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Hermann Kues

Was Kirche
und Gesellschaft
zusammenhält

Pragmatische Politik in
christlicher Verantwortung

Mit einem Vorwort von
Reinhard Kardinal Marx

Hermann Kues

Was Kirche
und Gesellschaft
zusammenhält

Pragmatische Politik in
christlicher Verantwortung

Mit einem Vorwort von
Reinhard Kardinal Marx

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

Vorwort von Reinhard Kardinal Marx

Worum es mir geht –

Engagiert sein für Kirche und Gesellschaft

Christliche Politik –

zwischen festen Grundsätzen und praktikablen Lösungen

Die Zeichen der Zeit verstehen und handeln –

Kirche und Politik in historischer Perspektive

Es geht um das Gemeinwohl! –

Perspektiven einer modernen christlichen Volkspartei

Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft –

Die Demokratie wird neu vermessen

Kirche für die Zukunft

Jedem eine Chance! –

Die Aktualität der christlichen Soziallehre

Über Werte und Haltungen –

Hermann Kues über …

Literatur

Zur Person: Dr. Hermann Kues

Vorwort

von Reinhard Kardinal Marx

„Der Einsatz des Christen in der Welt hat in der 2000-jährigen Geschichte verschiedene Ausdrucksweisen und Wege gefunden. Einer davon ist die aktive Teilnahme in der Politik.“ Mit diesen Worten beginnt die Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, die vor zehn Jahren, am 24. November 2002, von der Kongregation für die Glaubenslehre veröffentlicht worden ist. Mit dieser Note hat die Glaubenskongregation unter ihrem damaligen Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger zu verschiedenen Herausforderungen des Engagements von gläubigen Laien in der Politik Stellung bezogen.

Das politische Engagement von Christen ist aber nicht nur irgendeine Option christlichen Handelns. Der christliche Glaube fordert vielmehr dazu heraus, sich an der Gestaltung der Geschicke der Welt zu beteiligen. Christen können nicht gleichgültig bleiben gegenüber den Entwicklungen ihres persönlichen Umfelds und der Gesellschaft. Weil der Mensch als Person nach christlichem Verständnis nicht nur Individuum, sondern immer auf ein Gegenüber und die Gemeinschaft angewiesen ist, trägt er auch Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern für seine Umgebung und die Gesellschaft. Deshalb nehmen Christen Anteil an den gesellschaftlichen Diskussionen und an den politischen Fragen. Das Evangelium macht den Gläubigen sensibel für die Nöte des Nächsten, für gesellschaftliche Ungerechtigkeit und für den Einsatz für den Frieden. Deshalb heißt Christsein politisch sein.

Dies muss deutlich unterstrichen werden in einer Zeit, in der es immer mehr als unschicklich gilt, sich in der Politik vermeintlich „die Finger schmutzig zu machen“. Denn in den komplexen Zusammenhängen der Politik können Ideen und Konzepte oft nicht in Reinform realisiert werden. Politik braucht nicht nur Visionen, sondern auch Pragmatismus und Kompromiss. Denn die Demokratie setzt die Suche nach Mehrheiten und damit den Kompromiss voraus.

Das demokratische Mehrheitsprinzip hat auch Papst Benedikt XVI. in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 unterstrichen: „In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen.“

Gerade deshalb ist es wichtig, dass sich die Christen in die gesellschaftliche Diskussion einmischen und auf Grundlage des christlichen Verständnisses vom Menschen Politik gestalten. Daher freue ich mich, wenn ein vielfältig in Kirche, Staat und Gesellschaft engagierter Katholik wie Hermann Kues aus christlicher Verantwortung seine Überlegungen zur Gestaltung der Gesellschaft vorlegt.

Denn das politische Engagement ist nicht nur eine Frage der verfassten Kirche, sondern fordert in erster Linie die Laien heraus. Die Lehrmäßige Note aus dem Jahr 2002 formuliert dazu: „Gerade weil es nicht Aufgabe der Kirche ist, konkrete Lösungen – oder gar ausschließliche Lösungen – für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat, bedarf es umso mehr des engagierten Einsatzes der einzelnen Christen in der Gesellschaft.“

Der christliche Glaube hat zwar eine gesellschaftlich wirksame Dimension, kann aber nicht im Sinne eines politischen Programms verstanden werden. So hat auch Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag betont, dass sich im Gegensatz zu anderen großen Religionen das Christentum bewusst dagegen entschieden hat, aus der Offenbarung selbst ein staatliches und gesetzgeberisches Programm zu machen.

Allerdings gibt die Katholische Soziallehre, die immer vom Menschen ausgeht, einen Kompass für das politische Handeln. So soll auch die Politik nach dem suchen, was dem Menschen gemäß ist.

Dies stellt uns immer wieder neu vor Herausforderungen: Heute geht es um die Zukunft unserer Demokratie angesichts neuer und veränderter Partizipationsmöglichkeiten. Es geht im sozialen und wirtschaftlichen Bereich um die Realisierung einer chancengerechten Gesellschaft, die jedem unabhängig von seiner sozialen Herkunft Möglichkeiten zur Teilhabe, etwa an gesellschaftlichen Prozessen, zum Aufstieg und zur Lebensentfaltung eröffnet. Wie die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Ökologische Krise zeigen, geht es um die Gestaltung einer gerechten globalen Ordnung, die auf ein Weltgemeinwohl abzielt und damit die Armen in der Welt und die nachfolgenden Generationen nicht aus dem Blick verliert. Und schließlich geht es um die Fortsetzung des Europäischen Einigungswerks, dessen Brüchigkeit, aber auch Notwendigkeit die Schuldenkrise vor Augen führt.

All diese Herausforderungen verdeutlichen, wie sehr die Gesellschaft heute und in Zukunft das Engagement von Christen braucht, die sich um des Menschen willen für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen.

Und so danke ich Hermann Kues und mit ihm allen Politikerinnen und Politikern, die sich im Geist der Katholischen Soziallehre engagieren und so versuchen, unsere Welt etwas gerechter und menschenfreundlicher zu machen.

Reinhard Kardinal Marx ist Erzbischof von München und Freising, Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) und Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz

Worum es mir geht – Engagiert sein für Gesellschaft und Kirche

Dieses Buch ist geschrieben worden, um Verständnis für das Engagement in Politik, Gesellschaft und Kirche zu wecken, mehr noch: um Lust auf Politik und – soweit mir das zusteht – auch auf den Glauben zu machen. Es ist aus der Erfahrung meiner Tätigkeit als Abgeordneter für den Wahlkreis Mittelems, als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, als Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken gewachsen.

Niemand kommt als Politiker/in oder engagierter Christ auf die Welt. Aber die Weichen werden oft, so auch in meinem Fall, früh gestellt. Meine Eltern waren in ihrer Kirchengemeinde aktiv. Wir Kinder wurden wie selbstverständlich dazu angehalten, kleinere und größere Aufgaben in unserem Umfeld, und dazu zählte auch das kirchliche Leben, wahrzunehmen. Ich selbst habe das Interesse an öffentlichen Angelegenheiten förmlich ‚mit der Muttermilch aufgesogen‘. Es war nur ein kleiner Schritt von der katholischen Jugendarbeit in die Schülermitverantwortung, schließlich auch in die Junge Union. Dabei hatten es mir von Anfang an weniger die großen Utopien angetan als die alltäglichen Herausforderungen der Menschen, die mir begegnet sind. Politik ist für mich die Aufgabe, unsere Lebensverhältnisse ein bisschen vernünftiger zu gestalten, als sie es bislang sind. Sie fängt in der Regel nicht mit den Visionen für eine bessere Welt an, sondern mit dem Engagement im Kleinen, in der Jugendgruppe oder im Schülerparlament. Peanuts? – Keineswegs. Politik hat nämlich mit Leidenschaft zu tun, sie lässt einen nicht mehr los, wenn man einmal von ihr gepackt ist und gemerkt hat, dass man etwas erreichen kann. Dabei steckt der Teufel, wie überall im Leben, im Detail. Forderungen lassen sich leicht auf Transparente schreiben und verpflichten erst einmal zu nichts. Politisch im engen Sinne sind sie deshalb noch nicht, die eigentliche Arbeit beginnt erst danach.

Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass Politik etwas bewirkt. Sie ist, wie es Václav Havel gesagt hat, „Moral in Aktion“, die „Kunst, sich selbst und die Welt besser zu machen“. Wer sich ihr verschreibt, muss ‚dicke Bretter bohren‘ oder – um ein anderes Bild zu bemühen – weite Wege gehen können, die am Schluss zum richtigen Ziel führen. Dass rund 30 Prozent der Deutschen sich bürgerschaftlich engagieren, aber nur zwei Prozent im engeren Sinne parteipolitisch, macht mir Sorgen. Deshalb ist dieses Buch als doppelte Aufforderung zur Politik zu verstehen. Die Bürgergesellschaft muss in der Politik ihre ureigene Sache sehen. Politiker und Parteien müssen zum Engagement ermutigen. Eine „Zuschauerdemokratie“, vor der Werner Remmers vor 30 Jahre gewarnt hat, können wir uns nicht leisten. Deshalb braucht es Reformen im Verhältnis zwischen den Parteien und der Bürgergesellschaft.

Entfremdung – darauf läuft das Verhältnis zwischen ‚der Politik‘ und den Bürgerinnen und Bürgern hinaus. Entfremdung kennzeichnet auch das Verhältnis der Gläubigen zur Kirche – in meinem Falle zur katholischen Kirche. Der Vertrauensverlust, den sie derzeit erleidet, ist dramatisch. Im Jahr 2010 sind mehr Leute aus der Kirche ausgetreten als getauft wurden, rund 180 000.

Man muss schon – in einem biblischen Bild – von einem Exodus in großem Stile sprechen. Er schmerzt mich. Denn ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft ohne eine vitale, engagierte Kirche ärmer wäre. Viele kehren ihr den Rücken, aber sie geben ihr religiöses Suchen nicht auf. Unsere Gesellschaft braucht den Rat der Kirchen, vor allem in sozialen und ethischen Fragen. Es war kein Zufall, dass Reinhard Marx als Vertreter der deutschen Bischöfe und Alois Glück als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in der Ethik-Kommission zu Fragen der Kernenergie ein gewichtiges Wort mitgesprochen haben. Darin liegt ein großer Vertrauensvorschuss. Eine Gesellschaft, die nach Orientierung sucht, kann auf die Stimme der Kirchen nicht verzichten. Allerdings müssen die Kirchen auch sich selbst reformfähig zeigen, wenn sie plausible Antworten auf die Fragen der Zeit geben wollen. Ich fürchte, dass die Repräsentanten der Kirche noch viel zu wenig Kraft darauf verwenden, Vertrauen zurückzugewinnen und für ihre Sache zu werben, zumal dies nicht mit Appellen allein, sondern zuerst dadurch möglich wird, dass die Kirche sich ändert – und spürbar auf die Menschen zugeht. Da sind nicht nur die Amtsträger gefragt. Alle, die wie ich den Glauben als Kind kennengelernt haben, haben Verantwortung dafür, dass er weitergetragen wird.

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An der Ems in meiner Heimatstadt Lingen. Für die Politik hilft es enorm, die Bodenhaftung nicht zu verlieren und ein normales Leben in Familie, Verwandtschaft, Gemeinde und unter Freunden zu führen. (Foto: Frank Ossenbrink)

Als christlich orientierter Politiker bewege ich mich beständig im Spannungsfeld widerstrebender Ansprüche. Dabei geht es nicht nur um Forderungen der Kirche, die sich möglicherweise nicht eins zu eins politisch durchsetzen lassen. Es geht um die noch grundsätzlichere Frage, ob sich überhaupt aus dem Glauben heraus Politik gestalten lässt. Die beiden Sphären des Religiösen und des Politischen dürfen sich nicht misstrauisch beäugen, sie dürfen sich auch nicht gegeneinander abgrenzen. Vor allem aber dürfen sich nicht gegenseitig überfordern.

Auch in dieser Hinsicht bin ich Optimist. Ich glaube, dass das christliche Menschenbild durchaus politiktauglich ist. Meiner Partei – der CDU – bietet es nach wie vor einen soliden Orientierungsrahmen. Die christliche Sozialethik, wie sie im 19. Jahrhundert seit Wilhelm Emmanuel von Ketteler und Papst Leo XIII. entwickelt wurde und bis zum gegenwärtigen Papst immer wieder fortgeschrieben wird, hat ein enormes Anregungspotential. Politik braucht solche Leitbilder, an denen sie sich orientiert, aber sie muss dann pragmatisch handeln. Das ist ihre Kunst: Das Wünschbare an der Lebenswirklichkeit zu messen.

Ich hatte in den letzten acht Jahren das Glück, Gesellschafts- und Familienpolitik mitzugestalten. Für Familien, für Alleinerziehende, für Kinder mit prekären Startbedingungen, für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige ist eine ganze Menge erreicht worden – jenseits dogmatischer Scheuklappen. Dass viele Themen – man denke nur an das Betreuungsgeld und den Ausbau der frühkindlichen Förderung – in der Öffentlichkeit heiß diskutiert worden sind, sehe ich als ein positives Signal für eine wache Gesellschaft.

Politiker sollten Spannungen aushalten, Gräben überbrücken und kluge Kompromisse finden können. Das ist ihre vornehmste, aber sicher auch schwierigste Aufgabe. Dabei hilft es enorm, die Bodenhaftung nicht zu verlieren und ein normales Leben abseits der Politik in Familie, Verwandtschaft, Gemeinde und unter Freunden zu führen. Dort habe ich viele Anregungen bekommen, die dann am Ende doch wieder Politik geworden sind. Deshalb sei allen gedankt, die mir Rat gegeben, mich ermutigt und bestärkt, gelegentlich auch kritisch angefragt haben.

Begreifst du aber, wieviel andächtig Schwärmen
leichter als gut handeln ist?

Lessing, Nathan der Weise

Christliche Politik – zwischen festen Grundsätzen und praktikablen Lösungen

Eine künstliche Befruchtung ist für Paare, deren Kinderwunsch sich auf natürlichem Wege nicht erfüllt, eine belastende Prozedur. Die Frau muss sich einer Hormonbehandlung unterziehen, damit mehrere Eizellen in einem Zyklus reifen. Sie werden operativ entfernt und künstlich in Reagenzglas und Brutschrank befruchtet. Anschließend werden bis zu drei Embryonen in die Gebärmutter eingesetzt, in der Hoffnung, dass sich einer von ihnen in die Gebärmutterschleimhaut einnistet und weiterentwickelt. Die Aussicht, tatsächlich schwanger zu werden, liegt bei rund 28 Prozent. Häufig muss das Verfahren mehrmals wiederholt werden, bis sich der Erfolg einstellt.

Eine kleine Gruppe werdender Eltern, die sich der In-Vitro-Fertilisation unterzieht, trägt ein zusätzliches Risiko, die Veranlagung zu einer schweren Erbkrankheit oder die Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) minimiert dieses Risiko. Sie untersucht Embryonen nach einer künstlichen Befruchtung auf genetisch bedingte Krankheiten. Gesunde Embryonen werden der Mutter eingepflanzt, belastete aber verworfen. Das Verfahren gibt es seit den 1990er Jahren, es ist bislang weltweit in rund 11 000 Fällen angewendet worden.

Für die Eltern bedeutet die erfolgreiche PID häufig die letzte Chance auf ein gesundes Kind. Vor allem vermeidet sie – darauf weisen ihre Befürworter hin – die Abtreibung im Verlauf der Schwangerschaft, wenn sich bei der Pränataldiagnostik herausstellt, dass das Ungeborene tatsächlich schwer behindert ist. Andererseits gibt es eine Reihe ethischer Bedenken gegen die PID. Sie greift massiv in den Anfang menschlichen Lebens ein, der eigentlich der Verfügbarkeit durch Wissenschaft und Technik entzogen sein sollte. Embryonen sollten den höchsten Schutz genießen, gerade weil sie die schwächsten Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft sind. Sie dürfen nicht von bestimmten Eigenschaften abhängig gemacht werden, Menschen dürfen keinen Qualitätstests unterliegen. Zudem sind Fernwirkungen der PID zu bedenken, die zwar nicht sofort eintreten, aber in Zukunft zu erwarten sind. Die Fachleute nennen das ‚slippery slope‘, die schiefe Ebene: Mit der PID könnte eine neue Eugenik salonfähig werden, die Entscheidungen über den Wert oder Unwert menschlichen Lebens trifft. Designerbabys sind denkbar, Eltern können via Präimplantationsdiagnostik bestimmte Eigenschaften ihres Kindes vorausplanen. Was das Geschlecht angeht, so ist dies in den Vereinigten Staaten und Israel heute schon der Fall. Die gesellschaftliche Akzeptanz von kranken und behinderten Menschen könnte nachlassen, wenn sich zukünftig Behinderungen vorhersagen und möglicherweise ausschließen lassen. Zusammengefasst: Die Präimplantationsdiagnostik mag eine beeindruckende technische Möglichkeit der Fortpflanzungsmedizin sein, sie lässt sich aber mit dem Grundwert der uneingeschränkten Würde jedes Menschen von Anfang an nicht vereinbaren.

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Mit Kardinal Ratzinger, damals noch Präfekt der Glaubenskongregation, in Rom. Gesetzt den Fall, so habe ich ihn gefragt, ich müsste eine Ethik-Kommission leiten, deren Ergebnis sich mit der Position der Kirche nicht deckt. Erhalte ich von der Kirche Zustimmung oder werde ich verurteilt? Seine Antwort: Weder noch. Die letzte Verantwortung müsse ich vor mir selbst, vor meinem Gewissen tragen. (Foto: Privat)

Diese – notwendigerweise knappe und sicher nicht vollständige – Darstellung eines schwierigen Problems habe ich mit Bedacht an den Anfang dieses Buches gestellt. Der Deutsche Bundestag hat am 7. Juli 2011 über die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik entschieden. Vorausgegangen war eine jahrelange Diskussion, und die Voten waren quer über die politischen und weltanschaulichen Lager verteilt. Der Bundesgerichtshof hatte einen Arzt freigesprochen, der die PID angewendet und sich selbst angezeigt hatte, um Rechtssicherheit zu erlangen. Die Bundesärztekammer sprach sich für die Zulassung bei hohem genetischem Risiko der Eltern aus, ihr Vorsitzender Frank Ulrich Montgomery allerdings lehnt sie als einen „Ansatz zur Selektion menschlichen Lebens“ ab. Der deutsche Ethikrat, der sich wohl am intensivsten mit der Problematik auseinandergesetzt hat, fand keine einhellige Meinung. Eine knappe Mehrheit votierte dafür, die Minderheit dagegen. Einige Behindertenverbände setzten sich für ein Verbot ein, ebenso die beiden großen Kirchen, wobei die Ablehnung der katholischen Kirche einhellig ausfällt, während es in der evangelischen auch abweichende Stimmen gibt.

Dieses Gesamtbild der Unentschiedenheit prägte auch den CDU-Parteitag 2010 in Karlsruhe, auf dem sich am Ende eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Delegierten für ein Verbot der PID ausgesprochen hat. Angela Merkel, Volker Kauder und Hermann Gröhe hatten sich für das Verbot ausgesprochen. Peter Hintze, Katherina Reiche und Ursula von der Leyen votierten – neben vielen anderen – dagegen. Keinem kann man vorwerfen, sich die Entscheidung leicht gemacht zu haben. Die Erfüllung des Kinderwunsches, die Unterstützung von Eltern in einer schwierigen Situation, die Verhinderung von Abtreibungen – das sind gewichtige Argumente. Und andererseits: Hier wird, wie Volker Kauder es formuliert hat, eine Tür geöffnet „und wir wissen nicht, was nach der Tür kommt“.

Ich habe in Karlsruhe für ein Moratorium plädiert, weil ich das Gefühl hatte, es werde noch mehr Zeit benötigt, um die Frage wirklich nach allen Seiten hin zu beleuchten. Scheinbar klare, einfache Antworten helfen oft eben nicht weiter. Der medizinische Fortschritt stellt uns vor Entscheidungen, denen wir moralisch noch nicht gewachsen sind.

Als die Entscheidung im Bundestag anstand, habe ich mich dem Entwurf von Karin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) und Johannes Singhammer (CSU) für ein striktes Verbot der PID angeschlossen. Er fand 228 Anhänger. Durchgesetzt hat sich mit knapper Mehrheit von 306 Stimmen der Gesetzentwurf von Ulrike Flach und Peter Hintze, der die PID in engen Grenzen erlaubt. Er bedeutet keinen Freifahrtschein. Es wird in Deutschland drei, höchstens vier PID-Zentren geben, an denen jeder Einzelfall von einer Ethik-Kommission geprüft wird.

„PID“ ist ein Musterfall für das Dilemma, in dem christlich orientierte Politiker stecken. Ich komme um die Mahnung von Papst Johannes XXIII. nicht herum, dass Leben von Anfang an heilig ist, weil „es von seinem ersten Aufkeimen an das schöpferische Eingreifen Gottes verlangt“ (Mater et Magistra Nr. 194). Der ungeborene Mensch ist auch im Anfangsstadium ein Wunder, das wir Menschen nicht ergründen können und gerade deshalb besonders schützen müssen. Ich komme auch nicht um die Sorge vor einer Art Dammbruch herum, die Frank Ulrich Montgomery umtreibt: „Denken Sie allein daran, dass heute 95 Prozent der Kinder mit Down-Syndrom abgetrieben werden. Ich sehe auch bei Gentests an künstlich erzeugten Embryonen die große Gefahr, dass am Ende alles gemacht werden könnte, was medizinisch-technisch möglich ist. Wir leben in einer Welt der Salami-Taktik, wo Stückchen für Stückchen abgeschnitten wird“ (Das Parlament vom 11. Juli 2011).

Andererseits: Die Erfahrung anderer Länder, in denen die PID seit längerem erlaubt ist, deutet nicht darauf hin, dass Behinderungen weniger akzeptiert werden. Ohnehin wäre es illusorisch zu hoffen, auf diesem Wege ließen sie sich aus der Welt schaffen. Es gibt in Deutschland rund 1,5 Mio. Menschen mit einer schweren Behinderung. Nur zehn Prozent davon sind genetisch bedingt, die meisten entstehen bei der Geburt oder später im Leben durch einen Unfall. Und selbst von den genetisch bedingten lassen sich die meisten durch eine PID nicht diagnostizieren. Gewichtig ist auch das Argument von Ursula von der Leyen, man könne nicht Gen-Untersuchungen bei einer befruchteten Eizelle in der Glasschale verbieten, die dann später am Embryo im Mutterleib stattfinden dürfen. Die PID müsse – immer in den beschriebenen engen Grenzen – erlaubt sein, weil sie es einer kleinen schicksalsgeprüften Gruppe von erblich belasteten Paaren erlaube, ja zum Kind zu sagen.

Gesellschaft und Politik haben sich schwer mit der Entscheidung getan, Für und Wider hielten sich geradezu die Waage. Ähnliches haben wir schon in den 1970er Jahren bei der Reform des Paragraphen 218 StGB erlebt. Auch hier zog sich die Debatte über viele Jahre hin, von einer ursprünglichen Fristenregelung (1974), die das Bundesverfassungsgericht verwarf, bis zu einer Indikationenlösung mit verbindlich vorgeschriebener Beratung. Sie unterscheidet deutsches Recht von dem in den meisten Ländern der Erde. Ideal im Sinne einer fundamentalen Position ist sie nicht, aber ein guter Kompromiss, getragen von der Hoffnung, dass die Beratung vielen Frauen hilft, sich letztlich für das Kind zu entscheiden. Der wirksamste Schutz für das Kind kann eben nur gemeinsam mit der Mutter erreicht werden (vgl. Maier 2011).