche Vorbehalte gegen eine zweite Amtszeit gegeben hatte. Letztlich wurde er jedoch mit erstaunlich deutlichem Ergebnis in seinem Amt bestätigt. Sichtlich verärgert hatte der Dekan die skeptischen bis kritischen Äußerungen im Vorfeld registriert.

Und seitdem regierte er die Fakultät mit eiserner Hand. Die ehemals kollegiale, konstruktiv-kooperative und leichte Stimmung im Kollegium war verschwunden. Jeder versuchte, sich nach bestem Vermögen auf seinen eigenen Bereich zu konzentrieren, dort gute Arbeit zu leisten und mit den Mitarbeitern am jeweiligen Lehrstuhl gut zurechtzukommen.

Dass Silvia Hoberg trotzdem weiterhin gern zur Arbeit ging, lag hauptsächlich an zwei Faktoren. Zum einen mochte sie den Trubel, die vielen unterschiedlichen Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Auf ihrem Schreibtisch stand immer eine Schale mit Süßigkeiten zur Selbstbedienung. In der Kaffeemaschine des Dekanats fand sich immer ein rettender Trank für Stressgeplagte, und wenn nötig, brühte sie auch einen Tee auf.

Der andere Grund für ihre – nach wie vor ungebrochene – Freude an der täglichen Arbeit war ihr guter Kontakt zu ‚ihren Studis‘. Jahr für Jahr wählten die Studierenden eine fünfköpfige Fachschaft. Das waren eigentlich immer besonders engagierte und eifrige Studentinnen und Studenten, die sich nicht nur für ihre eigenen Belange einsetzten, sondern auch das Wohl der ganzen Fakultät vor Augen hatten.

Silvia Hoberg hatte es sich angewöhnt, die ihr am besten geeigneten Fachschaftsvertreter zugleich als studentische Mitarbeiter für das Dekanat zu gewinnen. So ließen sich einerseits die Kommunikationswege zwischen Fakultätsleitung und Studentenschaft ganz eng verknüpfen, andererseits konnte sie auf verlässliche und einsatzfreudige ‚Hiwis‘ zurückgreifen.

Dass diese Regelung ihre eigene Machtposition zusätzlich stützte, war ihr wohl eher instinktiv bewusst, als dass sie dies strategisch einsetzte. Enttäuscht worden war sie von diesen studentischen Mitarbeitern fast nie. Im Gegenteil: Meistens duzte man sich schon nach wenigen Wochen. Und ihr, der alleinstehenden Vierundfünfzigjährigen, tat der intensive Austausch mit ‚ihren jungen Leuten‘ gut.

Als sie am zehnten Mai die Tür zu ihrem Sekretariat aufschloss, war sie gut gelaunt. Ein erholsames Wochenende lag hinter ihr. Sie hatte eine alte Schulfreundin in Freiburg besucht, der Austausch der Erinnerungen hatte einen Wärmestrom pulsieren lassen, den sie immer noch als angenehme Tiefenstimmung spürte. Der sonnige, warme, blau strahlende Maimorgen tat sein Übriges.

Sie war die zwei Kilometer von ihrer Wohnung an die Arbeitsstätte zu Fuß gegangen. Zwar hätte sie dabei lieber den Vögeln gelauscht, die sich in den zartgrün sprießenden Ästen des Stadtparks einander überbietende Melodien zuflöteten, aber sie mochte auch das tobende Lärmen der Kinder auf dem Weg zu ihren Schulen oder an den überfüllten Bushaltestellen. ‚Leben‘, dachte sie, ‚so muss es sein!‘

Silvia Hoberg hängte ihre Kostümjacke über den Schreibtischstuhl und öffnete das große Fenster so weit wie möglich, um die milde Frühlingsluft einzulassen. Ein frischer Blütenduft vertrieb binnen kurzer Zeit den leicht muffigen Bürodunst, der über das Wochenende Besitz von ihrem Raum ergriffen hatte. „Verena!“, rief sie durch die offene Tür zur anderen Seite des Flures hinüber. „Verena, bist du schon da?“

Eine Frage, auf die es wenn, dann nur die Antwort „ja“ geben konnte, aber diese Antwort blieb aus. Verena Obmöller, Studentin der katholischen Theologie und Germanistik für das Lehramt am Gymnasium im achten Semester, war schon seit mehr als zwei Jahren als studentische Hilfskraft im Dekanat beschäftigt. Sie war zur rechten Hand der Dekanatssekretärin geworden und trotz des Altersunterschieds fast so etwas wie eine Freundin. Montags war sie meistens als Erste im Dekanat und hatte dann bis mittags dort Dienst. Heute allerdings war sie ganz gegen ihre sonstige zuverlässige Art noch nicht erschienen.

„Morgen“, tönte eine hohe männliche Stimme durch die offene Tür, als die Sekretärin gerade dabei war, ihren Computer hochzufahren. Erschrocken zuckte sie zusammen, erblickte dann aber das vertraute Gesicht von Dr. Winfried Schachner, Assistent im Fachbereich Dogmatik. „Ist der Chef da?“, fragte er und wies mit dem Daumen der rechten Hand auf die Zimmertür direkt neben dem Dekanatssekretariat, eben auf das Dienstzimmer des Dekans. „Nein, der kommt doch montags immer erst gegen zehn“, erwiderte die Sekretärin, „kann ich ihm vielleicht etwas ausrichten?“

Sie kannte Dr. Schachner nicht besonders gut, er war erst vor eineinhalb Jahren von der Universität in Regensburg hierhergekommen, um sich in seinem Fach zu habilitieren. Wie etwa die Hälfte des wissenschaftlichen Personals an der Fakultät war auch er Kleriker und betreute zusätzlich zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit eine kleine Gemeinde am Rand von Friedensberg. Er konzentrierte sich wohl auf seine doppelte Arbeit als Seelsorger und Wissenschaftler, so dass ihm kaum Zeit blieb, um aktiv am Leben der Fakultät teilzunehmen.

Als einziger unter den Priestern an der Fakultät hatte der asketisch wirkende, schlanke, kleinwüchsige Mittdreißiger ständig den gestärkten weißen Priesterkragen umgelegt, neben dem Dekan natürlich, der auf derartige Äußerlichkeiten außerordentlich großen Wert legte. War das ein Zeichen einer eher konservativen Gesinnung? Nun antwortete er: „Nein danke, das erledige ich lieber selbst. Komme später noch einmal vorbei.“ Und schon war er wieder grußlos verschwunden.

Silvia Hoberg schüttelte noch unmerklich den Kopf, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch läutete. „Ja, hier Dekanat Katholische Theologie, Hoberg am Apparat“, meldete sie sich. Sie lauschte in den Hörer hinein. „Ach, Herr Professor Badstüber!“ – das war der Dekan der Juristischen Fakultät vom Gebäude direkt auf der anderen Seite der breiten Allee, an der das Fakultätsgebäude lag. „Nein, der ist noch nicht da!“, sagte sie dann und lauschte erneut. „Was, Sie haben sich verabredet?! Schon vor einer Viertelstunde! Das sieht dem Herrn Dekan aber gar nicht ähnlich, weil er doch immer so viel Wert auf Pünktlichkeit legt. Moment, ich sehe zur Sicherheit doch lieber einmal nach. Bleiben Sie am Apparat, bin sofort zurück!“

Sie nahm den Schlüsselbund, ging zur Tür des Dekanzimmers, klopfte zur Vorsicht dreimal, lauschte, drückte den Türgriff nach unten, fand die Tür zu ihrer Überraschung unverschlossen und trat dann vorsichtig ein. Das Nächste, was Professor Badstüber durch das Telefon hörte, war ein Schrei, wie er ihn noch nie gehört hatte und den er nie wieder vergessen sollte …

Montag, 10. Mai, abends

Von Katern und Pfaffen

„Da bist du ja endlich!“, begrüßte Beate Kellert ihren Mann. Sie saß auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer geräumigen Etagenwohnung, hatte ihre Hausschuhe abgestreift und die Füße auf das gläserne Tischchen gelegt. Unter dem Tisch lag eine gelbweiße Katze zusammengerollt auf dem Teppich. Auf den Hereintretenden reagierte das Tier nur mit einem leisen, schnurrenden Schnarchlaut. Anders die Hausherrin: Mit der Fernbedienung schaltete sie den Ton des vor ihr stehenden Fernsehers auf stumm, ließ das Bild aber weiterlaufen, drehte den Kopf auch kaum zur Seite und fragte eher aus Gewohnheit denn aus Neugier: „Wo warst du denn nur so lange?“

Bernd Kellert, mit seinen vierundvierzig Jahren bereits seit mehr als einem Jahrzehnt Kriminalhauptkommissar von Friedensberg, ging wortlos durch das Wohnzimmer zur sich direkt anschließenden offenen Küche, öffnete den Kühlschrank, nahm sich eine dort bereitliegende Flasche Bier, hebelte mit einem Feuerzeug in geübtem Griff den Kronkorken ab, kehrte zurück und ließ sich kraftlos auf den Sessel rechts neben dem Sofa niederfallen.

Friedensberg war seine Stadt. Hier war er geboren, hier hatte er Beate kennengelernt, die als Kind mit ihrer Familie hierhergezogen war. Abgesehen von der Ausbildungszeit in Nürnberg hatte er nie für länger in irgendeiner anderen Stadt gelebt. Das wollte er auch gar nicht. Friedensberg und Bernd Kellert – das passte!

„Mach mal aus!“, sagte er nun, trank einen langen Schluck und setzte die Flasche dann halbleer auf dem Glastischchen ab. Es gab ein kratzendes Geräusch. „Mensch, pass doch auf! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du einen Untersetzer nehmen sollst! Das ist Glas, kapierst du!“, fuhr ihn seine Frau an. Der Kater erwachte aus dem Schlaf, reckte seine krallenbesetzten Vorderpfoten, stand auf und machte einen Buckel.

Bernd Kellert war nicht nach Streit zumute, er holte sich einen bastgeflochtenen Untersetzer aus der mittleren Schublade des Wohnzimmerschranks. „Für dich auch?“, fragte er und blinzelte über seine Schulter zurück zu seiner Frau. „Danke, hab schon“, meinte diese und wies auf ein gut gefülltes Glas Rotwein in ihrer linken Hand. Während er den Untersetzer unter sein Glas schob, schaltete seine Frau tatsächlich den Fernseher mit der Fernbedienung aus. „Na komm schon, erzähl!“, forderte sie ihn auf. An seinem ganzen Verhalten hatte sie gemerkt, dass heute tatsächlich etwas Besonderes passiert sein musste.

„Du glaubst nicht, wo ich heute war“, begann er, trank noch einen Schluck und machte eine effektheischende Erzählpause. „Nun sag schon!“, drängte ihn seine Frau. „In der Uni“, gab er zurück, „aber wo da? Na? – In der Katholisch Theologischen Fakultät! Bei den Pfaffen!“ „Warte mal, ist das nicht in der Guardini-Allee?“, fragte seine Frau zurück. „Ja, genau da, dieser alte Bau mit dem schönen lauschigen Innenhof. Na, du weißt schon, ein paar Häuser weiter ist doch ‚Da Luigi‘.“

Beate Kellert war das edle italienische Restaurant wohlbekannt. Ab und zu gingen sie dort mit Freunden essen, das letzte Mal lag aber schon fast ein halbes Jahr zurück. Das Gebäude der Theologischen Fakultät, von außen ein strenger dreistöckiger Vierungsbau, der im Kern auf ein Jesuiteninternat aus dem 17. Jahrhundert zurückging, kannte sie ebenfalls, hatte ihm aber nie besondere Beachtung geschenkt. Warum auch? Aber was hatte Bernd Kellert ausgerechnet dort zu suchen? Kaum ein Gebäude, das weniger zu ihrem Ehemann, dem drahtigen, durchtrainierten, ein Meter zweiundachtzig großen Kommissar passen würde!

„Und, was hast du da gemacht?“, wollte sie wissen, nun wirklich neugierig geworden, während sie den Kater streichelte, der sich wieder zu ihren Füßen niedergelassen hatte und zufrieden schnurrte. „Da gab es einen Toten. Irgendjemand hat den Dekan, also den Chef da, umgebracht. Drei Schüsse, jeder für sich tödlich!“ Beate Kellert wirkte ratlos: „Wer macht denn so was? Wer bringt denn einen Professor um?“

„Der war nicht nur Professor, sondern auch Priester. Hatte auch noch als Toter diesen Kragen um den Hals. Noch als Leiche was Besonderes! Und wer den umgebracht hat, das möchte ich auch gern wissen. Nee, falsch, das muss ich sogar wissen. Ich habe den Fall übertragen bekommen. Aber“, er trank die Flasche leer, stand auf und ging zum Kühlschrank, um sich Nachschub zu besorgen, „das ist nicht so leicht. Wir haben erst mal keine Spur. Da gehen so viele Leute ein und aus. Das kann jeder gewesen sein.“

„Ist denn etwas gestohlen worden?“, wollte Beate Kellert wissen. „Nicht, soweit wir das bis jetzt feststellen konnten“, gab ihr Mann zurück und trat sanft nach dem Kater, der mit seinen Zehen spielen wollte. „Hau ab, du Vieh“, sagte er halb im Ernst, denn eigentlich mochte er keine Katzen. Aber wie so oft hatte seine Familie ihn bei der Anschaffung überstimmt.Ihre Tochter Jenny wollte halt als Zehnjährige unbedingt eine Katze. Um ihr den damaligen Schulwechsel zu erleichtern, hatte er zähneknirschend zugestimmt.

Inzwischen hatte sich Bernd Kellert an den Mitbewohner ganz gut gewöhnt. „Vieh“, nannte er den großen Kater meistens, aber natürlich hatte er auch einen richtigen Namen: ‚Barry‘. ‚Typisch‘, dachte er oft, ‚da schafft man sich so ein Vieh für die Kinder an und dann gehen sie. Was bleibt, ist das Vieh!‘

Für solche Gedanken war jetzt aber kein Platz. Kellert erzählte weiter: „In dem Büro, wo man ihn erschossen hat, war alles aufgeräumt. Geld oder Wertsachen gibt es dort sowieso nicht. Und auch die Computer waren alle noch an ihrem Platz. Aber wir überprüfen das noch. Die haben da eine ziemlich fitte Sekretärin, die kennt sich wohl am besten aus. Die hat ihn auch gefunden, steht aber noch unter Schock. Aus der war heute kaum etwas herauszubekommen.“

„Rrrunnter!“, brüllte er den Kater an, der auf die Sofalehne gesprungen und gerade dabei war, seine Krallen in den Stoffüberzug zu schlagen. Bernd Kellert nahm einen Teil des auf dem Tisch liegenden Friedensberger Anzeigers, rollte ihn zusammen und schlug nach dem Tier. „Runter!“

„Hey, lass Barry in Ruhe“, fuhr ihn seine Frau an, während das Tier langsam auf den Boden sprang, davor aber wie absichtlich noch einen kleinen Faden aus dem Bezug gerissen hatte. „Na, das kann ja eine nette Woche werden“, meinte Beate Kellert mit süßsäuerlichem Unterton. „Aber das bin ich ja gewohnt. Komm, ich massiere dir ein bisschen den Nacken, hm?“

Sie wusste, dass ihr Mann dabei am besten entspannen konnte. „Und, wie war dein Tag?“, fragte er, nachdem er Barry auf den Balkon gelassen hatte, von wo aus er die ganzeNachbarschaft unsicher machen konnte. Der Kater lebte mehr draußen als drinnen. Frech, klug und stark, wie er war, kontrollierte er das Tierleben der ganzen Nachbarschaft. Bernd Kellert setzte sich zu seiner Frau auf das Sofa, und beide wussten, dass er eine Antwort auf seine Frage gar nicht hören und sie auch gar keine geben wollte.

Dienstag, 11. Mai, vormittags

Ein Mord, viele Fragen

„Liebe Kolleginnen und Kollegen!“ Prodekan Hermann-Josef Kösters versuchte sich Gehör zu verschaffen. Nur langsam starb das aufgeregte Gemurmel und Getuschel um ihn herum ab. Mehr als fünfzehn Personen hatten sich im Beratungszimmer der Fakultät eingefunden. Unter den zumeist gestrengen Blicken der Porträts von ungezählten Dekanen der Fakultät, gemalt oder fotografiert jeweils zur Beendigung ihrer Amtszeit, hatten sie sich an die zu einem Rechteck zusammengestellten Tische gezwängt, verwickelt in hektische Gespräche.

Alle waren der Einladung zur außerplanmäßigen Sitzung gefolgt, die ihnen per Mail oder Anruf zugegangen war. Neben Kösters waren die verbliebenen zehn amtierenden Professoren erschienen, außerdem die Religionspädagogin Klara Mechtersheim als einzige Frau im Professorium, ferner drei Damen und zwei Herren aus dem Mittelbau, daneben – ungewohnt blass und mit noch immer verweinten Augen – Dekanatssekretärin Silvia Hoberg und, zur allgemeinen Überraschung, die Studentin Verena Obmöller.

„Nun kommen Sie doch bitte zur Ruhe!“, ermahnte Kösters die Anwesenden. „Bitte sehr: Kolleginnen und Kollegen!“ Er musste jetzt doch die Rolle spielen, die er sich so gern noch erspart hätte. Aber es half alles nichts, als Prodekan oblag ihm die Übernahme der Dienstgeschäfte und der Verantwortung.

Kösters hatte am Vorabend noch den seit drei Jahren emeritierten Altdekan Füstner – immer noch als graue Eminenz im Hintergrund des Fakultätslebens aktiv – angerufen und um Unterstützung gebeten. Aber der Ruheständler hatte nur gesagt: „Nein, das werden Sie selbst übernehmen müssen, Kösters. Tut mir leid – und: Kopf hoch!“ Nun lag es also an ihm, die Situation so gut wie möglich zu meistern. Es galt vor allem, die Form zu wahren.

„Liebe Kollegin“ – hierbei verbeugte er sich leicht zu Frau Mechtersheim – „liebe Kollegen. Sie wissen, warum ich Sie hierhergebeten habe. So unfassbar das für uns alle ist: Unser Dekan, Professor Anton Gerstmaier, ist ermordet worden. Ich habe Sie zusammengerufen, um Sie über den Stand der Dinge zu informieren und um über das weitere Vorgehen zu beraten.“

„Wann ist der Mord denn passiert?“, rief Professor Schulze-Vorrath dazwischen, ein absichtsvoll ungepflegt wirkender Mittfünfziger mit wirren grauen Haaren und Drei-, eher Fünftagebart. Schulze-Vorrath war Fundamentaltheologe, bildete sich auf seinen offen zur Schau getragenen Nonkonformismus etwas ein, war aber der deutschlandweit und auch international bekannteste Theologe seiner Fakultät. Er hatte mehrere erfolgreiche Bücher über den interreligiösen Dialog verfasst und war als Experte in diesem Bereich in Radio und Fernsehen ein viel gefragter Mann.

„Bitte lassen Sie mich in Ruhe berichten. Ich werde versuchen, alle Fragen zu beantworten, aber der Reihe nach!“ Kösters blickte – um Unterstützung bittend – in die Runde und hoffte, sein geplantes Vorgehen durchsetzen zu können. Zustimmendes Kopfnicken! „Genau“, stimmte ihm einer zu. „Ja, das ist besser“, ein anderer.

Schulze-Vorrath hatte nur wenige Freunde im Kollegium. Den einen gefiel seine selbstdarstellerische Art nicht, andere waren insgeheim neidisch auf seinen Erfolg, obwohl sie seine Bücher als populistisch abtaten und dagegen den wissenschaftlichen Ernst und Wert der wenigen eigenen Veröffentlichungen hervorhoben. Nun lehnte sich Schulze-Vorrath brummelnd zurück, kreuzte die Arme und wartete ab, was passieren würde.

„Danke!“ Kösters nickte in die Runde. „Ich schildere Ihnen nun, was wir bislang über den Verlauf des Geschehens wissen. Ein gewisser Hauptkommissar Kellert von der Kripo wird in – Moment“, er blickte auf seine Armbanduhr, „in einer Viertelstunde bei uns sein und uns befragen.“ „Wieso das denn?“, platzte Dr. Schachner, einer der anwesenden wissenschaftlichen Mitarbeiter, dazwischen, fing sich dafür aber nur einen tadelnden Blick von Kösters ein.

„Also, was ich von Kommissar Kellert weiß, ist Folgendes“, fuhr dieser unbeirrt fort: „Gerstmaier war wie jeden Freitag noch lange in seinem Büro. Es ist ja bekannt, dass er freitags oft noch lange hier im Haus ist. Frau Hoberg ging – wie immer – um ein Uhr nach Hause.“ „Stimmt nicht, ich war noch bis halb zwei da“, unterbrach diese ihn mit leiser, aber bestimmter Stimme. „Ich musste noch das Protokoll vom Fakultätsrat fertig tippen.“

„Gut, also bis halb zwei. Frau Obmöller hatte noch bis ungefähr um vier Uhr im Dekanatsbüro zu tun, stimmt’s?“ Er nickte der Studentin aufmunternd zu, die das Wort ergriff. Sie war eine gerade im Fachbereich Theologie auffallende Erscheinung. Lange schwarze Haare, dezent geschminkt, selbstbewusst gekleidet und – wie Kösters aus einem Seminar wusste – wissbegierig, fleißig, intelligent und redegewandt.

„Ja, ich war bis kurz nach vier hier“, bestätigte sie. „Ich musste die Einladungen für den Gastvortrag übernächste Woche fertig machen. Kurz bevor ich ging, schaute Gerstmaier, ich meine: der Herr Dekan, noch einmal herein. Er suchte etwas in den Ordnern, fand es aber wohl nicht. Mit mir hat er kein Wort geredet, aber das“ – sie blickte sich im Kreis Verständnis heischend um und ihr Blick blieb bei der Sekretärin haften – „das hat er eigentlich nie getan. War also nichts Besonderes.“

„Haben Sie sich noch von ihm verabschiedet?“, fragte unvermutet Professor Günter Brossl, ein junger Kirchengeschichtler, der erst vor einem halben Jahr an die Universität Friedensberg berufen worden war. Verena Obmöller schaute ihn kurz an und meinte dann: „Nee, das haben wir nie gemacht, das hätte ihn doch auch nur gestört!“

„In jedem Fall“, so ergriff Kösters nun wieder das Wort, „sind Sie damit die Letzte, die den Dekan noch lebend gesehen hat.“ „Bis auf den Mörder“, flüsterte die Religionspädagogin Klara Mechtersheim dazwischen, gerade laut genug, dass jeder es hören konnte. Erschrocken legte sie sich die Hand auf den Mund, zog den Kopf zwischen die Schultern und wurde rot.

Der Prodekan sprach ungerührt weiter: „Der Tod von Kollege Gerstmaier muss zwischen zehn und elf Uhr am gleichen Abend, also mindestens sechs Stunden später eingetreten sein. So lautet zumindest die Auskunft von der Gerichtsmedizin drüben in der Gmeinerstraße. Was Gerstmaier in dieser Zeit gemacht hat, ob er noch Termine hatte, ist noch nicht bekannt. Von hier aus telefoniert hat er nicht, zumindest nicht von den offiziellen Telefonen. Oder hat irgendjemand von Ihnen noch Kontakt zu ihm gehabt?“, fragte Kösters in die Runde.

Das hätte er besser nicht getan. Sofort erhob sich ein Getuschel und Gemaule, in dem man kaum das eigene Wort verstehen konnte: „Wieso Kontakt?“ „Ich war doch in Tübingen auf dem Ethikerkongress!“ „Freitags, dass ich nicht lache!“ „Mit dem spreche ich schon seit sieben Monaten nicht mehr!“ „Unverschämtheit!“ …

Kösters wollte gerade wieder um Aufmerksamkeit bitten, als ein lautes Klopfen an der Tür zu hören war. „Entschuldigung.“ Mit diesen Worten trat Sebastian Tränkner, seines Zeichens ausgebildeter Schreiner und nun fünfundzwanzigjähriger Student der Diplomtheologie, Mitglied der Fachschaft und studentischer Vertreter im Fakultätsrat, ein und wies einem energisch eintretenden Mann Anfang vierzig den Weg. „Hier ist der Herr Kommissar Kellert.“

‚Erstaunlich, wie folgsam der eben noch so wild durcheinanderredende Haufen plötzlich den Worten des Kommissars lauscht‘, dachte Kösters, froh, die Gesprächsführung an den Polizisten abgeben zu können. „Wir tappen noch völlig im Dunkeln“, sagte der, nachdem er sich am Kopfende des Tisches aufgebaut hatte. Die Anwesenden konnten es kaum spüren, aber Kellert war sich unsicherer als sonst. Wie geht man mit Professoren um? Wie redet man zu Priestern? Das war ein Gebiet, in dem er überhaupt keine Erfahrung hatte.

„Einfach so sein wie immer“, hatte ihn seine Frau Beate ermuntert. Er versuchte, ihren Ratschlag zu befolgen. „Bitte verstehen Sie, dass ich deshalb mit jedem von Ihnen sprechen muss.“ „Geh, sie verdächtigen doch nicht etwa uns?“, rief mit tief bellender Stimme und unverkennbar österreichischer Dialektfärbung Elmar Maria Brandtstätter, ein mindestens eins neunzig großer, rundgesichtiger Mann mit mächtigem Körper, der Pastoraltheologe der Fakultät.

„Nein, nein“, beschwichtigte Kellert und strich sich durch sein millimeterkurz geschnittenes blauschwarz schimmerndes Haar, „aber wir müssen alle relevanten Informationen zusammentragen. Ich bitte Sie um Verständnis und um Ihre Kooperation.“ „Selbstverständlich werden wir Ihnen in allem nach bestem Vermögen helfen“, versicherte Kösters, der sich nun aufgefordert sah einzugreifen, eilfertig.

„Wir alle haben das größte Interesse, dieses furchtbare Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Eine Bitte habe ich jedoch, Herr Kommissar: Wenn es geht, bitte ich Sie darum, den Studienbetrieb so wenig wie möglich mit den Ermittlungen zu belasten. Die Studierenden sind schon so total ausgelastet und ziemlich verstört.“ „Jep“, ließ sich Verena Obmöller vernehmen und Schulze-Vorrath ereiferte sich: „Mein Seminar gestern, das konnte ich völlig vergessen!“.

Kommissar Kellert blickte in die Runde und sagte dann: „Also versprechen kann ich nichts. Aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, damit Ihr Betrieb hier so normal wie möglich weitergehen kann.“ Dabei schlug er mit der rechten Hand einen großen Bogen. „Darf ich Sie nun bitten, mir einzeln einige Fragen zu beantworten? Können wir dazu vielleicht in Ihr Büro gehen?“, fragte er Kösters. „Das Dekanat wird ja noch vom Spurendienst untersucht.“

Bevor Kösters antworten konnte, wurde er von Frau Hoberg unterbrochen. „Entschuldigen Sie, Herr Kommissar!“, stammelte sie. „Kellert, bitte nennen Sie mich einfach Kellert“, sagte er in die Runde. „Was gibt es denn?“ „Mir ist noch etwas aufgefallen. Ich glaube, dass einige Akten fehlen. Bei mir im Büro, aber auch im Zimmer vom Chef, äh, vom Herrn Dekan. Ich weiß aber nicht genau, was. Er hat sich seine Unterlagen meistens selbst geholt und zusammengestellt, wissen Sie. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da einiges fehlt.“

Aufmerksam hatte Kellert zugehört und pfiff sich kaum hörbar durch die Zähne. Eine erste Spur! Niemand lässt grundlos Akten verschwinden! Das vergrößerte die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod des Dekans etwas mit seiner Arbeit hier an der Universität zu tun hatte. Womöglich war einer der Anwesenden in den Mord verstrickt. ‚Sei vorsichtig! Hör genau hin, auch auf die Zwischentöne! Stelle die richtigen Fragen! ‘, gab er sich mit auf den Weg.

„Danke, Frau, äh“ – „Hoberg“ – „Ja, danke für die Information, das ist sehr wichtig. Bitte versuchen Sie herauszufinden, was genau alles fehlt. Ich werde Mansfeld, meinen Kollegen von der Spurensicherung, gleich anweisen, dass er Sie in das Dekanszimmer hineinlässt und dort mit Ihnen auf die Suche geht. Wir aber“ – hier wandte er sich an die Übrigen – „sollten uns im Zimmer des Herrn Prodekan unterhalten. Kommen Sie bitte mit!“