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Cordula und Ottmar Leidner
Ein hörendes Herz
Jeden Tag Gottes Spuren finden

Ignatianische Impulse

Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ und Martin Müller SJ

Band 57

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Cordula und Ottmar Leidner

Ein hörendes Herz

Jeden Tag Gottes Spuren finden

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN
978-3-03551-8 (Print)
978-3-04668-2 (PDF)
978-3-06077-0 (ePub)

Inhalt

Zum Einstieg

Vorwort

Lebensgestaltung:
Was den Menschen Mensch sein lässt

Willi Lambert SJ

Vom »Examen« des heiligen Ignatius von Loyola
zum »Gebet der liebenden Aufmerksamkeit«

Cordula und Ottmar Leidner

Gewissenserforschung

Franz Kardinal Hengsbach

Praktische Erfahrungen eines geistlichen
Begleiters

Josef Maureder SJ

»Die guten ins Töpfchen …«?
Impulse zum Tagesrückblick

Renate Kern

Der »Tagesrückblick« in der Hl. Schrift?

Cordula und Ottmar Leidner

Ein anderer Weg zum Ziel: das Pausengebet

Willi Lambert SJ

Den Tag vor dem Abend loben

Karl Rahner SJ

Von der Innenseite der Hand in die Innenseite
meines Lebens

Lutz Müller SJ

Hallo, Herr, hier bin ich

Mirjam Frankenstein

Tagesausstieg

Frank Beyersdörfer

Tagesrückblick – mit Kindern

Elisabeth Wedding

Wie ein Gespräch mit meiner besten Freundin

Gertrud Himmel CJ

Tagesrückblick – im Park

Klaus Mertes SJ

Um den Tag zu vollenden – Komplet

Franz-Josef Bode

Gebet der liebenden Aufmerksamkeit – eines evangelischen Pfarrers

Heiner Bludau

Allianz Gebet – Wir Beide

Monika Sander

Mein Herr und mein Gott!

Ich kann nicht beten

Es begann auf einem Blatt Papier

Elisabeth Maulhardt

Mit Gott auf du und du

Das entlastet meine Seele

All-mit-täglich

Confidently Let God Act –
vertrauensvoll Gott wirken lassen

James E. Grummer SJ

Heilige Momente

Tagesauswertung zu zweit

Josef Erbacher

Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit –
grafisch

MJK

Tagesschau

Mach du es, Herr!

Klaus Pfeffer

Jesus’ Blood Never Failed Me Yet

Hier bin ich

Marie-Luise Hentzelt

Gebet der liebenden Aufmerksamkeit –
traumtief im Garten

Albert Herchenbach

Literaturhinweise

Lieber Gott,

bis jetzt geht’s mir gut heute!

Ich habe noch nicht getratscht,

nicht die Beherrschung verloren,

war noch nicht muffelig, gehässig,

egoistisch und zügellos.

Ich hab noch nicht gejammert,

geklagt, geflucht oder Schokolade gegessen.

Die Kredit-Karte

hab ich auch noch nicht belastet.

Aber

in etwa einer Minute

werde ich aus dem Bett klettern

und dann

brauche ich wirklich deine Hilfe. …

(unbekannt)

Vorwort

Wir möchten zu Beginn bekennen: Die Erarbeitung dieses Bändchens wurde zwei Leuten anvertraut, die mit dem »Tagesrückblick« oder wie man ihn nennen mag, immer noch gewisse Schwierigkeiten haben. Trotz jahrzehntelanger Versuche haben wir beide nie das Gefühl entwickelt, ihn »richtig zu machen«. Irgendwann haben wir angefangen, das zu akzeptieren: Hier geht es um etwas ziemlich Intimes, etwas Außerordentliches an Beziehung. Und Beziehungsdinge sind halt nicht einfach. Entsprechend war die »Schwangerschaft« damit von Widerständen reich gesegnet. Viele Monate überwog das Gefühl, es handle sich um heiligen Boden, der einfach nicht zwischen zwei Buchdeckel passen will. Am Ende siegte die Einsicht, dass im Fragmentarischen und Widersprüchlichen selbst Wahrheit liegen mag.

Die Beiträge dieses Bändchens verdanken wir fast ausnahmslos lebenden Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts, von der Hausfrau bis zum Bischof, vom kranken Ruheständler bis zur tatendurstigen Studentin. Sie exponieren sich und geben ein Stück ihrer authentischen Lebenswirklichkeit, ihrer Haltungen, manchmal auch ihrer Poesie preis. Dafür möchten wir besonders danken, denn ohne diese Bereitschaft wäre das Projekt sinnlos gewesen.

Einige der Seiten sind fast leer. Wir haben diesen Beiträgen bewusst ihre schmerzhafte Wortlosigkeit gelassen, denn sie erscheinen uns außerordentlich wichtig. Wer geistlich begleitet, hört von solchen Gebeten nicht so selten. Vielleicht sind sie sogar als Tagesrückblick häufiger als die in ganzen Sätzen und in der empfohlenen Schrittfolge. Sie sollen in dieser Sammlung die unbedingte Ermutigung aussprechen, sich auch dann Gott anzuvertrauen, wenn Entsetzen oder Scham alles Reden einfriert. Viele Menschen haben erlebt, dass solche fast wortlosen Gebete in Versteinerung und Not trotzdem von größtem Wert sind. Vielleicht finden sie sogar häufigere und intensivere Erhörung als die in guten Tagen. Halbwegs geordnete Tage ohne große Sorgen und Kummer sind ein Geschenk, nach dem sich viele Menschen vergeblich sehnen. An solchen Tagen dürfen wir danken und loben und tanzen. Auch davon ist hier die Rede, auch das geben wir gerne weiter.

Im Frühjahr 2012

Cordula und Ottmar Leidner

Lebensgestaltung: Was den Menschen Mensch sein lässt

Es ist einigermaßen erstaunlich, dass ein Buch mit dem Titel »Du musst dein Leben ändern« Beachtung findet. Der Autor beschreibt darin, wie wir Menschen menschlich werden, und das setzt für ihn vor allem eines voraus: das Üben. Wer das sog. »Exerzitienbuch« des Ignatius von Loyola mit seiner geistlichen Übung des »Examens«, der »Gewissenserforschung«, kennt, der kann diese fromme Übung auf einmal in einem kulturphilosophischen Rahmen verstehen. Der Autor, Peter Sloterdijk, bezieht sich verständlicherweise gelegentlich auf Ignatius als einen Exponenten des Übens. Im Folgenden gehe ich von einigen persönlichen Erfahrungen aus und beschreibe dann die Namens-Geschichte der Lieblings-Übung des heiligen Ignatius. Besonders aber sollen dann die Grundlagen vorgestellt werden, auf denen diese Gebetsweise aufbaut. Damit verbindet sich auch eine gewisse Orientierung für die verschiedenen und vielfältigen Beiträge.

Gewissenserforschung

Wenn ich auf meine persönliche Geschichte mit dieser Gebetsweise schaue, steigen manche Erinnerungen hoch: das abendliche Gebet mit meiner Mutter, in dem wir auf den Tag schauten, um zu sehen, was den »kleinen Willi« alles bedrückt und froh gemacht hatte und, natürlich, was nicht gut war von ihm und wo er es am nächsten Tag besser machen wollte und sollte. Weiterhin: Die nicht selten angstbeladene, aber auch mit Erleichterung belohnte Beichte; erste Tagebuchversuche; im Noviziat der Jesuiten dann die tägliche Praxis der Gewissenserforschung – das sog. Examen – des Ignatius, für die mittags und abends eine eigene Zeit vorgesehen war. Für Ignatius ist das Examen die wichtigste Gebetszeit gewesen: Auch wenn alles wie etwa Messfeier, Breviergebet, Meditation ausfiele – den Blick auf das Wunder und Wachsen des Lebens und das Wirken des Gottes-Geistes und das eigene Mitwirken wollte er nie auslassen. Das wäre für ihn wie eine Einwilligung in Erblindung, Erlahmung und Lebensmüdigkeit gewesen.

Die Bedeutsamkeit liegt auch darin, dass diese Gebetsweise in etwa dem Weg der Exerzitien entspricht: eine Zeit stillen Innehaltens – d.h. sich die Zeit für Exerzitien nehmen; die Zeit, sich und sein Leben vor Gott zu bringen – dazu kann man das »Prinzip und Fundament« der Exerzitien heranziehen; das Geschehen von Umkehr, Versöhnung und Neuorientierung – dies entspricht der sog. ersten Woche der Exerzitien; die Suche nach vertiefter Lebensgestaltung aus der Beziehung zu Christus und der Wunsch, in Gottes Liebeswillen zu leben – dies spiegelt die Dynamik der Exerzitienetappen, die ausdrücklich der Nachfolge Christi gewidmet sind.

Liebend-aufmerksam leben

Mit der Zeit kamen Versuche auf, andere Namen für »Gewissenserforschung« zu finden und damit Akzente zu setzen für den Versuch, mit dem eigenen Leben vor sich und auf Gott hin da zu sein. Anstöße dazu gaben Wünsche, diese ur-ignatianische Gebetsweise tiefer zu verstehen: »Examen« war das Urwort im Sinne von Paulus – »Prüft alles, das Gute behaltet«. Die Tradition hat dieses Wort übernommen; alltäglich-nüchtern spricht man von Tagesrückblick; mit Blick auf die Medien formuliert: sich für eine persönliche Tagesschau Zeit nehmen; biblisch: Gebet der Ver-Antwortung auf die Frage Gottes »Adam, wo bist du?«; Gebet auf der Bettkante – formulierte jemand; spirituelle Bewusstseinserweiterung – ist die Sprache der 68er Jahre; und schließlich entstand aus einem Gespräch heraus die Formulierung: »Gebet der liebenden Aufmerksamkeit« – gerne auch »Gebet der Achtsamkeit«.

Wenn ich Kurse zu dieser Gebetsweise gebe, dann stelle ich zuerst nicht die Übung, die Methode vor, sondern mache auf einige grundlegende menschliche Haltungen aufmerksam, um die es geht und die für Menschwerdung fundamental bedeutsam sind. Dann stelle ich die Frage: Welche Rolle spielt dies in deinem Leben, wo kommt dies vor? Und: Suchst du nach einer Form, die dafür vielleicht eine bessere Hilfe ist als deine bisherige Praxis? Dann stelle ich das Modell von Ignatius vor, und die Kursteilnehmer versuchen sich in den ersten Übungsschritten.

Mensch-Sein durch die Kultur des Innehaltens

Wenn – wie im Jahr 2011 – »Stresstest« zum Wort bzw. Unwort des Jahres wird und man sich vor dem »Burnout«, dem Ausgebranntsein, mehr fürchtet als vor einer Feuersbrunst, dann sagt das einiges. Eines auf jeden Fall: Wir scheinen uns wie in einer Mäusetrommel zu bewegen bzw. unfähig, vom Karussell unserer wirklichen und eingebildeten Verpflichtungen, Gedankenspiele, Gefühlswolken, um die sich alles dreht, auszusteigen. Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit ist zunächst einmal der Versuch, ein wenig auszusteigen: mal Schluss jetzt; Pause, Stille, Innehalten, aufatmen, zurück- und vorausblicken, zu sich kommen. – Karl Valentin hat dies einmal feinsinnig-witzig – in hochdeutscher Version – so ausgedrückt: »Heut’ Abend, da möcht’ ich mich besuchen und bin gespannt, ob ich daheim bin.« Also: zu sich kommen statt ständig »außer sich sein«.

Die praktische Frage lautet: Wie steht es bei mir mit der Kultur der Unterbrechung? Kommt sie vor? Wie kommt sie vor? Und wann? Bei einem tiefen Durchatmen? Bei einer kleinen Gesprächspause? In fünf Minuten vor dem Schlafengehen auf dem Balkon? Bei der Fahrt mit der Straßenbahn? Die ersten Minuten vor dem Einschlafen? In einem kleinen morgendlichen Vorausblick auf den kommenden Tag? In einem ernsthaften Gespräch über persönlich Wichtiges? Wer sich auf die Entdeckung von Pausen und Pausenqualität macht, wird fündig werden. Einem, der nach der Häufigkeit des »Examens« fragte, antwortete Ignatius: »Ja, machen Sie das nicht jede Stunde?!« Anders gesagt: Nur wer Pausen macht, kann pausenlos leben. Nur wer unterbricht, wird zum ganzen Menschen.

Mensch-Sein im Da-Sein des Gegenwärtigen

Die stärkste Geschichte, in der Gegenwärtigkeit eine Rolle spielt, ist die Begegnung von Mose mit Gott in der Wüste. Dort offenbart sich Gott mit seinem Namen: »Ich-bin-der-da-ist«. Dasein ist einer der ganz einfach-großen Gottesnamen. Gott ist reines Gegenwärtig-Sein.

Wenn, wie die Bibel sagt, der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist, stellt sich die Frage: Wie steht es in meinem Leben mit der Kultur der Gegenwärtigkeit? Bin ich da, wenn ich da bin, oder immer noch oder wieder schon irgendwo anders? »Seltsam, manche Menschen können in einer Stunde länger da sein als andere in einer Woche«, sagte mir einmal jemand – eine Erfahrung, die es in sich hat.

Was bedeutet für mich das Wort: »In Ihm leben wir, in Ihm bewegen wir uns, in Ihm sind wir« (Apg 17)? Findet mein Leben »außerhalb Gottes« statt? Aufmerksam leben hieße, im eigenen Leben wach zu sein für den, der sich mit dem Namen offenbart: »Ich-bin-wo-dubist«. So übersetzt Martin Buber. Was ist meine Antwort auf Seine Frage: »Adam, Mensch, wo bist du?« Das Gebet der Aufmerksamkeit ist Einübung bzw. Ausübung von Gegenwärtig-Sein mit dem eigenen Leben im Leben.

Mensch-Sein im Dankbar-Sein

Es ist ein starkes Wort, wenn Ignatius von Loyola einmal sagt, er sei überzeugt, dass die Dankbarkeit die Quelle alles Guten und die Undankbarkeit die Quelle alles Bösen sei. Um dies einsehen zu können, sind einige Erkenntnisse notwendig:

Dankbarkeit ist Ausdruck der Fähigkeit, einzustimmen in den Grundrhythmus allen Lebens, nämlich empfangen und geben zu können.

Dankbarkeit ist eine Quelle von Bereicherung, denn mir gehört wirklich nur das, wofür ich »Danke« sagen kann.

Dankbarkeit ist im Tiefsten die Annahme seiner selbst aus dem großen Gegeben-Sein aus der schöpferischen Gottesliebe.