GÜNTER HUTH

Die Spur des Wolfes

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Er war von Beruf Rechtspfleger (Fachjurist), ist verheiratet und hat drei Kinder. Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt und in diesem Zusammenhang einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. »Der Schoppenfetzer« war geboren. Diese Reihe hat sich mittlerweile als erfolgreiche Serie in Mainfranken und zwischenzeitlich auch im außerbayerischen »Ausland« etabliert. 2013 ist der erste Band der Simon-Kerner-Reihe mit dem Titel »Blutiger Spessart« erschienen. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung »Das Syndikat«. Seit 2013 widmet er sich beruflich dem Schreiben.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

GÜNTER HUTH

Die Spur
des Wolfes

Im Spessart lauert der Tod

Ein Simon Kerner Thriller

echter

Mainfranken Krimi

Prolog

Heute

Die elf Menschen lagerten schon seit zwei Stunden gut versteckt in einem größeren Feldgehölz nahe der deutsch-österreichischen Grenze. Stark gezeichnet von einer monatelangen Flucht, ausgemergelt und erschöpft lagen sie auf dem Boden und nutzten die Zeit, um Kraft zu sammeln. Hohläugig starrten sie stoisch vor sich hin und warteten darauf, dass die Zeit verging. Im Ausharren waren sie geübt. Ihr weniges Gepäck lag neben ihnen im Gras. Ihre Kleidung trugen sie seit Wochen und sie waren sich bewusst, dass sie schlecht rochen. Ein Umstand, der den meisten von ihnen, die überwiegend aus geordneten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen stammten, sehr unangenehm war.

Der Schlepper, ein Österreicher mittleren Alters, saß etwas abseits und beobachtete nervös die Gruppe, die aus fünf Männern, zwei Frauen und drei Kindern bestand. Vor einer Stunde hatte er ihnen in gebrochenem Englisch erklärt, dass die letzte Strecke bis zur Grenze noch einmal zweihundert Euro pro Person kosten würde. Diese Forderung löste bei den geschundenen Menschen Ärger und Wut aus. Sie hatten bereits vor Antritt der Reise durch Österreich eine nennenswerte Summe an die Organisation geleistet. Von weiteren Kosten waren sie nicht ausgegangen. Sie wussten nicht, dass dies das private Zusatzgeschäft des Schleusers war, das dieser an der Organisation vorbei tätigte. Nach kurzer emotionaler Aufwallung resignierten die Flüchtlinge und zahlten.

Eines der Kinder, ein etwa drei Monate alter Säugling, war anscheinend krank. Er wimmerte leise und seiner Mutter gelang es kaum, ihn zu beruhigen. Immer wieder legte sie ihn an die Brust, aber anscheinend war seine Nase so verstopft, dass er nicht richtig trinken konnte. Sein ständiges leises Weinen bedeutete eine permanente Gefahr, da in diesem grenznahen Gebiet durchaus Menschen unterwegs waren. Im Augenblick konnten sie nicht weiter. Sie mussten hier noch so lange ausharren, bis die Dämmerung ihnen beim Weitermarsch mehr Schutz geben würde. Zur Grenze waren es noch fast zwei Kilometer, wie ihr Führer ihnen verständlich machte. Der Weg führte teilweise über offenes Ackerland und war der kritischste Teil so kurz vor dem Ziel ihrer Flucht. Seit Wochen waren die Streifen der deutschen Bundespolizei entlang der ganzen grünen Grenze massiv verstärkt worden. Allerdings, und darauf baute ihr Führer, war eine lückenlose Sicherung der Grenze zwischen Österreich und Bayern unmöglich. Dazu war sie viel zu lang und das Gelände zu unterschiedlich strukturiert. Ein großes Risiko würde der Schleuser nicht eingehen. Er wohnte in der Grenzregion und kannte sich aus. Die Flüchtlingsströme der letzten Monate erschlossen ihm und anderen Privatpersonen, die sich von der Organisation bezahlen ließen, eine kräftig sprudelnde Einkommensquelle. Hinzu kamen die ganz speziellen Nebeneinnahmen.

Vor Monaten hatten sich diese Menschen aus dem Lager Yibo, in der Provinz Hatay, im türkischen Grenzgebiet zu Syrien, auf dem Weg gemacht. Über die Balkanroute waren sie mit Hilfe von verschiedenen Schleusern über die grüne Grenze nach Österreich gelangt und hatten sich vor zwei Tagen mit Hilfe ihres jetzigen Führers auf die letzte Strecke ihres Wegs nach Deutschland gemacht.

Jeder von ihnen hatte seine eigenen Gründe, weswegen er sich beim Grenzübertritt nicht registrieren lassen wollte. Über die sozialen Netzwerke, auf die sie mit ihren Smartphones Zugriff hatten, hatten sie erfahren, dass ihnen die Behörden in Bayern Bargeld und Wertsachen, die eine bestimmte Summe überschritten, abnehmen würden. Etwas, das sie nicht hinnehmen wollten, da ihnen dadurch die Basis ihrer neuen Existenz geraubt wurde.

Der Österreicher gab einen zischenden Laut von sich und legte den Finger auf den Mund. Die Menschen lauschten. In der Ferne hörten sie das lauter werdende Geräusch eines Dieselmotors. Wenig später näherte sich ihnen ein Traktor. Der Fahrer befuhr den Betonweg, der einige Meter an ihrem Versteck vorbeiführte. Der Schleuser machte ihnen Zeichen und sie legten sich ins Gras. Der Rand des Feldgehölzes war von blickdichten Büschen bewachsen, so dass sie gute Chancen hatten, unbemerkt zu bleiben. So war es auch. Der Traktor tuckerte vorbei und war eine Minute später außer Sichtweite. Erleichtert standen sie wieder auf.

Ahmad, einer der Flüchtlinge, ein gebürtiger Iraker, kam jetzt aus Syrien und besaß auch einen syrischen Pass. Diese Papiere waren jedoch gefälscht. Ausgestellt von einer terroristischen Organisation. Er reiste nicht alleine. Begleitet wurde er von dem Syrer Mohammed, dessen Ausweispapiere echt waren. Beide Männer hatten die gleichen Motive für die Flucht, die von denen der übrigen Schicksalsgenossen maßgeblich abwichen. Den beiden war es bisher gelungen, ihre Zusammengehörigkeit zu verschleiern. Ebenso die Tatsache, dass sie die deutsche Sprache weitgehend beherrschten. Besonders wegen dieser Fähigkeit waren sie für diese Reise ausgewählt worden.

Nach Einbruch der Dämmerung machte der Schleuser einige Schritte zur Seite, zog ein Mobiltelefon hervor und führte ein Telefonat. Ahmad und Mohammed hatten trotz des österreichischen Slangs jedes Wort verstanden, da sich der Mann keine große Mühe gab, leise zu sprechen, weil er davon ausging, niemand würde ihn verstehen. So erfuhren die beiden Männer, dass sie ihr Führer in der Nähe der Grenze bei Passau, aber noch auf österreichischer Seite, ihrem Schicksal überlassen würde. Er wollte sich nicht dem Risiko aussetzen, in die Fänge der deutschen Bundespolizei zu geraten. Sein Geld hatte er ja bekommen. In dem Telefonat vereinbarte er mit dem Gesprächspartner einen Treffpunkt, an dem ihn derjenige abholen sollte.

Anschließend forderte er die Flüchtlinge nachdrücklich zum Aufbruch auf.

„Verdammter ungläubiger Teufel“, flüsterte Ahmad seinem Partner auf Arabisch zu. Mohammed wusste, was das bedeutete.

Im Gänsemarsch folgten die Flüchtlinge dem Schleuser. Der hetzte die Gruppe über die freie Fläche. Alle atmeten auf, als sie zwanzig Minuten später in den nächsten Wald eintauchen konnten. Das Baby verhielt sich jetzt erstaunlich ruhig, anscheinend war es vor Erschöpfung eingeschlafen.

Wortlos marschierten sie eine Weile auf einem Forstweg, bis schließlich der Schleuser die Hand hob und ihnen im Flüsterton verständlich machte, dass sie soeben die Grenze nach Deutschland überschritten hätten. Ein befreites Raunen ging durch die Gruppe. Teilweise fielen sie sich in die Arme. Während dieser kurzen Phase des Glücks verschwand der Österreicher in der Nacht. Die Menschen waren zunächst etwas verwirrt, entschlossen sich dann aber, dem Rat des Schleusers zu folgen und in die angegebene Richtung weiterzulaufen. Wenn sie die Nacht durchmarschierten, befanden sie sich so tief in Bayern, dass sie sich einigermaßen sicher fühlen konnten.

Ahmad und Mohammed ließen sich Stück für Stück bis ans Ende der Marschformation zurückfallen. Irgendwann blieben sie stehen, während die anderen weiterhasteten. Ihre Mission hinderte sie daran, die Flüchtlinge zu warnen. Kam die Gruppe ungeschoren über die Grenze, war alles gut. Sollten sie jedoch von der Bundespolizei aufgegriffen werden, waren die Ordnungshüter so beschäftigt, dass sie beide unbemerkt durch die Grenze schlüpfen konnten.

Die beiden Männer blieben im Wald stehen und warteten. Plötzlich drang greller Lichtschein durch die Bäume. Er kam von der Stelle, wo sich die Flüchtlinge jetzt in etwa befinden mussten. Eine laute Mikrofonstimme forderte die Menschen in deutscher, englischer und arabischer Sprache auf, stehen zu bleiben. Jetzt erst hatten die Flüchtlinge die Grenze erreicht und waren prompt von der Bundespolizei entdeckt worden.

Ahmad war klar, dass die Festnahme einige Zeit in Anspruch nehmen würde. So lange mussten sie warten, da sie auf keinen Fall festgenommen werden durften. Er machte Mohammed ein Zeichen und flüsterte ihm etwas zu. Der nickte. Daraufhin drehten sie sich um und folgten dem Weg im flotten Trab zurück. Es dauerte nicht lange, dann sahen sie die geduckte Gestalt des Schleusers im Mondlicht vor sich, der eilig über das offene Ackerland davonhastete. Schnell holten sie ihn ein. Da ihre Schritte auf dem weichen Ackerboden kaum zu hören waren, konnten sie den Mann völlig überraschen. Als er sie erkannte, erschrak er sehr und wollte davonlaufen. Ahmad packte ihn von hinten am Jackenkragen und zerrte ihn herum.

„Du bist ein elendes Schwein“, sagte er ruhig auf Deutsch. „Du hast unser Geld genommen, um uns dann der Polizei auszuliefern. Allah wird dich strafen!“

Der Mann stammelte etwas, wurde aber jäh unterbrochen. Der harte Karateschlag gegen den Kehlkopf kam schnell und überraschend. Würgend brach er auf dem Feldweg zusammen. Ahmad und Mohammed standen dabei und sahen zu, wie er langsam erstickte. Irgendwann hatte das Zappeln ein Ende und er lag still. Ahmad durchsuchte seine Kleidung und nahm das Geld an sich, das er den Flüchtlingen abgenötigt hatte. Anschließend zerrten sie ihn in einen tiefen Entwässerungsgraben am Rande des Feldes. Wenig später waren sie wieder auf dem Weg zur Grenze. Dort warteten sie bis weit nach Mitternacht, um sie dann völlig unbehelligt zu überqueren. Ohne Zögern marschierten sie in die Nacht hinein. Sie wollten noch möglichst weit kommen.

1

Sechs Jahre zuvor

Es war fünf Uhr morgens und kühl. Im Dämmerlicht waberten fetzige Nebelschleier über die große Waldlichtung am Eichenschlag und ließen die dreizehn Stück Rotwild, die auf ihr ästen, im ersten Dämmerlicht wie gespensterhafte Schemen erscheinen. Die schwache Brise war kaum spürbar und trug die Witterung des Jägers weg vom Wild, nach hinten in den Wald. Forstrat Volker Wohlfahrt saß auf der hohen Jagdkanzel am Rande der Lichtung und war sich sicher, das Wild konnte ihn nicht wittern. Gut fünfzig Schritte waren es bis zum ersten Alttier, einer erfahrenen Hirschkuh, die das Rudel anführte. Deutlich konnte er hinter ihr das Kalb erkennen, das der Mutter nicht von der Seite wich.

Wohlfahrt würde Ende des nächsten Monats in den Ruhestand treten und hatte von seiner oberen Dienstbehörde letztmals einen reifen Hirsch zum Abschuss freigegeben bekommen. Ein übliches Verfahren bei verdienten Beamten.

Plötzlich wurde die Stille des Septemberwaldes von einem tiefen, orgelnden Röhren zerrissen. Wohlfahrt lief ein Schauer über den Rücken. Da war er, der bejahrte Brunfthirsch, und schrie seinen Herrschaftsanspruch auf das Rudel in den Wald hinein. Es dauerte nur einen Moment, dann kam aus weiterer Ferne Antwort. Ein Rivale sagte dem Platzhirsch den Kampf an, um ihm die Herrschaft über das Rudel streitig zu machen. Erneut gab der starke Hirsch Antwort. Er stand nur in geringer Distanz zum Jäger in einer Buchenaufforstung, noch immer durch den Nebel unsichtbar. Das Archaische dieses Vorgangs versetzte Wohlfahrt in fast unerträgliche Spannung. Dieser Sechzehnender ließ ihn schon seit drei Stunden hier an der Wildwiese ausharren. Der Hirsch war alt und seine Tage, in denen er der Herr über dieses Rudel sein konnte, waren sicher gezählt. Plötzlich hörte er trommelnden Hufschlag. Der Platzhirsch verließ galoppierend seine Deckung. Als er abrupt stoppte, konnte Wohlfahrt ihn sehen. Wie ein Denkmal stand er im Nebel, dann senkte er sein Haupt und gab einer der Kühe einen unsanften Stoß mit seinem Geweih, damit sie näher zum Rudel aufschloss. Er musste seinen Harem zusammenhalten. Im vollen Bewusstsein seiner Stärke hob er sein gewaltiges Haupt, dass die Geweihstangen fast seinen Rücken berührten, und röhrte seine Kampfansage in mehreren Intervallen in den Himmel. Sein heißer Atem stand dabei wie eine Wolke vor seinem Äser. Der Förster spürte das Vibrieren der Kanzel. Gewaltsam riss er sich aus seiner Faszination und hob das Gewehr. Er wollte den alten Recken mit einem sauberen, schnell tötenden Blattschuss erlegen.

Während er noch durch das Zielfernrohr die Stelle suchte, hinter der das Leben schlug, machte der Hirsch plötzlich einen steilen Satz nach oben, dann nach vorne, tat noch zwei weite Sprünge, um dann unvermittelt zusammenzubrechen. Er schlegelte noch einige Male auf der Seite liegend, mit den Hinterläufen, dann war Stille. Der Vorgang lief so schnell ab, dass der Mann auf der Kanzel überhaupt nicht erfassen konnte, was hier geschehen war. Er hatte ja nicht geschossen und trotzdem war ihm klar, irgendetwas musste den Hirsch tödlich getroffen haben. Aus heiterem Himmel, wie vom Blitz erschlagen. Wie konnte das sein?

Der Hufschlag des flüchtenden Rotwildrudels riss Wohlfahrt aus seiner Erstarrung. Zorn kam in ihm hoch. Er sicherte sein Gewehr und machte sich an den Abstieg. Er hatte einen schlimmen Verdacht. Ohne große Überlegung stürmte er vorwärts. In seiner Amtszeit hatte es in seinem Zuständigkeitsbereich mehrmals Hinweise auf Wildereraktivitäten gegeben. In den letzten beiden Jahren wieder häufiger. Starke Hirsche, die dem Forstamt bekannt waren, verschwanden plötzlich von der Bildfläche und wurden nicht mehr gesehen. Forstarbeiter stießen im Wald auf Innereien von Rotwild, die jemand verscharrt hatte. Die Füchse gruben sie wieder aus und zerrten sie ans Tageslicht. Die Förster vermuteten, dass hier eine ganze Bande am Werk war, denn für eine Einzelperson war ein starker Hirsch, der deutlich mehr als zwei Zentner wiegen konnte, kaum zu transportieren. Gesehen hatte man diese Kerle jedoch noch nie. Eines war klar, sie waren ortskundig und im höchsten Maß gerissen. Damals erkannte man die Wilderer an einer ganz speziellen Handschrift: Sie töteten das Wild mit Pfeil und Bogen und führten dabei einen großen Hund mit sich, der ihnen offenbar ihre Beute zutrieb.

Wider alle Regeln der Vernunft hastete der alte Förster zu der Stelle, wo der Hirsch zusammengebrochen war. Plötzlich begann sein Herz schneller zu schlagen. Im Nebel erkannte er eine menschliche Gestalt, die sich über den Wildkörper beugte. Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Wohlfahrt war klar, er handelte extrem leichtsinnig. Normalerweise hätte er sich zurückziehen und über sein Handy die Polizei verständigen müssen. Damit war aber die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Wilddiebe verschwunden waren, ehe die Ordnungshüter eintrafen. Er entschloss sich zu handeln. Mit der Waffe in Vorhalte näherte er sich langsam dem Menschen in Tarnkleidung. Unvermutet trat er auf einen trockenen Zweig, der krachend brach. Der Mann richtete sich erschrocken auf. Wohlfahrt sah in der Hand des Kerls ein großes Messer aufblitzen, mit dem der sich an dem Hirsch zu schaffen gemacht hatte. Sein Gesicht hatte der Wilderer mit Farbe unkenntlich gemacht. Er musste älter sein, denn unter seiner Basecap quollen graue Haare hervor. Wohlfahrt zögerte nicht länger, die Situation war eindeutig. Hier in seinem Zuständigkeitsbereich hatte er Polizeigewalt. Angriff war die beste Verteidigung.

„Halt! Lassen Sie das Messer fallen und heben Sie die Hände hoch. Ich bin hier der Förster und bewaffnet! Ich verhafte Sie wegen Jagdwilderei!“

Das Gewehr hielt Wohlfahrt im Hüftanschlag. Innerlich ärgerte er sich, seine Pistole nicht mit zur Jagd mitgenommen zu haben. Diese kurze Waffe wäre in der jetzigen Situation wesentlich besser zu handhaben gewesen. Deutlich spürte er die Spannung, die sich zwischen ihm und dem Mann aufbaute. Der Wilderer machte keinerlei Anstalten, das Messer fallen zu lassen. Er schien zu überlegen. Langsam ging der Förster einige Schritte näher. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er das Gesicht des Mannes zu erkennen, aber das war unmöglich. Zudem hatte er den Schirm der Basecap tief ins Gesicht gezogen.

„Los, sofort die Waffe weg“, befahl Wohlfahrt erneut, „… flach auf den Bauch legen, Arme und Beine abgespreizt! Aber ein bisschen plötzlich!“

Jetzt erst entdeckte er die zweite Gestalt, die sich ein Stück von der ersten entfernt aus dem Nebel herausschälte. Der Forstmann erschrak. Offenbar hatte er es tatsächlich mit einer Bande zu tun. Der Gewehrlauf schwenkte zwischen den beiden Männern hin und her. Jetzt wurde die Situation kritisch. Allerdings konnte er bei dem zweiten Wilderer keine Waffe erkennen.

„Für dich gilt das Gleiche!“, stieß Wohlfahrt hervor. „Hinlegen!“ Im Augenblick wusste er nicht, wie er diese schwierige Situation meistern sollte. Er hatte zwar sein Handy dabei, aber in seiner jetzigen Lage konnte er nicht telefonieren. Dazu hätte er sein schweres Gewehr mit nur einer Hand halten müssen und das war unmöglich. In diesem Augenblick raschelte links von ihm das Laub. Gleichzeitig vernahm er ein tiefes, bösartiges Knurren. Erschrocken fuhr der Forstbeamte herum. Der Lauf seines Gewehres schwenkte unwillkürlich mit. Weniger als zehn Meter von ihm entfernt stand sprungbereit ein großer, dunkler Hund, der ihn mit gefletschten Zähnen anstarrte. Es war abzusehen, dass er jeden Augenblick angreifen würde. Die Gedanken wirbelten wild durch den Kopf des Försters. Was sollte er tun? Das war eine verdammte Zwickmühle! Er durfte die beiden Wilderer nicht aus den Augen lassen, musste aber auch auf den Hund aufpassen. In Sekundenbruchteilen traf sein Gehirn eine Entscheidung und übertrug diese auf seinen Finger am Abzug. Der Schuss brach und der Knall fand im Wald ein vielfaches Echo. Hastig wollte er eine neue Patrone ins Patronenlager repetieren, als er auch schon einen harten Schlag gegen seine Brust bekam, der von einem schrecklichen Schmerz begleitet wurde. Wohlfahrt hatte das Gefühl, als würde es ihm die Lunge zerreißen. Sein Gewehr fiel ins Gras, weil seine Hände instinktiv an seine Brust fuhren. Im gleichen Moment war der große Hund heran. Sein Schuss war offenbar wirkungslos in die Wiese gegangen. Mit voller Wucht sprang das Tier den Förster an und warf ihn auf den Rücken. Eine Sekunde später gruben sich die scharfen Zähne des Hundes tief in die Kehle des Mannes, zerquetschten seinen Kehlkopf und rissen ihm die Halsschlagader auf.

„Grauer zurück! Aus!“ Trotz seiner Panik hörte Wohlfahrt die laute befehlende Stimme. Verzweifelt versuchte er mit schwindender Kraft das Tier von sich zu zerren. Doch der zangenartige Griff der Kiefer verstärkte sich noch. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm ins Gehirn. Wohlfahrt bekam keine Luft mehr, weil ihm die Luftröhre abgedrückt wurde. Schnell verfiel er in eine Art Agonie. Sekunden später verlor er das Bewusstsein.

Er bekam nicht mehr mit, wie der zweite Mann herangerannt kam und mit harter Hand den Hund zurückriss, damit er von seinem Opfer abließ.

„Verdammte Scheiße!“, fluchte der Jüngere und leuchtete mit einer Taschenlampe auf den Förster, aus dessen Halsschlagader das Blut stoßweise in die Wiese lief. Aus seiner Brust ragte der hintere Teil eines Pfeils. „Er stirbt! Vater, warum hast du geschossen? Der Graue hätte den Kerl doch an den Boden genagelt.“

„Ich wollte verhindern, dass er noch einmal schießt!“, knurrte der Ältere und ließ den Bogen wieder ins Gras fallen, von wo er ihn gerade aufgenommen hatte, als der Förster durch den Hund abgelenkt wurde. „Los, wir müssen den Hirsch zerlegen und abtransportieren. Es wird schnell heller. Für den da können wir nichts mehr tun.“ Er spuckte ins Gras und wandte sich wieder dem Wildkörper zu.

Der Jüngere starrte den sterbenden Forstmann an, der noch einige Male mit den Beinen zuckte und dann still lag.

Nachdem der Hirsch zerlegt war, trat der Ältere an den Toten heran, setzte seinen linken Schuh auf dessen Brust und zog mit einem Ruck den Pfeil aus der Brust.

Als Volker Wohlfahrt am Morgen nicht zum Forstamt zurückkehrte und auch über Handy nicht zu erreichen war, fuhr sein Nachfolger mit dem Jeep in den Wald hinaus, um nachzusehen. Wenig später fand er den Kollegen in seinem Blut. Das abgefeuerte Gewehr und die Spuren im Gras ließen darauf schließen, dass hier offenbar eine schreckliche Auseinandersetzung stattgefunden hatte. Der Forstbeamte suchte eine Stelle mit Handyempfang und alarmierte die Polizei.

2

Ein gutes Jahr danach

Der alte, dunkelgrüne Renault 4 preschte mit so hoher Geschwindigkeit über den geschotterten Forstweg, dass die Bodenhaftung der Räder gerade noch so eben gewährleistet war. Die Steine des Untergrunds schlugen mit der Kadenz eines Maschinengewehrs gegen den Unterboden und machten eine normale Verständigung im Inneren unmöglich.

Trotz des Lärms hörten die beiden Insassen deutlich das Heulen der Polizeisirene des sie verfolgenden Einsatzfahrzeugs. Der Streifenwagen mochte vielleicht zwei-, dreihundert Meter zurückliegen. Nur durch eine für die Verfolger kaum zu kalkulierende Irrfahrt über schwer passierbare Waldwege hatten sie diese Distanz aufbauen können. Der R 4 war dem verfolgenden BMW zwar an Schnelligkeit absolut unterlegen, auf dem schwierigen Gelände nutzte dem Streifenwagen seine höhere Leistungsfähigkeit allerdings nicht viel. Der kleine Franzose war hochbeiniger und konnte die ausgefahrenen Waldwege verhältnismäßig schnell passieren, während der Fahrer der Polizeilimousine höllisch aufpassen musste, dass er nicht aufsetzte. Hinzu kam, dass einer der beiden im Renault den Wald wie seine Westentasche kannte. Der Forstweg mündete etwas später auf eine Staatsstraße, der sie zwei Kilometer folgen mussten, um dann auf der anderen Seite wieder in den Wald eintauchen zu können. Es war ein Wettrennen gegen die Zeit. Sie mussten unbedingt schneller sein als die Polizei, die mit Sicherheit gerade dabei war, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften in der Umgebung Straßensperren zu errichten.

Der Mann auf dem Beifahrersitz gab der Fahrerin ein Zeichen. Die Staatsstraße war nur noch zweihundert Meter entfernt. Als der Mann durch die Bäume voraus die blinkenden Blaulichter erkannte, stieß er einen heftigen Fluch aus. Offenbar waren sie tatsächlich schon dabei, diese Straße zu sperren. Sie hatten verdammt schnell reagiert!

„Mist, wir müssen durchbrechen!“, schrie er gegen den Krach an und gab der Fahrerin ein Zeichen, dass sie am Ende des Forstweges nach rechts auf die Staatsstraße abbiegen solle. Die junge Frau hinter dem Steuer nickte mit weit aufgerissenen Augen. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen umkrampft, um nicht die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. Die extrem weiche Federung des Franzosen verstärkte das Gefühl, auf einem Boot in stürmischer See zu sitzen. Ihr Gesicht war vor Konzentration verzerrt. Sie sah das dunkle Band der Straße kommen, trat etwas überhastet auf die Bremse, zerrte die Revolverschaltung in den nächstniedrigeren Gang, riss das Steuer nach rechts und trat das Gaspedal wieder voll durch. Der R 4 übersteuerte kurzzeitig und das Heck drohte auszubrechen. Sie gab stur Vollgas und der Frontantrieb ermöglichte es ihr, den Wagen wieder voll in den Griff zu bekommen. Jetzt erst erfasste sie die Szene auf dem Asphalt in Gänze. Offenbar waren etwa hundertfünfzig Meter vor ihnen zwei Einsatzfahrzeuge gerade dabei, sich auf der Fahrbahn quer zu stellen, um eine Straßensperre zu bilden. Durch das Heranstürmen des R 4 konnten sie den Vorgang allerdings nicht ganz abschließen. Zwischen den beiden Streifenwagen klaffte noch eine Lücke, welche die Beamten jetzt hektisch zu schließen versuchten, indem sie sich mit gezogenen Waffen im freien Raum postierten. Der Beifahrer sah bei den Beamten Maschinenpistolen. Einer hielt eine rot leuchtende Polizeikelle in die Höhe und forderte damit hektisch winkend die Fahrzeuginsassen auf abzustoppen.

„Wir müssen durchbrechen, sonst haben sie uns!“, brüllte der Mann.

Als offensichtlich war, dass der Wagen nicht anhalten würde, kniete einer der Beamten nieder und gab einen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole ab. Zwei andere Polizisten schossen mit ihren Pistolen. Sie hielten tief, weil sie die Vorderreifen treffen wollten, verfehlten aber ihr Ziel. Einige Projektile schlugen wirkungslos in die Karosserie ein, dann war die Distanz zusammengeschrumpft und die Beamten mussten sich in letzter Sekunde durch hastige Sprünge zur Seite in Sicherheit bringen.

Der Renault raste durch die bestehende Lücke. Das Blech der Fahrzeuge kreischte auf, als der kleine Wagen beiderseits an den Stoßstangen der Streifenwagen entlangschrammte und sie ein Stück zur Seite schleuderte. Dabei verlor er nur geringfügig an Geschwindigkeit. Mit eiserner Hand hielt sie den Wagen in der Spur, der für einen Moment ausbrechen wollte.

Bis die Beamten sich wieder aufgerappelt hatten und die ersten Salven hinter dem Fluchtfahrzeug herfeuerten, hatte dieses fast die nächste Kurve erreicht. Drei, vier Projektile schlugen blechern in die Heckklappe ein, blieben aber anscheinend in den Polstern der Rücksitze stecken.

Die Anspannung der männlichen Person entlud sich in einem lauten, triumphalen „Ja!“. Die Frau gab weiter konzentriert Gas. Sie sagte nichts, aber ihre Nerven waren bis zum Äußersten angespannt.

„In ungefähr zweihundert Metern kommt eine Rückegasse. Fahr da ein Stück rein und halte an. Ich verschwinde dann“, erklärte er knapp. „Ehe die Bullen merken, dass sie uns auf den Leim gegangen sind, bin ich in Sicherheit. Du fährst dann auf dieser Rückegasse weiter. Sie führt den Hang hinauf, dabei schneidet sie mehrere Forstwege. Aber die alte Kiste müsste das schaffen. Nimm die Schleichwege am alten Steinbruch entlang, dann verstecke dich mit dem Wagen in einer Dickung, bis es dunkel wird. Erst dann kehrst du zu eurem Hof zurück. Mit Sicherheit werden sie dort auf dich warten. Wenn sie dich in die Mangel nehmen, sag einfach, ich hätte dich zu allem gezwungen. Ansonsten schweigst du. Da können sie dir nicht viel anhaben.“

Durch das offene Fenster vernahm er ein knatterndes Geräusch. Er spähte nach oben. Über ihnen schwebte ein Hubschrauber. Verflucht, das hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Anna, da rein!“, schrie er und deutete auf einen schnell herannahenden schmalen Waldweg. Die junge Frau zwang den schwankenden R 4 in die Rückegasse. Sie fuhr mit verminderter Geschwindigkeit die Gasse ein Stück weit entlang, dann bremste sie ab. Er beugte sich herüber, gab ihr schnell einen Kuss, dann riss er die Tür auf und sprang hinaus. Über sich hörte er nach wie vor den Hubschrauber, der aber wegen des dichten Blätterdaches praktisch keine Sicht auf den Boden hatte. Ihm war aber klar, dass die Piloten geländegängige Einsatzfahrzeuge aus der Luft einweisen würden.

„Anna, fahr jetzt weiter. Wie besprochen bleibe ich so lange im Wald, bis einigermaßen Gras über die Sache gewachsen ist. Irgendwann hole ich dich, dann gehen wir ins Ausland. So, jetzt muss ich aber verschwinden! Ich liebe dich.“

„Wolfi, bitte sei vorsichtig!“, rief sie. „Ich liebe dich auch!“

Er warf ihr ein Lächeln zu und griff sich vom Rücksitz seine Ausrüstung. Mit Schwung schulterte er einen Rucksack, dann drückte er die Türen leise zu. Ein kurzes Winken, dann marschierte er einen sanft ansteigenden Spessarthang hinauf. Einen Steinwurf weit entfernt nahm ihn eine Dickung auf und entzog ihn endgültig seinen Verfolgern aus der Luft. Nachdem er innerhalb der Dickung eine längere Strecke zurückgelegt hatte, blieb er auf einer freien Stelle stehen und kontrollierte seine Ausrüstung. Im Köcher steckten zwanzig Jagdpfeile. Ihre rasiermesserscharfen Spitzen trugen Schutzhüllen, damit man sich nicht an ihnen verletzte. Der Langbogen steckte entspannt in einem schlanken Etui. Mit wenigen Handgriffen konnte er einsatzbereit gemacht werden. Sein langes Jagdmesser hing am Gürtel. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass alles einsatzbereit war, marschierte er bis zum Ende der Dickung. Vorsichtig blieb er zwischen den Randbäumen stehen und spähte hinaus in den Hochwald. Kurz orientiere er sich, dann legte er beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus. In mehreren Intervallen hob und senkte sich seine Stimme. Dann brach er ab und lauschte. Kurz darauf wiederholte er den Vorgang. Er wusste, dass der Schall von dieser Anhöhe aus ziemlich weit trug. Nach der dritten Wiederholung wartete er. Als er nach einiger Zeit aus der Ferne eine Antwort bekam, huschte ein schmales Lächeln über sein Gesicht. Es geschah fast lautlos. Plötzlich tauchte neben ihm im Unterholz ein großer, dunkler Schatten auf. Der Wolfshund gab ein hohes Winseln von sich, während er den Mann mit gesenkter Rute, angelegten Ohren und leicht geduckter Haltung begrüßte. Der Mann griff ins Fell des Wolfshundes und zauste es rau, aber herzlich. „Brav, mein Grauer. Ich freue mich ja auch, dich wiederzusehen.“

Die junge Frau gab wieder Gas und der unverwüstliche R 4 zog zuverlässig die Rückegasse entlang. Jetzt, wo der Mann das Fahrzeug verlassen hatte, konnte sie ihrem Schmerz nachgeben. Keuchend verzog sie das Gesicht und griff mit der rechten Hand nach ihrer linken Schulter. Betroffen warf sie einen kurzen Blick auf das Blut an ihren Fingern. Offenbar hatte eines der Projektile, die die Polizisten auf das Auto abgefeuert hatten, noch genug Kraft besessen, um in ihre Schulter einzudringen. Wie es sich anfühlte, steckte es oberhalb des Schulterblattes in der Muskulatur. Zum Glück hatte es Wolfgang Hasenstamm, ihr Gefährte, wegen der stressigen Flucht nicht bemerkt, sonst hätte er sie sicher nicht verlassen. Sie biss die Zähne zusammen. Die Wunde war ziemlich schmerzhaft, aber wahrscheinlich nicht sehr gefährlich. Sie musste noch eine Weile durchhalten, ehe sie sich zuhause in die Obhut eines Arztes begeben durfte. Der Renault zog jetzt einen Hang hinauf. Der Hubschrauber schwebte weiterhin über ihr. Wolfgangs Einschätzung traf zu. Wegen des Blätterschirms war es ihnen verborgen geblieben, dass er das Fahrzeug verlassen hatte.

Hasenstamm hatte sie auf dem Kirchweihfest vor zwei Jahren kennengelernt. Sie war mit Freunden auf dem Fest, weil sie dort ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feierte. Es war ein fröhlicher Abend und sie hatte viel getanzt. Die Toilettenanlagen der Gastwirtschaft, in deren Saal die Veranstaltung stattfand, lagen jenseits des Hofes in einem Anbau. Als sie die Örtlichkeiten aufsuchen musste, wurde sie von einem betrunkenen Festbesucher, der im Dämmerlicht des schlecht beleuchteten Hofes herumlungerte, belästigt und begrapscht. Sie wehrte sich zwar heftig, kam aber gegen die Kräfte des Mannes nicht an. In diesem Augenblick trat Wolfgang Hasenstamm wie aus dem Nichts hervor und schnappte sich den Burschen. Er prügelte ihn windelweich und gab ihm zum Schluss einen Tritt in den Hintern, der ihn auf den Heimweg beförderte. Von diesem Tag an waren sie und Wolfi zusammen. Erst nach und nach erfuhr sie von der gefährlichen Obsession, die ihren Freund beherrschte. Und sie bekam mit, welchen negativen Einfluss Wolfgang Hasenstamms Vater Richard auf seinen Sohn hatte. Immer wieder versprach er ihr, mit der Wilderei aufzuhören, immer wieder wurde er rückfällig. Lange Zeit konnten sich Vater und Sohn der Polizei entziehen. Irgendwann musste etwas Gravierendes passiert sein, etwas, worüber er nicht mit ihr sprach, etwas, das ihn aber sehr belastete. Die Polizei intensivierte ihre Verfolgung. Auch sie wurde mehrmals vernommen, leugnete aber jede Verbindung. Anscheinend wurde sie in der Folgezeit überwacht. Aber immer wieder war es ihr gelungen, sich heimlich mit Wolfgang im Wald zu treffen. Heute war die Falle nun zugeschnappt. Sie hatte sich mit Hasenstamm in ihrem Auto an einer verborgenen Stelle im Wald getroffen. Auf der Rückfahrt war ihnen plötzlich ein Polizeifahrzeug gefolgt. In ihrer Verblendung sah sie für sich keine andere Wahl, als ihm zur Flucht zu verhelfen.

Nur mit eisernem Willen konnte sie den zunehmenden Schmerz ertragen, der durch das Holpern des Wagens noch verstärkt wurde. Plötzlich registrierte sie, dass sie sich kurz vor dem ihr bekannten aufgelassenen Steinbruch befand, den sie laut Wolfgang oberhalb der Abbruchkante passieren sollte. Der Boden war rutschig vom letzten Regen und verlangte von ihr volle Konzentration. Plötzlich bemerkte sie im Rückspiegel zwischen den Bäumen eine Bewegung. Erschrocken stellte sie fest, dass ihr ein geländegängiges Polizeifahrzeug folgte und zügig immer näher kam. Offenbar hatte sie der Hubschrauber doch gesehen. Sie gab zwar Gas, aber ihr war klar, dass sie auf Dauer gegen den Geländewagen keine Chance hatte. Sie wollte ihre Festnahme aber so lange wie möglich hinauszögern, damit Wolfi einen ausreichenden Vorsprung bekam.

Die Absturzkante des alten Steinbruchs war nicht abgesichert. Wer sich hier nicht auskannte, lief Gefahr, in den Abgrund zu stürzen. Wenn die Polizisten die Gefahr bemerkten, würden sie vielleicht aufgeben.

Trotz der Schmerzen in ihrer Schulter hielt sie das Lenkrad eisern fest, damit der R 4 wenige Meter vom Abgrund entfernt die Spur hielt. Mit einem Blick in den Rückspiegel konnte sie sich davon überzeugen, dass das Verfolgerfahrzeug tatsächlich anhielt. Sie erschrak, als sie eine durchdringende Lautsprecherstimme hörte, die sie aufforderte, auf der Stelle anzuhalten und sich zu ergeben. Die Warnung wurde wiederholt. Mit entschlossener Miene fuhr sie weiter. Bald hatte sie die gefährliche Stelle hinter sich. Da hörte sie einen lauten Knall. Im gleichen Augenblick ging durch den Wagen ein Ruck und das rechte Hinterrad rutschte weg. Mit einem schnellen Blick in den Rückspiegel entdeckte sie einen Uniformierten, der mit einem Gewehr im Anschlag neben dem Geländewagen stand. Es gab keinen Zweifel, er hatte ihr einen Hinterreifen zerschossen. Sofort schob die Felge des zerstörten Rades das Auto auf den Abgrund zu. Sie versuchte das Steuer herumzureißen, um nach links vom Abgrund wegzukommen. Der Rest ging blitzschnell. Sekunden später kippte der R 4 im Zeitlupentempo über den Rand, und stürzte dann, immer schneller werdend, in den Abgrund. Zwanzig Meter tiefer schlug der Wagen, der sich im Fall leicht zur Fahrerseite hin gedreht hatte, mit einem lauten Knall auf den Grund des Steinbruchs auf. Da das alte Fahrzeug weder Airbags hatte noch über Sicherheitsgurte verfügte, prallte der Kopf der Fahrerin ungebremst gegen die Seitenscheibe des Wagens. Der sofortige Genickbruch schenkte ihr einen schnellen Tod. Das Verfolgerfahrzeug blieb stehen. Der Schütze und ein weiterer Beamter näherten sich vorsichtig der Absturzstelle. Einer eilte zum Fahrzeug zurück, alarmierte die Rettungskräfte und verständigte dann die Einsatzleitung.

Der Schuss und das laute Krachen des in den Abgrund stürzenden Wagens wurden vom Wind weit getragen. Hasenstamm, der mit dem Wolfshund schon ein ganzes Stück weitergezogen war, blieb abrupt stehen und lauschte. Auch der Hund stellte die Ohren auf und legte den Kopf schief. Das Erste war eindeutig ein Schuss und kam aus Richtung des Steinbruchs. Hasenstamm warf sich auf dem Absatz herum und rannte zurück. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas Schreckliches geschehen war. Jede Zelle seines Körpers war alarmiert. Der Wolfshund trabte neben ihm her.

Hasenstamm näherte sich dem Steinbruch von der Talsohle her. Schritt für Schritt tastete er sich die letzten Meter vor, jede Deckung nutzend. Er hörte die lauten Stimmen von Männern, die Kommandos schrien. Im Steinbruch war es düster. Die Sonne erreichte nur kurze Zeit am Tag die Sohle aus rötlichem Buntsandstein. Er machte dem Hund ein Handzeichen und dieser blieb gehorsam zurück. Mit seiner schwarz-grauen Fellzeichnung verschmolz er völlig mit dem hier wuchernden Unterwuchs. Wenig später hatte Wolfgang Hasenstamm freien Blick auf die schockierende Szene. Für einen Moment war er völlig erstarrt. Mittlerweile war, neben zahlreichen Polizisten und SEK-Männern, auch die Feuerwehr am Grund des Steinbruchs eingetroffen. Die Feuerwehrmänner waren mit Hilfe eines Seilzugs dabei, den R 4 so aufzurichten, dass er wieder auf den Rädern stand. Beim Öffnen der Fahrertür fiel ihnen eine im Gesicht blutüberströmte weibliche Gestalt entgegen, die offensichtlich kein Leben mehr in sich trug. Hasenstamm rastete von einer Sekunde zur anderen völlig aus. Ohne nachzudenken, stürmte er mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte, aus seiner Deckung hervor. Die anwesenden Hilfskräfte und die Polizeibeamten wurden völlig überrumpelt. Mit wenigen Sprüngen erreichte er den demolierten Wagen und gab dem Feuerwehrmann, der sich gerade über die Frau beugen wollte, einen harten Stoß. Der Mann taumelte nach hinten und stürzte. Sein heiserer Schrei löste die Erstarrung der Polizisten. Instinktiv griffen einige zu ihren Waffen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriffen, was sich da vor ihren Augen abspielte. Der Unbekannte warf sich über die Frau und nahm ihren Kopf in seine Arme. Ein trockenes Schluchzen erschütterte seine Brust, während er sich mit der Frau im Arm wie in Trance vor und zurück wiegte.

Den SEK-Männern war klar, dass es sich bei diesem Mann um den verfolgten Wolfgang Hasenstamm handelte. Auf ein Zeichen des Einsatzleiters hin näherten sich zwei der Polizeibeamten mit angeschlagenen Waffen dem verzweifelten Mann. Sie erfassten das Drama, das sich hier vor ihren Augen abspielte. Ohne sich abzusprechen, hielten sie sich einen Moment zurück, um ihm einen Augenblick des Abschieds zu gewähren. Plötzlich kam aus dem Unterwuchs des Steinbruchs ein fauchendes Knurren, das sie aufschreckte. Dann raste auch schon ein großer, dunkler Schatten heran, der sich sofort auf den ersten Beamten stürzte. Ehe die Einsatzkräfte richtig begreifen konnten, was sich hier abspielte, hing der große Wolfshund dem Polizisten an der Kehle und riss ihn mit seinem Körpergewicht zu Boden. Der Mann, vor Schreck völlig erstarrt, war zu keiner Abwehrbewegung fähig. Als die Uniformierten ihre Schrecksekunde überwunden hatten, schrien sie sich durcheinander Befehle zu. Die Läufe mehrerer Schusswaffen richteten sich auf das Tier. Keiner wagte jedoch zu schießen, da sie befürchteten, ihren Kollegen zu treffen. Sie waren wie paralysiert. Mitten in diese ausweglose Situation hinein erklang scharf die sonore Stimme Hasenstamms, der noch immer den Kopf der Frau auf seinem Schoß hielt.

„Grauer, lass aus! Grauer aus! Los, hau ab!“

Sofort ließ der Wolfshund mit blutigem Fang von seinem Opfer ab und war mit zwei weiten Sätzen im Unterholz verschwunden. Zwei Beamte hoben ihre Pistolen, um ihn noch von hinten zu treffen. Hasenstamm war aber schneller. Er ließ die Frau zu Boden gleiten, sprang auf und rempelte die Umstehenden mit Wucht von der Seite her an, so dass sie taumelten. Es löste sich ein Schuss, der aber wirkungslos in die Botanik ging. Als Hasenstamm nach der Dienstwaffe des gebissenen Beamten greifen wollte, gab ein Beamter in Zivil, der direkt daneben stand, einen schnellen Schuss auf ihn ab. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden. Mit beiden Händen hielt er sein durchschossenes Bein. Sofort stürzten sich mehrere SEK-Männer auf ihn, drehten ihn auf den Bauch, rissen ihm die Hände nach hinten und legten ihm Handschellen an. Gegen diese Übermacht kam Hasenstamm nicht an. Der Einsatzleiter, der auf ihn geschossen hatte, steckte seine Pistole ins Holster zurück und gab mit ruhiger Stimme ein paar Anweisungen, die wieder Ordnung in die herrschende Aufregung brachten. Die Freiheit des unter anderem wegen Verdachts des Mordes gesuchten Wolfgang Hasenstamm war hier und jetzt zu Ende. Ruhig, fast unbeteiligt wirkend, lag er in Handschellen auf der Liege des Rettungswagens. Mit starrem Blick verfolgte er die Geschehnisse im Steinbruch. Er registrierte die intensiven Bemühungen des Notarztes um Anna. Sah sein resignierendes Kopfschütteln, da ihr nicht mehr zu helfen war. Danach suchte sein glühender Blick das Gesicht des Einsatzleiters, der auf ihn geschossen hatte. Er würde es sich für immer ins Gedächtnis einbrennen.

Der Beamte beachtete Hasenstamm aber nicht mehr. Er war tief betroffen über den Tod des Polizisten, den der große Wolfshund angegriffen hatte. Auch für ihn kam jede Hilfe zu spät. Das Tier hatte ihm den Kehlkopf und die Halsschlagader durchgebissen.

Wortlos wandte sich der Notarzt nun Hasenstamms Schusswunde zu. Obwohl diese Behandlung sehr schmerzhaft sein musste, gab er keinen Klagelaut von sich. Nach seinem emotionalen Ausbruch wirkte er abwesend, fast apathisch, als wäre er in einer anderen Sphäre. Sein Blick ruhte dabei auf den Konturen der toten Frau, die sich unter der Plane abzeichneten, mit der man sie mittlerweile abgedeckt hatte.