Hans-Dieter Mutschler

Alles Materie

– oder was?

Das Verhältnis von

Naturwissenschaft

und Religion

Hans-Dieter Mutschler

Alles Materie

– oder was?

Das Verhältnis von

Naturwissenschaft

und Religion

echter

Inhalt

Einleitung

1.  Der kluge und der primitive Materialismus

a.  Der kluge Materialismus

b.  Der primitive Materialismus

2.  Ist der Mensch ein Produkt der Evolution?

3.  Die Leib-Seele-Debatte

a.  Die falsche Alternative

b.  Peter Bieris drei Prinzipien

c.  Die Frage nach den Erlebnisqualitäten

d.  Das Gehirn als Beziehungsorgan

4.  Die drei Dogmen des Materialismus

a.  Das materielle Fundament

b.  Das Supervenienzprinzip und die Statik des Universums

c.  Die kausale Geschlossenheit der Welt und ihre Dynamik

5.  Essentialismus und die Aufhebung der Moral

a.  Die Trennung von Theorie und Praxis

b.  Technologische Barbarei

c.  Die Alternative

6.  Praktischer und theoretischer Materialismus

a.  Subjekt und Objekt

b.  Eine andere Sichtweise: das Mittelalter

c.  Das Habenwollen und die Wissenschaft

7.  Glaube und Wissenschaft

a.  Es gibt kein richtiges Leben im falschen

b.  Sozialkritik und das Vertrauen ins Sein

c.  Der naturalisierte Glaube

d.  Die Architektur als Symbol

e.  Mutige Theologen

8.  Theologie der Natur

a.  Das faktisch- und das normativ-Allgemeine

b.  Der unendlich große Kosmos der Physik Quantität und Qualität

c.  Das Leiden in der Natur Zufall und Zweckmäßigkeit

d.  Verlust und Bedeutung des Symbolischen

e.  Der „overview effect“ und das Unverfügbare im Verfügbaren

Literatur

Einleitung

Vor 200 Jahren war in Deutschland der Hegelianismus Mode. Wer etwas war, war Hegelianer. Die Hegel’sche Philosophie steht am Ende einer Entwicklung, die mit Kant beginnt und über Fichte und Schelling zu ihrem Höhepunkt führt, als den sich Hegel ganz eindeutig sah. Er fühlte sich aber nicht nur als Höhepunkt der Philosophiegeschichte (was arrogant genug gewesen wäre), sondern zugleich als der Höhepunkt der gesamten Kulturgeschichte seit über 5000 Jahren. Goethe hat sich in seinem „Faust“ über diese Wichtigtuerei lächerlich gemacht, aber wer etwas auf sich hielt, war vor 200 Jahren dennoch Hegelianer.

50 Jahre später war der ganze Spuk verflogen. Die völlig überhöhten Geltungsansprüche der Deutschen Idealisten hatten sich als illusorisch erwiesen. Das änderte aber nichts daran, dass man sich in Deutschland weiterhin als Spitze der kulturellen Entwicklung sah, wenn auch aus anderen Gründen. Die Deutschen hatten – so ihre schmeichelhafte Selbstdeutung – die beste Technik, die beste Naturwissenschaft, das schlagkräftigste Militär und die besten Waffen. Im Ersten Weltkrieg zerstob diese Illusion deutscher Überlegenheit, auch wenn man es nicht so recht wahrhaben wollte und sich eine ‚Dolchstoßlegende‘ zurechtphantasierte.

Hier legt sich der Verdacht nahe, dass es so etwas wie eine ‚kollektive Egozentrik‘ gibt, d. h., das Kollektiv hat Neigung, sich prinzipiell überlegen zu fühlen, und zwar nicht nur anderen gesellschaftlichen Gruppierungen oder Nationen gegenüber, sondern auch bezüglich der gesamten Vergangenheit. Wir lieben es, vom hohen Ross herabzuschauen, und das war wohl schon immer so. Die Griechen nannten alle Menschen, deren Sprache sie nicht verstanden, ‚Barbaren‘, was lautmalerisch so viel heißt wie ‚Blabla‘. Wer kein Griechisch verstand, war allein aus diesem Grunde ein Barbar.

Es spricht nichts dafür, dass wir diese kollektive Egozentrik inzwischen abgelegt hätten. Sie wandelt höchstens ihre Gestalt. Heute sind wir zumeist der Meinung, dass unsere Höchstleistungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Technik eine Stufe der Kultur repräsentieren, verglichen mit der alle vergangenen Kulturen in Mythos, Mystik und Aberglauben versinken. Im Mittelalter glaubte man an Gott, Hexen, Engel und Teufel, fiktive Wesen, die vor dem Licht der wissenschaftlichen Aufklärung ins Nichts verschwinden. Stattdessen reden wir uns ein, realistisch zu sein und nichts als realistisch. Nach unserer Überzeugung besteht die Welt aus Atomen und alle höheren Formen sind nichts als die Zusammenballung solcher Atome und wenn wir ihre Bindungsgesetze genau genug kennen würden, könnten wir z. B. aus den Zuständen der Atome in unserem Gehirn ableiten, was wir denken, fühlen oder wollen. Der Geist würde sich als ein Sekundärphänomen der feuernden Neuronen im Gehirn erweisen.

So wie der Dampf über einem sonnenbeschienenen Gewässer keine Substanz eigenen Rechtes ist, so ist der menschliche Geist nach dieser Auffassung nichts als eine Ausdünstung des Gehirns, die wir bald mathematisch berechnen können, und wo der menschliche Geist als eine eigenständige Größe verschwindet, brauchen wir von Gott erst gar nicht mehr zu reden. Gott degeneriert in dieser Sichtweise zu einem Placeboeffekt der Evolution, eine nützliche Illusion im Kampf ums Überleben, d. h., wer heute noch ernstlich am Glauben festhält, tut dies wider besseres Wissen.

Eine solche Art der ‚wissenschaftlichen‘ Aufklärung dominiert heute in Intellektuellenkreisen, und derjenige, der sie sich zu eigen macht, fühlt sich haushoch überlegen über jeden traditionellen Humanismus, vor allen Dingen aber über die Religion. So gesehen, ist der gläubige Mensch im Mittelalter stehen geblieben, und die Humanisten sind kulturkonservativ zu spät Gekommene, die an ihren Überzeugungen festhalten wie jemand, der die geschnitzte Kuckucksuhr seines Großvaters an der Wand hängen lässt, auch wenn sie nicht mehr zu seinen Möbeln passt.

Es wird sich aber im Folgenden zeigen, dass der Materialismus keineswegs aus der Naturwissenschaft folgt, und es wird sich weiter zeigen, dass er keinerlei Gründe hat, sich das gute Gewissen der Aufklärung zu machen. Es handelt sich vielmehr um eine dieser Formen kollektiver Egozentrik, die es in der Geschichte schon so oft gegeben hat.

Vor 30 oder 40 Jahren war unter Intellektuellen der Neomarxismus Mode. Man schwadronierte ständig von den „sozioökonomischen Bedingungen“ und weil alles, was es gibt, sozial und ökonomisch bedingt ist, konnte man auch zu allem etwas sagen und musste niemals fürchten, widerlegt zu werden. Diejenigen, die diese Rede im Munde führten, fühlten sich ebenfalls allem „bürgerlichen Denken“ – wie sie es nannten – haushoch überlegen und pflegten ihr moralisch-intellektuelles Überlegenheitsgefühl als einen Sonderfall kollektiver Egozentrik.

All das ist nun Geschichte. Diejenigen, die seinerzeit den Neomarxismus vertraten, leben immer noch unter uns, aber sie trauen sich nicht mehr aus ihren Löchern hervor, weil sie nur im Kollektiv stark waren. Diese kollektive Egozentrik braucht die Stallwärme Gleichgesinnter, da sie nicht auf persönlicher Überzeugung beruht, sondern auf der Selbstbestätigung durch das Rudel. Aus diesem Grunde erheben die Neomarxisten auch dann nicht ihre Stimme, wenn die Ereignisse danach schreien. Die Bankenkrise von 2007 lief in vieler Hinsicht nach Schemata ab, die Marx vor 150 Jahren prophezeit hatte. Aber die Alt-68er schwiegen beharrlich. Es hätte Mutes bedurft, jetzt aufzustehen, aber sie fühlten sich offenbar nur im Kollektiv wohl, das sich inzwischen aufgelöst hatte.

Vor einem Jahr schrieb der Philosoph und ebenfalls Alt-68er Johannes Rohbeck ein neues Buch über Karl Marx. Dazu gehört heute Mut. Rohbeck ist durchaus kritisch in Bezug auf seinen Meister, dem er in vielem nicht mehr folgt. Aber Rohbeck vertritt die These, dass man gerade heute wieder an bestimmte Aspekte der Marx’schen Lehre anknüpfen sollte. Recht hat er. Aber eine kollektive Befindlichkeit steht dem im Wege. Wir heulen heute mit ganz anderen Wölfen.

Ich möchte also im Folgenden den materialistischen Zeitgeist kritisieren, der heute zur Norm wurde, als eine Form der kollektiven Egozentrik, erfunden zum Zwecke des Überlegenheitsgefühls. Dabei ist es aber nützlich, sich über gesamtgesellschaftliche Hintergründe zu verständigen, die diesen Materialismus überhaupt erst möglich gemacht haben.

Es scheint, dass wir zwischen einem praktischen und einem theoretischen Materialismus unterscheiden sollten. Der praktische Materialismus hält alles für real und nützlich, was ihm die Sinne darbieten. Er ist die Ideologie der Konsumgesellschaft. Die Konsumgesellschaft beruht auf der illusorischen, aber nichtsdestoweniger tief gegründeten Überzeugung, dass die Befriedigung der Sinne den Sinn Lebens garantiert. Glück und Konsum gehen in dieselbe Richtung. Es gibt allerdings Umfragen, wonach die Menschen in Bangladesh oder Butan am glücklichsten sind, obwohl es sich um die ärmsten Länder auf der Welt handelt. Das hindert aber nicht, dass wir an der Illusion festhalten, Konsum oder allgemein die Sinnenlust mache uns glücklich, und eine allgegenwärtige Werbung hämmert uns diesen Unsinn ständig ein, damit wir ja nicht auf die Idee kommen, zu zweifeln. Werbung ist das nie endende Mantra der Konsumgesellschaft.

Der theoretische Materialismus hat mit diesem praktischen eigentlich nichts zu tun. Er beruht auf der Überzeugung, dass alles, was es auf der Welt gibt, mit Hilfe der Naturwissenschaft erklärt werden kann, und weil sich die Naturwissenschaft auf die Materie bezieht, scheint damit eine materialistische Position begründet. Weil dieser theoretische Materialismus an sich nichts mit dem praktischen zu tun hat, kann man den einen auch ohne den anderen haben, und so war das oft in der Vergangenheit.

Der Marxismus war praktischer Materialismus, denn die Marxisten glaubten gerade nicht, dass sich alles auf der Welt naturwissenschaftlich erklären ließe. Sie nannten diese Position herablassend „mechanistischen Materialismus“ und hielten sie für eine „bürgerliche“ Erfindung. Sie hingegen glaubten an die Dialektik, als eine höhere Logik, die Hegel erfunden und Marx auf die Füße gestellt habe. Die Marxisten waren also keinesfalls Szientisten. Ihr Materialismus war von praktischer Natur.

Umgekehrt muss der theoretische Materialist nicht auch ein praktischer sein. Man kann ohne Weiteres glauben, dass die Naturwissenschaft alles erklärt, was es auf der Welt gibt, zugleich aber seine Wissenschaft geradezu asketisch betreiben. Der theoretische Materialist muss keinesfalls von der Art sein, dass er ständig nur seine Sinnenlust maximiert. Beides hat erst einmal nicht viel miteinander zu tun, und deshalb gibt es viele Naturwissenschaftler, die in ihrem praktischen Verhalten sehr idealistisch sind, die aber mit Gott nichts zu tun haben wollen.

Gleichwohl gibt es hier eine gewisse Affinität: Wenn in einer Gesellschaft die Überzeugung vorherrschend ist, real sei nur, was uns die Sinne darbieten, dann ist in einer solchen Gesellschaft der Boden dafür bereitet, auch nur das für real zu halten, was wir messen und wägen können und was in eine mathematische Formel hineinpasst. Von daher gibt es eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen theoretischem und praktischem Materialismus. Wir werden diese Wahlverwandtschaft am Ende des Buches näher darstellen.

Die vorliegende Untersuchung handelt aber zunächst einmal vom theoretischen Materialismus. Es geht um eine Kritik der Ideologie, wonach alles im Universum nur eine Zusammenballung von Atomen sei und wonach wir über alles hinreichend Bescheid wüssten, wenn wir diese Zusammenballung verstanden hätten. In Wahrheit lässt sich die Welt nicht allein ‚von unten her‘ begreifen. Es ist wohl wahr, dass die Materie alles trägt, aber sie bestimmt deshalb noch längst nicht alle höheren Inhalte. Dies dennoch anzunehmen wäre ungefähr so, als würden wir glauben, dass der Sockel die Statue festlegt. Zwar fällt die Statue ohne den Sockel um, aber ein und derselbe Sockel trägt ganz verschiedene Statuen. Der Sockel ist nur die Möglichkeitsbedingung der Statue. Er bestimmt nicht ihren Inhalt und ihre konkrete Gestalt. So wären auch wir nichts ohne Materie, aber die Materie legt unseren Geist nicht in jeder Hinsicht fest. Der Geist hat seine eigenen Freiheitsgrade.

Verständlich werden uns die Weltphänomene erst, wenn wir beides, Geist und Materie, ganz ernst nehmen. Aristoteles war der Meinung, dass sich Geist und Materie auf verschiedenen Niveaus durchdringen und dass wir ein adäquates Weltverständnis erst erlangen, wenn wir das Zusammenspiel dieser beiden gegensätzlichen Komponenten, also von Geist und Materie, richtig erfasst haben. Wir könnten daher sagen: Aristoteles betrachtete die Welt insgesamt wie einen psychosomatischen Zusammenhang.

So wie wir den Menschen nicht hinreichend verstehen können, wenn wir nur seine körperlichen Funktionen berücksichtigen, so hat alles in der Welt eine Art von psychosomatischem Zusammenhang, der uns erst die Phänomene in ihrer Ganzheit begreiflich macht. Diesen Gedankengang werden wir nach und nach im Sinn einer Alternative zum heute herrschenden Materialismus entfalten. Es genügt ja nicht, den Materialismus argumentativ zurückzuweisen. Wir möchten auch gerne wissen, was an seine Stelle treten könnte.

Übrigens werden wir uns zumeist nicht dem heute herrschenden Sprachgebrauch anschließen, wonach wir nicht mehr von ‚Materialismus‘ reden sollten, sondern von ‚Physikalismus‘ oder von ‚Naturalismus‘. Der Grund liegt darin, dass es im 18. Jahrhundert einen Klötzchenmaterialismus gab, der sich parasitär an die Newton’sche Physik angehängt hatte. Newton selbst war absolut kein Materialist, aber besonders in Frankreich wurde seine Physik materialistisch gedeutet, indem man unterstellte, das eigentlich Reale seien kleine Materieklötzchen. Als dann im 20. Jahrhundert die Quantentheorie entdeckt wurde, war diese Vorstellung unhaltbar geworden und man sagte sich: Egal, was die Physik an materiellen Bausteinen zutage fördert, das, was sie entdeckt, nennen wir nun ‚das Reale‘, mögen es Punktmassen, Elementarteilchen, Quarks oder Superstrings sein. Man tauschte also das Etikett aus und nannte den Materialismus nun vornehmer ‚Physikalismus‘. Andere wiederum grenzen ihre Weltanschauung gegen das Übernatürliche ab und behaupten, dass es nur die Natur gibt, wie sie durch die physikalischen Gesetze beschrieben wird. Daher der Begriff des ‚Naturalismus‘. Aber ontologisch gesehen, handelt es sich in jedem Fall um ein und dasselbe, nämlich um einen weltanschaulichen Materialismus, weshalb wir es bei diesem Wort belassen sollten.

Es geht hier also um eine Kritik der Auffassung, wonach die Welt nicht nur aus Atomen, Elementarteilchen oder meinetwegen Superstrings besteht, sondern wonach diese materiellen Partikel alles Übrige bestimmen und auf diese Art den traditionellen Geist und damit auch gleich noch den lieben Gott überflüssig machen. Diese sehr verbreitete Auffassung wird sich als haltlos, als ideologisch verbrämt herausstellen, und wir werden deshalb nach einer Alternative fragen müssen.