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Michael Rosenberger

Im Geheimnis geborgen

Einführung in die Theologie des Gebets

MICHAEL ROSENBERGER

Im Geheimnis geborgen

Einführung in
die Theologie des Gebets

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

Einführung: Scheinbar völlig nebensächlich?

1. Theologie des Gebets und Theologie der Spiritualität

1.1 Die Fragestellung: Was heißt das eigentlich: Beten?

1.2 Der Gegenstand: Das Gebet

1.3 Das »Fach«: Theologie der Spiritualität

1.4 Die spezifische Rolle einer Reflexion des Gebets für die Theologie

2. Jenseits von Selbstsucht und Selbstflucht

2.1 Beten – sich seine Identität schenken lassen Entdeckungen der Analytischen (Sprach-)Philosophie

2.2 Beten – sich selbst und die Welt immer ehrlicher wahrnehmen. Erkenntnistheorie des Gebets

3. Mit Gott reden?

3.1 Das bergende Geheimnis »du« nennen (Gotteslehre)

3.2 »O Gott, komm mir zu Hilfe!« Sich das (innere) Beten schenken lassen (Gnadentheologie/Pneumatologie)

3.3 In Christus den »Vater« sehen (Christologie)

3.3.1 Was das Gebet über Jesus von Nazaret sagt: Mit Jesus zum »Abba« beten

3.3.2 Was das Gebet über Jesus als Christus sagt: Wer ihn sieht, sieht den Vater

3.4 Zum Vater durch den Sohn im Geist beten (Trinitätslehre und Theologie der Religionen)

3.5 Gott ansprechen

4. Transpersonale Innerlichkeit?

4.1 Die vier Stufen zur Gotteserfahrung in der Gebetspraxis des Mönchtums

4.2 Die Hohelied-Mystik in den Frauenklöstern des Hochmittelalters

4.3 Die Mystik des Alltags bei Ignatius von Loyola

4.4 Die platonische Prägung im Mainstream christlicher (Männer-)Mystik

4.5 Die moderne Interpretation unter fernöstlichem Einfluss

4.6 Gotteserfahrung als liebende Begegnung in vermittelter Unmittelbarkeit

4.7 Das ignatianische Gebet der Hingabe

5. Sprachregelungen für das Beten?

5.1 Beten als Interaktion in der Kirche

5.2 Beten als Interaktion der Kirche

5.3 Fürbitte als Interaktion zwischen den Gliedern der Kirche

5.4 Interreligiöses Beten als Interaktion der Religionen

5.4.1 Denkbare Modelle interreligiösen Betens

5.4.2 Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe von 2008

5.4.3 Theologische Reflexionen

6. »Herr, lehre uns beten!«

6.1 Das Buch der Lobpreisungen. Die Psalmen

6.2 Die Matrix christlichen Betens. Das Vater Unser

6.2.1 Die Überlieferungsformen des Vater Unser

6.2.2 Struktur und Inhalt des Vater Unser

6.2.3 Die Bedeutung des Vater Unser für die Kirche

6.3 Gründungsgebete des Christentums

7. Mit Leib und Seele

7.1 Körperhaltungen beim Gebet

7.2 »Lobt ihn mit Pauken und Tanz« (Ps 150,4) Das religiöse Tanzen als Gebet

7.3 Gebärden der Hände beim Gebet

7.4 Die Einbeziehung der Sinne in das Gebet

7.5 »Wer singt, betet doppelt«. Das religiöse Singen als Gebet

7.6 Zusammenfassung: Leibhaftig im Geheimnis geborgen

8. Beten im Pulsschlag des Lebens

8.1 Beten im Rhythmus des Tages. Das Stundengebet

8.1.1 Beten im Rhythmus der Schöpfung

8.1.2 Beten im Rhythmus des Tages

8.1.3 Das Leben wird Gebet – und das Gebet ermöglicht Leben

8.1.4 Die Gestalt des Stundengebets

8.2 Mit Gott auf das Leben schauen. Die abendliche Gewissenserforschung

8.3 Im Kontext der Feier. Die Gestalt liturgischen Betens

8.4 Mit den Füßen beten. Wallfahrt als Gebet

8.5 Beten im Rhythmus des Atems. Das Jesus-Gebet der östlichen Kirchen

8.6 Anregungen des »fremden Propheten«. Fernöstliche Meditationsformen

8.7 Das ganze Leben wird Gebet. Explizites Beten und implizites Leben in Gottes Gegenwart

9. »Herr, gib!«

9.1 Zwecklos? Beten als ein frag-würdiges Tun

9.2 Um alles bitten und es erhalten. Das biblische Zeugnis

9.3 Eine Entgegnung aus der Perspektive Gottes (Karl Rahner)

9.4 Beten ja, aber nicht um etwas Konkretes?

9.5 Beten um Zeichen der Auferstehung. Erkenntnistheoretische Vertiefung

9.6 Zwecklos? Ja, zweckfrei! Aber nicht sinnlos!

10. Wer und was uns zu beten lehrt

10.1 »Not lehrt beten«? Was uns zu beten lehrt

10.2 »Mutter-Sprache«. Wer uns zu beten lehrt

10.3 Gebetbücher. Lehrmittel des Betens

10.4 »Übung macht den Meister«. Wie wir zu beten lernen

11. Im Geheimnis geborgen. Ein Epilog

Literaturverzeichnis

Quellen

Allgemeine Literatur

Spezielle Literatur

Personenregister

Einführung: Scheinbar völlig nebensächlich?

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Eine Lebenszeitbudgetanalyse des deutschen Statistischen Bundesamts destatis von 2001/2002 zeigt, dass jedeR Deutsche im Laufe seines bzw. ihres Lebens durchschnittlich rund zwei Wochen für das Beten verwendet. Zwei Wochen – einen halben Monat, ungefähr 0,5 Promille der Lebenszeit. Der Zeitanteil des Gebets am gesamten Leben und Erleben ist damit extrem gering. Es scheint, als sei das Gebet für das durchschnittliche menschliche Leben in der modernen Industriegesellschaft ziemlich unwichtig.

Allerdings wäre der Schluss von der Menge auf die Wichtigkeit ein Kurzschluss. Auch der Sexualität widmen die Deutschen im Laufe ihres Lebens nur 1,5 Monate und damit 1,5 Promille der gesamten Lebenszeit. Aber niemand käme auch nur entfernt auf den Gedanken, dass Sexualität für das menschliche Leben unwichtig sei. Im Gegenteil wissen wir, wie entscheidend ein sinnerfüllender Umgang mit der eigenen Sexualität für das Gelingen des Lebens ist. Die (Zeit-)Menge sagt also wenig bis gar nichts über die existenzielle Relevanz eines Vollzugs.

Eher schon könnte heute die Zahl einschlägiger Internetseiten ein grober Indikator für die Wichtigkeit eines Gegenstands sein. Was den Menschen wichtig ist, darüber werden sie sich in dem Medium austauschen, das zum ersten und wichtigsten Kommunikationsort geworden ist. Und in der Tat: Nimmt man eine Suchmaschine und gibt die Schlagworte der zitierten Lebenszeitbudgetanalyse von destatis ein, dann holt das Gebet gegenüber allen Vollzügen außer der Sexualität deutlich auf. Zwar bleibt es mit 6 Mio. Internetseiten weiterhin das Schlusslicht, doch der Abstand hat sich deutlich verringert. Offenbar geht es um einen für viele Menschen auch in der Moderne wichtigen Grundvollzug.

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Selbst Menschen, die selber keine Gebetspraxis pflegen, gehen nicht selten der Frage nach, was denn Beten sei und was es womöglich »bringe«. Kommen sie in eine Klosterkirche, nehmen sie staunend und interessiert am Gebet der Mönche oder Nonnen teil und bewundern deren spirituelle Verwurzelung. Erleben sie das regelmäßige Tischgebet einer befreundeten Familie, drücken sie dafür ihren Respekt aus. Werden sie ZeugInnen einer muslimischen Gebetszeit, nötigt ihnen das nachdenkliche und ehrfürchtige Stille ab. Das Gebet beeindruckt und fasziniert also auch im aufgeklärten 21. Jh.

Dem trägt zwar eine unübersehbare Zahl praktischer Gebetsanleitungen und Gebetssammlungen Rechnung. Aber die Palette wissenschaftlich-theologischer Reflexionen bleibt sehr überschaubar und klein. Eine solche möchte dieses Büchlein im Sinne einer überblicks- haften Einführung liefern. Nach einer Eingrenzung der Fragestellung und einer Einordnung in das »Fach« Theologie der Spiritualität (Kap. 1) soll zunächst die anthropologische Bedeutung des Betens analysiert werden (Kap. 2), ehe sein dezidiert theologischer Gehalt (Kap. 3 und 4) und seine Bedeutung für das Verständnis der Kirche (Kap. 5) in den Blick kommen. Der Schatz jüdischen und christlichen Betens in der Bibel soll wenigstens kurz gestreift werden (Kap. 6), ehe die Aufmerksamkeit sich auf Ausdrucksformen (Kap. 7) und Gestalten (Kap. 8) des Betens richtet. Die seit Jahrhunderten am heißesten umstrittene Frage der Wirksamkeit des Bittgebets (Kap. 9) und die heute überaus dringliche Frage einer zeitgemäßen Gebetspädagogik (Kap. 10) schließen das Büchlein ab.

Als begrifflicher Leitfaden durch die gesamte Abhandlung dient der theologische Begriff des Geheimnisses. Spiritualität und Gebet können wir nicht rational-distanziert analysieren wie das Funktionieren eines Automotors oder das Gesetz der Schwerkraft. Vielmehr braucht es eine ganzheitliche, rationale und emotionale Annäherung an das Phänomen des Betens. Diese aber, so lautet eine uralte Erkenntnis der Theologie, ist nur möglich, wenn wir uns dem Geheimnis des menschlichen Lebens öffnen und dieses zulassen.

Was meint die Rede vom Geheimnis? Die Dogmatische Konstitution »Dei Filius« des I. Vatikanischen Konzils räumt im Jahr 1870 zwar ein, dass »eine gewisse Erkenntnis der Geheimnisse« des Lebens durch die Herstellung von Analogien zu innerweltlichen Vorgängen möglich sei. Doch nie sei das jene Art der Erkenntnis, wie sie üblicherweise der Vernunft zu eigen ist: Ein »Durchschauen der Wahrheiten« (perspicere veritatum) mag im Bereich der Naturwissenschaften möglich sein – im Bereich der Fragen nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen sei es unmöglich. »Denn die göttlichen Geheimnisse … bleiben mit dem Schleier des Glaubens selbst bedeckt und gleichsam von einem gewissen Dunkel umhüllt« (DH 3016).

Was das I. Vaticanum von Gott sagt, gilt selbstverständlich ebenso vom Menschen: Jeder Mensch ist und bleibt sich selbst und anderen ein Leben lang ein Geheimnis – sein Leben ist ihm permanent eine Frage, deren letzte Antwort er nicht ergründen kann (Karl Rahner 1967, 192). Der Grund der menschlichen Person ist ein unauslotbarer Abgrund. Damit steht der Mensch aber immer und unausweichlich vor der Frage, ob er sich dem Geheimnis seines Lebens anvertrauen kann oder ob er gegen es ankämpft wie gegen Windmühlenflügel; ob er sich fallen lassen kann und erfährt, dass das Geheimnis in der Lage ist, ihn zu tragen, oder ob er sich ängstlich verkrampft und sich dieser Erfahrung verschließt; ob er im Geheimnis daheim ist und Heimat findet oder ob es ihm fremd und bedrohlich bleibt.

Ein Geheimnis hat – solange es nicht zum angstbesetzten, zerstörerischen Tabu wird, sondern Freiheit, Ehrfurcht und Demut atmet – etwas Bergendes, Schützendes. Im Geheimnis kann ein Mensch daheim sein und Vertrauen in die Gutheit seines Lebens finden. Genau darum geht es wohl verstanden im christlichen Glauben. Der Glaube will beheimaten, bergen, wärmen und behüten. Doch tut er das recht verstanden nicht, indem er Gott und die Welt durchschaut und für alles eine glatte Antwort bietet. Vielmehr nähert er sich scheu und mit größter Vorsicht dem Geheimnis. Im Glauben wird das Geheimnis Gottes und des Lebens größer, nicht kleiner. Aber gerade dadurch immer wunderbarer.

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1. Theologie des Gebets und Theologie der Spiritualität

Zur Fragestellung und zum Fach

Ehe man ein Thema darstellt, ist es wichtig, es zu verorten: Wo ist sein (materialer) Platz auf der theologischen Landkarte? Was sind seine Nachbarthemen? Welche Querverbindungen gibt es zu ihnen? Verortung bedeutet aber nicht nur eine Aussage über die material-inhaltliche Ansiedelung eines Themas, sondern auch über die formale Methode seiner Behandlung: Welche theologische Disziplin ist für die gegebene Fragestellung primär gefragt? Von welcher Warte aus wird sie vorrangig betrachtet? Dem soll hier vorab zur konkreten Durchführung nachgegangen werden.

1.1 Die Fragestellung: Was heißt das eigentlich: Beten?

Was heißt das eigentlich: Beten? Was tun Menschen, wenn sie von sich sagen, sie beteten? Dies ist letztlich die analytische Frage nach dem Begriff des Betens: Bedeutet Beten nur, sich selbst und sein Ego zu bespiegeln und die eigenen Gedanken durch die Adressierung an Gott aufzuwerten? Heißt es, die Kommunikation mit anderen Menschen einfach zu introvertieren und ins Innere der eigenen Psyche zu verlegen? Bedeutet Beten sich selbst zu beruhigen und Autosuggestion bzw. autogenes Training betreiben? Oder eher Träumen und sich nach und nach eine Traumwelt aufbauen, die einen den alltäglichen Sorgen entreißt? Ist Beten mithin das Einnehmen einer spirituellen Droge, die einen betäubt und den Alltag leichter ertragen lässt, wie das Karl Marx mit seiner These vom »Opium des Volks«1 nahelegte? Aber selbst wenn das Gebet auch all das ist – ist damit über das Gebet schon alles gesagt? Ist es nur das? Oder kommt noch ein Aspekt dazu, der jenseits all dieser Beschreibungen aus der Distanz der Perspektive des unbeteiligten Beobachters liegt?

Wenn das Gebet durch die Klärung dieser Fragen als Gegenstand klar bestimmt ist und die Mechanismen seiner Genese erhellt sind, ergibt sich eine Folgefrage: Was heißt das nun für das Wie des Betens, seine Zeiten und Orte, seine spezifische Sprache, seine Inhalte, den leiblichen Vollzug? Das ist die normative Frage nach der angemessenen Praxis des Gebets.

Beide Fragen werden in dieser Abhandlung theologisch und damit wissenschaftlich reflektiert. Es geht nicht um einen Exerzitienvortrag oder eine Predigt, auch nicht um einen erbaulichen Impuls für das persönliche geistliche Leben, sondern um eine sorgfältige und zugleich mühsame Reflexion. Die Theologie des Gebets fordert die Anstrengung des Begriffs. Sie muss sauber argumentieren, klar formulieren und präzisieren und im Widerstreit der Argumente pro und contra eine bestimmte Position plausibilisieren. Dabei steht sie im Dialog mit Glaubenden, Andersglaubenden und Nichtglaubenden. Auf der Basis vernünftigen Denkens tritt sie mit ihnen in einen Dialog. Paradoxerweise gibt es im deutschen Sprachraum eine im Curriculum des Theologiestudiums verankerte Pflichtvorlesung mit dem Thema »Theologie des Gebets«, wenn ich es richtig sehe, nur an vier theologischen Fakultäten: an der katholischen Fakultät in Linz sowie an den evangelischen Fakultäten in Bochum, Hamburg und Heidelberg. Selbst an den Päpstlichen Universitäten in Rom ist ein solcher Kurs nicht zu finden. Das gibt zu denken. Denn immerhin sind wir hier am Kern jeder Theologie. So sagt der Mönchsvater Evagrios Pontikos (346 Ibora, Pontos – 399 in den Kellia, Ägypten): »Wenn du Theologe bist, betest du wahrhaftig; wenn du wahrhaftig betest, bist du Theologe«2 (De oratione 60). Gebet ist also das Herz jeder Theologie, ihre Quelle und ihr Ziel. Eine Theologie, die sich nicht am Gebet orientiert und von ihm inspirieren lässt, bleibt seelenlos. Eine Theologie, die nicht auf ein je wahrhaftigeres, redlicheres und lebendigeres Beten zielt, dient zu nichts.

1.2 Der Gegenstand: Das Gebet

Damit wir die Untersuchungen über das Gebet beginnen können, brauchen wir zunächst eine Arbeitsdefinition. Diese mag im Verlauf der Abhandlung verfeinert, ergänzt oder gar korrigiert werden, sie muss aber am Anfang klar umreißen, wonach wir suchen bzw. was wir untersuchen.

Eine erste Annäherung bietet die Etymologie: Im Hebräischen des Alten Testaments begegnen für das Phänomen des Betens vielfältige Begriffe. Folgende finden sich häufig:

– darasch = suchen

– halal = preisen

– palal (im Hitpael) = flehen

– chanan (im Hitpael) = Huld erbitten

– tefillah = Gebet

– tehillah = Lied

Damit ist schon eine große Bandbreite sowohl der möglichen Gebetsinhalte als auch der denkbaren Gebetsformen angedeutet. Es wird nicht leicht sein, all diese Varianten unter den Hut einer einzigen Definition zu bringen.

Das Griechische bietet in der Septuaginta und im Neuen Testament v.a. eine Wortwurzel:

– προσευχImage bzw. προσεύχομαι = bitten, flehen

– εύχομαι = sich rühmen – versprechen – beten, flehen

An der Tatsache, dass die eine Wurzel des Griechischen in der deutschen Übersetzung sehr viele Begriffe zur Auswahl fordert, zeigt den Wunsch der griechischen Bibel an, für viele benachbarte Phänomene einen Oberbegriff zu finden, ohne deren Vielfalt einzuebnen. Diesen Weg geht tendenziell auch das Lateinische:

– oratio = Rede, Vortrag, Ansprache, Gebet und orare = reden, sprechen, beten werden aber ergänzt durch einen zweiten Terminus

– precari = bitten, ersuchen, der u.a. im modernen Englisch »to pray« weiterlebt.

Das Deutsche konzentriert sich auf den Begriff

– »beten«, der von »bitten« abgeleitet ist, was seinerseits auf »binden« = vertraglich fordern zurückgeht.

Eine brauchbare Definition des Gebets muss das Spektrum der etymologisch gefundenen Wortbedeutungen in etwa abdecken und auf den Punkt bringen. Sie soll aber zudem so weit gefasst sein, dass sie noch das Gebetsverständnis aller Religionen umgreifen kann. Wir gehen ja davon aus, dass auch Buddhisten, Muslime oder Angehörige von Naturreligionen beten. Eine dezidiert christlich-theologische Definition des Gebets bereits an dieser Stelle würde zu viele potenzielle Einsichten verschließen und den Dialog mit Anders- oder Nichtglaubenden verunmöglichen. Die gesuchte Definition muss also eine religionswissenschaftliche sein.

Natürlich: Eine alle überzeugende und alles umfassende Definition gibt es nicht. Carl Heinz Ratschow schlägt folgende Bestimmung vor: Gebet ist das »dialogische Gegenüber zu einem angesprochenen höheren Wesen« (Carl Heinz Ratschow 1984, 31). Damit setzt Ratschow v.a. auf zwei Elemente: Die Situation einer Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen und deren kommunikative, dialogische Dimension. Beide Aspekte scheinen auch mir die unerlässlichen Eckpunkte eines Begriffs des Gebets zu sein. Jedoch möchte ich beide Formulierungen leicht abwandeln:

– Die Begriffe »dialogisch« und »angesprochen« betonen m.E. zu stark die Sprache. Die Möglichkeit nonverbaler Kommunikation, ja nonverbalen Kontakts mit dem Göttlichen, wie sie etwa in der Meditation im Vordergrund steht, wird von Ratschow zumindest nicht ausdrücklich gemacht, wenn nicht gar ausgeschlossen.

– Das »höhere Wesen« impliziert bereits die Annahme einer »Personalität« des Gegenübers. Ob das im Buddhismus oder in anderen fernöstlichen Religionen so akzeptiert würde, wage ich zu bezweifeln. Mir ist daher an dieser Stelle eine offenere Formulierung lieber.

Daher lautet mein Vorschlag einer Definition: Gebet ist die »bewusste ganzheitliche Begegnung mit dem Geheimnis«. Kurz einige Erläuterungen zu den verwendeten Elementen:

– bewusst: Gebet ist eine vom Menschen aktiv und zielgerichtet gesteuerte Handlung. Sie muss daher im Betenden bewusst sein und absichtlich geschehen – nicht unbedingt im Moment des Gebets (da ist sie idealerweise unbewusst – der Betende lässt sich fallen), wohl aber vor- und nachher in Vorbereitung bzw. Erinnerung.

– ganzheitlich: Gebet ist keine distanzierte Analyse, sondern ein Sich-hineinnehmen-Lassen in eine Beziehung. Daher kann es sich nicht allein im Wort oder im Denken vollziehen, sondern umfasst notwendig Gefühl und leibhaftigen Ausdruck. Beten geschieht ganzheitlich.

– Begegnung: In Differenz zu Ratschow verstehe ich Beten nicht allein als Wortgeschehen. Mit Ratschow betone ich den Begegnungscharakter des Betens. Wäre Beten reine Selbstbespiegelung oder pures Selbstgespräch, würde ihm ein entscheidendes Moment verloren gehen.

– mit dem Geheimnis: Der Begriff des Geheimnisses scheint mir für alle Religionen akzeptabel. Er lässt viel Spielraum, denn er kann das apersonale Göttliche oder den personalen Gott meinen. Statt sich bereits bei der Gebetsdefinition auf die Streitfrage »personal oder apersonal?« einzulassen, wird das Gemeinsame aller Religionen betont: dass sie den Sinn für das Geheimnis der Welt und des Lebens wecken und pflegen wollen. Zugleich wird mit der Betonung des Geheimnishaften einer ritualistisch entleerten Interpretation des Betens der Boden entzogen. Nicht der Mund muss beten, sondern das Herz.

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1.3 Das »Fach«: Theologie der Spiritualität

In welchem Zusammenhang steht die Frage nach der Theologie des Gebets? In welchem theologischen »Fach« stellen wir sie? Das Gebet ist in allen Religionen Teil der Spiritualität. Nun gibt es an manchen theologischen Fakultäten wie z.B. in Wien einen eigenen Lehrstuhl für »Theologie der Spiritualität« oder sogar eigene (Master- bzw. Lizentiats-)Studiengänge wie in Münster oder Nijmegen, Rom oder Chicago. Meist aber wird dieser spezifische Zugang einem der anderen theologischen Fächer zugeschlagen. Zumindest gilt damit die theologische Reflexion der Spiritualität fast an allen Fakultäten als ein eigenständiger Zugang mit einzelnen Lehrveranstaltungen und einer eigenen Abteilung in der Bibliothek. Im deutschen Sprachraum haben sich daher die betreffenden TheologInnen aller Konfessionen, die aus unterschiedlichsten theologischen Disziplinen stammen, zur »Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität« zusammengeschlossen und treffen sich regelmäßig zu Tagungen.

Was meint der Begriff Spiritualität? Der Begriff wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Französischen ins Deutsche und in andere Sprachen übertragen. Sein Gebrauch im nicht frankophonen Sprachraum ist mithin noch relativ jung. Historisch steht die weltweite Einführung des Begriffs Spiritualität für den kirchlichen Aufbruch in der Zeit des II. Vatikanischen Konzils: Das Konzil hat »spiritualité« dynamisiert und globalisiert.

Etymologisch steht am Ursprung die lateinische Wurzel »spiritualitas«, die bereits in frühchristlichen Schriften verwendet wird – erstmals im ersten Clemensbrief (als Adverb »spiritualiter«) und dann gehäuft bei Tertullian. »Spiritualitas« ist ihrerseits vom Adjektiv »spiritualis« abgeleitet – einem frühchristlichen Neologismus zur Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs »πνευματικImageς«, geistlich (fünfzehnmal bei Paulus, bes. 1 Kor 2,10–3,3; fünfmal in Eph, Kol und zweimal in 1 Petr). Diesen wiederum setzt Paulus den Begriff σαρκικImageς, fleischlich, entgegen, was die theologische Verwendung des Adjektivs wie des Substantivs prägt: Fleischlich ist jemand, der sich völlig im Diesseits verschließt, spirituell der, der sich dem Wirken des Heiligen Geistes öffnet.

In den letzten beiden Jahrzehnten ist der Begriff »Spiritualität« ein Modewort geworden – mit dem Nachteil, dass er sehr schillernd verwendet wird. Für seine Definition möchte ich vier Elemente vorschlagen:

1) Spiritualität ist Leben aus dem Heiligen Geist (aus der göttlichen Gnade, aus der Verbundenheit mit Jesus Christus).

2) Spiritualität ist Leben im Umgang mit der Wirklichkeit. Dualistisch verstandene Weltferne oder Wirklichkeitsenthobenheit ist kein Kennzeichen authentischer Spiritualität. Vielmehr wird diese gerade in der alltäglichen Wirklichkeit die Spuren Gottes zu entdecken versuchen. Spiritualität deutet die »Zeichen der Zeit« (GS 4). Nichts in dieser Welt ist von einem spirituellen Umgang prinzipiell ausgeschlossen. Spiritualität meint eine bestimmte Form der Wahr-Nehmung der je geschichtlich vorfindbaren Situation in Einheit von Erkennen und Tun.

3) Spiritualität ist eine »Gestalt des Glaubens« (Bernhard Fraling 1970, 193): Sie ist mehr als eine bloße innere Grundhaltung, etwa der Hingabe, des gläubigen Vertrauens, der Hoffnung (vgl. Hans Urs von Balthasar 1965, 715). Sie umfasst diese zweifellos, schließt aber zudem deren geschichtlich bedingten, je konkreten Ausdruck ein, ist also »fleischgewordene«, in einem Lebensstil gelebte Grundhaltung.

4) Spiritualität im Singular ist die eine, »epochale Grundgestalt des Glaubens« (Bernhard Fraling 1970, 193): Natürlich gibt es notwendig (!) Spiritualitäten verschiedener Individuen, Gruppen oder Bewegungen im Plural. Zunächst aber bezeichnet Spiritualität die in einer Zeit und einer Religion vorfindbare Grundgestalt geistlichen Lebens. Vorrangige Trägerin christlicher Spiritualität ist demzufolge die Kirche, deren Überlieferung in Schrift und Tradition die Gestaltwerdung der Spiritualität in eine konkrete Zeit hinein erst ermöglicht und deren Liturgie ihr den zentralen Kristallisationspunkt bietet. Christliche Spiritualität ist – bewusst oder unbewusst, gewollt oder nicht – immer kirchlich.

Aus diesen vier Komponenten lässt sich nun die Definition der Spiritualität in einem Satz zusammenfassen:

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Gegenstand der Spiritualität ist immer die Einheit von individueller und struktureller Wirklichkeit. Strukturelle Rahmenbedingungen als Ermöglichungsgrund individuellen Verhaltens müssen gleichermaßen spirituell durchdrungen und gestaltet werden. Klassisches Beispiel hierfür sind die Ordensregeln, Meisterstücke einer in Normen und Leitbilder gegossenen Spiritualität. Die Sorge um angemessene Strukturen in Kirche und Staat – in demokratischen Gesellschaften vorwiegend eine (kirchen-)politische Aufgabe – ist folglich keinesfalls nebensächlich. Im Gegenteil: Mystik und Politik sind untrennbar miteinander verbunden. Politik ohne Spiritualität wäre herz-los: Ihr fehlte die tragende Mitte. Und Spiritualität ohne politischen Biss bliebe halb-herzig: Sie wäre in romantischen Träumen gefangen. Die klassische Zweiteilung von Weltdienst und Heilsdienst als material voneinander abtrennbaren Bereichen ist damit überholt: In allem menschlichen Tun und Überlegen geht es um das Heil der Welt.

Spiritualität markiert in einer pluralen Welt einen Glaubensstandpunkt. Dieser mag pointiert und dezidiert vertreten werden, er bleibt rechtfertigungspflichtig (!) und wird zugleich gerade so, nämlich als dezidiert vertretener kommunikabel, rechtfertigungsfähig gegenüber Menschen anderer Religion oder Weltanschauung (vgl. Andreas Renz/Hansjörg Schmid/Jutta Sperber 2006 [Hg.]), aber auch zwischen Menschen desselben christlichen Glaubens – sei es, um strittige Fragen zu klären, sei es, um diese Spiritualität weiterzugeben. Dazu muss er freilich vernunftmäßig erschlossen und plausibel dargestellt werden. Denn die Vernunft ist in der abendländischen Tradition die anerkannte Basis jeden Dialogs.

Genau dieser vernunftbasierte Dialog ad intra und ad extra über christliche Spiritualität ist Aufgabe des Fachs »Theologie der Spiritualität« als eines eigenen Faches oder Fachbereichs innerhalb des theologischen Fächerkanons. Sein Materialobjekt ist die christliche Spiritualität. Sein Formalobjekt ist einerseits die (primär) philosophische Anthropologie. Sie stellt aus der Außenperspektive des (relativ) distanzierten Beobachters die Frage, inwieweit Spiritualität dem menschlichen Existenzvollzug dient, ihn spiegelt und etwas über den Menschen und seine Gottesvorstellung sagt. Sein Formalobjekt ist andererseits die theologische Analyse. Diese untersucht aus der Binnenperspektive des engagierten Teilnehmers (also des spirituell lebenden Christen), inwieweit das Evangelium etwas von der christlichen Spiritualität und diese etwas von Gott sagt. Nach Karl Rahner ist Theologie immer zuerst und zuletzt Anthropologie: Da Gott verborgen bleibt, können wir letztlich nur über uns und über unsere Offenheit auf das absolute Geheimnis hin sprechen. Die beiden Formalobjekte der Theologie der Spiritualität lassen sich also gar nicht voneinander trennen.

In der hier vorgeschlagenen Ausrichtung ist die Theologie der Spiritualität Teil der systematischen Theologie. Natürlich muss sie auf biblische, historische und praktische Erkenntnisse zurückgreifen. Doch wird sie diese in einen systematischen Fragehorizont einordnen. Das gilt logischerweise auch für die hier vorgelegte Abhandlung einer Theologie des Gebets. Diese kann v.a. – und das soll von vorneherein eigens betont werden – nicht primär oder ausschließlich liturgiewissenschaftlich erfolgen. Zu keiner Zeit war christliches Beten beschränkt auf die Liturgie. Wenngleich dem liturgischen Beten im kirchlichen Leben eine herausragende Rolle zukommt, wäre es doch eine Verkümmerung der Spiritualität, würden die ChristInnen nur in der Liturgie und nur in liturgischen Formen beten. Eine Theologie des Gebets muss also material weiter ausgreifen als eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung, sie hat aber auch formal eine viel fundamentalere Perspektive: Es geht ihr nicht um Ort und Bedeutung des Gebets in der Liturgie, sondern im menschlichen Leben ganz allgemein.

1.4 Die spezifische Rolle einer Reflexion des Gebets für die Theologie

»Oratio est propriae religionis actus« – »Das Gebet ist der ureigenste Vollzug der Religion« (Thomas von Aquin, s.th. II–II, q 83 a 3). Mit diesem lakonischen Satz charakterisiert Thomas das Gebet als innersten Kern der Religiosität – wir würden heute sagen: der Spiritualität. Ohne Gebet wäre Religion nicht Religion und ein spirituelles Leben unmöglich. Die Reflexion dessen, was Gebet ist, kann also nicht beliebig zur Disposition gestellt werden. Ohne Theologie des Gebets wäre Theologie keine Theologie und eine Theologie der Spiritualität nicht möglich.

Insbesondere aber schlägt die Theologie des Gebets zu zwei theologischen Disziplinen eine besondere Brücke:

– Im Sinne des alten Satzes »Lex orandi est lex credendi« (»Das Gesetz des Gebets ist das Gesetz des Glaubens«) ist jedes Gebet »sprechender Glaube« (Gisbert Greshake 2005, 57) und ein Bekenntnis. Die Lehre der Kirche darf der Praxis ihres Betens nicht widersprechen, sondern muss sich vielmehr daran orientieren. Und wiederum möchte ich betonen: es geht hier nicht nur um das Gesetz liturgischen Betens! Nicht nur die Orationen der liturgischen Bücher sind normgebend für die kirchliche Dogmatik, sondern auch die persönlichen Gebete und Gebetsformen der Gläubigen – von den Gebeten großer Heiliger bis zu Ausdrucksformen des gläubigen Volkes in anderen Kulturen, von den Gebetsvertonungen der Gregorianik bis zu den Gebetstänzen in Afrika. Sie alle sind loci theologici, theologische Orte, auf die die kirchliche Lehre zurückgreifen muss. Dass umgekehrt dogmatische Festlegungen auch kritisierend und korrigierend auf die Gebetspraxis der Gläubigen einwirken müssen, versteht sich von selbst. Niemand glaubt allein, niemand betet allein. Beten ist immer Ausdruck gemeinschaftlicher Vollzüge und Bezüge.

– In einer Abwandlung möchte ich aber ebenso sagen: »Lex orandi est lex vivendi« (»Das Gesetz des Gebets ist das Gesetz guten Lebens«). Beten ist »praktischer Glaube« – es gibt menschlichem Handeln Orientierung und Korrektur, Motivation und Gelassenheit. Die christliche Gebetspraxis ist also nicht nur normgebend für die kirchliche Dogmatik, sondern auch für die kirchliche Morallehre