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Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität
Verantwortlich als Erster Vorsitzender:
Andreas Wollbold

Spirituelle Theologie

Band 3

Veit Neumann · Ansgar Wucherpfennig (Hg.)

Dantes Göttliche Komödie
und die Spiritualität

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

Einführung

Veit Neumann

Literatur, Theologie und Spiritualität

Hartmut Köhler

Literaturwissenschaftliche Einführung in Dantes Commedia

Jörg Splett

Zu Dantes „Poema Sacro“ im Blick auf unsere Spiritualität

Ansgar Wucherpfennig

Was geschieht mit den Toten?
Dante, die Johannesoffenbarung und andere apokalyptische Schriften

Andreas Wollbold

„Il tesoro“ - Dante, die Liebe und die Gelübde

Katharina M. Karl

Veni, Creator Spiritus.
Konturen einer Spiritualität kreativer Seelsorge

Einführung

Der vorliegende Sammelband geht auf die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Theologie und Spiritualität (AGTS) im vergangenen Jahr 2011 zurück. Sie hatte sich Dantes Göttliche Komödie zum Thema gewählt. Warum ein solches Thema für eine Gruppe, die sich als erklärtes Ziel gesetzt hat, wissenschaftliche Theologie und Spiritualität wieder mehr aneinander anzunähern? Sicherlich, Dantes Göttliche Komödie gehört zu den faszinierendsten Stücken der Weltliteratur. Sie hat das große religiöse Weltbild über Zeiten vermutlich stärker geprägt als jede andere Literatur, zeitweise vielleicht sogar noch mehr als die Bibel. Dennoch stellt sich die Frage: Warum hat sich die Arbeitsgemeinschaft für Theologie und Spiritualität mit diesem Werk Dantes befasst? Müsste es nicht viel mehr ein Anliegen der Arbeitsgemeinschaft sein, ausdrückliche spirituelle Themen anzugehen? Solche Themen liegen ja unmittelbar auf der Hand: Gelingendes Leben, Scheitern, Kirchlichkeit der Spiritualität …

Die Beschäftigung mit der Göttlichen Komödie ist aus der Überzeugung gewachsen, dass das Lesen von Literatur einen Zugang zu spirituellem Fragen öffnet, der leider zu oft vernachlässigt ist. Lesen ist kein äußerlicher Rezeptionsvorgang, sondern Lesen ist eine geistliche Erfahrung. Die Tradition der Kartäuser empfiehlt als ersten Schritt der Meditation das Lesen. Vor aller inneren Betrachtung soll ich den zu betrachtenden Text so lesen, als ob ich ihn zum ersten Mal läse, deshalb weil bereits ein aufmerksames Lesen den Menschen verändert. Aufmerksames Lesen bedeutet ein Hören auf den Text. Diese Verbindung von Lesen und geistlichem Wachsen ist eines der Grundmotive der Göttlichen Komödie. Sie beginnt Nel mezzo del cammin di nostra vita … in der Mitte eines Lebenswegs. In einer Mittlebenskrise wird der Wanderer, Dantes literarisches Ich, in die Jenseitswelten geführt. Der Leser, der den Wanderer auf seinen Wegen durch Hölle, Reinigungsort und Paradies im Lesen begleitet, wird nicht unverändert wieder auf die Wege seines Lebens zurückkehren.

Wir folgen in der Wiedergabe der Beiträge der Reihenfolge der Tagung. In einem Eröffnungsreferat ist Dr. Neumann in einer grundlegenden Reflexion dem Zusammenhang von Literatur und Spiritualität nachgegangen. Bei der Tagung haben wir uns durch Prof. Hartmut Köhler durch die Göttliche Komödie führen lassen. Es war der Wunsch der AGTS, einen literaturwissenschaftlichen Beitrag zur Göttlichen Komödie zu haben. Hartmut Köhler war dafür ein großer Gewinn. Er hat aus der Erfahrung seiner großartigen Neuübersetzung im Reclam-Verlag mit viel sprachlichem Feingefühl in die Sprache und den „Geist” – spirituale – Dantes eingeführt. Sein Beitrag ist hier im Wesentlichen in seinem mündlichen Vortragsstil belassen und nur an einigen Punkten für die schriftliche Fassung geglättet worden. Prof. Jörg Spletts Beitrag führt in Dantes philosophischen Hintergrund ein. Als christlicher Philosoph zieht Splett eine Summe seiner geistlichen Lektüre der Göttlichen Komödie. Dabei wird die Frage nach Gott und Mensch gleichermaßen virulent. Denn die Göttliche Komödie stellt die Frage nach dem Menschen immer schon als Frage nach einem personalen Gott und seiner Liebe zum Menschen. Theologie und Anthropologie sind hier unlösbar miteinander verbunden. Der Beitrag von Ansgar Wucherpfennig SJ geht den Verbindungen der Göttlichen Komödie zur Johannesoffenbarung nach. Beide bewegt in verwandter aber dennoch ganz unterschiedlicher Weise die Frage: Was geschieht mit den Toten? Die Frage, was erwartet mich im Tod und im Leben, ist im Grunde immer eine geistliche Frage. Vielleicht ist sie einer der wichtigsten Gründe überhaupt, der Menschen zum Lesen bewegt. Dankenswerterweise hat Andreas Wollbold einen weiteren Beitrag hinzugefügt. Er zeigt an Dantes Wertschätzung der Gelübde, wie die Göttliche Komödie eine Theologie des geistlichen Lebens der Gelübde reflektiert.

Sr. Katharina Karl verdanken wir schließlich eine sehr bereichernde Lektüre des Pfingsthymnus Veni creator spiritus. Sie geht der Rhetorik und Theologie des Hymnus nach und zeigt wie Literatur und Spiritualität in diesem großartigen Kunstwerk mittelalterlicher Sprachkunst eng miteinander zusammenhängen. Er steht am Ende des Buches, könnte aber genauso auch am Anfang stehen. Literatur kann Spiritualität in die Weiten des menschlichen Geistes hineinstellen. Dabei wird im geistlichen Leben etwas von den ungeahnten Weiten des Geistes Gottes erahnbar. Deswegen kann ein kurzes Gebet um den Geist verhindern, dass unser Lesen geistlos wird. Vielmehr kann der Geist Gottes selbst das tägliche Lesen in der Zeitung zu einer geistlichen Erfahrung machen.

Dank zu sagen ist an dieser Stelle insbesondere Herrn David Bleckmann, der die Aufgabe übernommen hat, die Manuskripte zu bearbeiten und für die Veröffentlichung aufzubereiten.

Ansgar Wucherpfennig

Veit Neumann

Literatur, Theologie und Spiritualität

Veit Neumann

Einleitung

Das Thema Literatur, Theologie und Spiritualität umfasst zwei Gegenstandsbereiche und eine Wissenschaft. Literatur und Spiritualität sind die Gegenstandsbereiche, Theologie ist die Wissenschaft. Bei der Zusammenschau von Literatur, Theologie und Spiritualität kommen die Gegenstandsbereiche und die Wissenschaften, die sich damit befassen, in den Blick. Es sind die Gegenstandsbereiche: Literatur und ihre literarischen Erzeugnisse, der Glaube und sein Ausdruck, das geistliche Leben einerseits, andererseits die Literaturwissenschaft, die Theologie und die Theologie der Spiritualität.

Die Bedeutung des Themas liegt darin, dass die Gegenstandsbereiche von Literaturwissenschaft und Theologie, schriftstellerische Erzeugnisse und der Glaube in seinem Ausdruck, Anknüpfungspunkte haben. Welche Bedeutung an dieser Stelle dem geistlichen Leben zukommt und, entsprechend, der oder einer Theologie des geistlichen Lebens, ist bisher nicht gewiss.

Vor einigen Jahren wurde verstärkt Wert auf Interdisziplinarität gelegt, heute ist die Rede oft von Schnittmengen. Sinnvoller als von Schnittmengen ist es, von Anknüpfungs- oder Berührungspunkten zu sprechen. Aber sollten sich die wissenschaftlichen Disziplinen überhaupt berühren? Oder nähern sie sich an, ohne sich zu berühren? Die unreflektierte Übernahme von Aussagen aus einem benachbarten wissenschaftlichen Bereich in den eigenen ist problematisch. Bei einer unkritischen Übernahme von Aussagen und Methoden, die andere Voraussetzungen haben, besteht die Gefahr verfälschter Ergebnisse. Es kommt vor, dass der Begriff Schnittmenge unreflektiert gebraucht wird. Nicht immer ist dabei klar, ob sich der Begriff Schnittmenge auf Gegenstandsbereiche, Methoden oder Ergebnisse oder zwei oder drei der genannten Dinge beziehen. Es kann Analogien geben. Welchen heuristischen Wert besitzen sie? Was besagt das Tertium analogiae? Wo liegt es? Im Niemandsland der Wissenschaft? Es sollen Möglichkeiten in den Blick genommen werden, das „und“ bzw. die „unds“ zwischen Literatur, Theologie und Spiritualität zu bestimmen. Das „und“ hat etwas Unverfänglicheres, gleichzeitig auch Unverbindlicheres als die Rede von Schnittmengen oder Interdisziplinarität: im Falle der Schnittmenge gibt es eine Neigung zu vermischender Unklarheit, im Falle der Interdisziplinarität droht man im Niemandsland zwischen den Bereichen der Wissenschaft zu stehen.

1. Sprache und Sinn

Einen erheblichen Teil ihres Sinnes erhält Sprache aus den Bezeichnungen, mit denen sie Bedeutungen versieht. Es gibt das Bedeutungsproblem: Sprache funktioniert durch das beziehungsreiche Spiel von Bezeichnetem und Bezeichnendem (signifié und signifiant), einem Gegensatzpaar, das letztlich auch als Form und Inhalt dargestellt werden kann. Im Punkte der eigenen Bezeichnung als signifié erscheint das signifié im Verhältnis zu seinem Wesen mit einer zu passiven Konstruktion bezeichnet, das signifiant dagegen zu aktiv. Wie das Verwobensein von Bezeichnetem und Bezeichnendem im Grunde funktioniert, wird nie umfassend zu erforschen sein. Sicher ist: Es geht um Zuschreibungsprozesse. Bereits ein Blick ins Wörterbuch genügt, um die schiere Unerschöpflichkeit der Versuche zu erkennen, die vielfältige Wirklichkeit dieser Zuschreibungsprozesse zu veranschaulichen und zu transportieren. In einem Wörterbuch zeigt sich die Sprache deskriptiv – aufbereitet für einen pragmatischen Gebrauch –, aber eben nicht wesentlich. Bedeutungseinschränkungen und -erweiterungen werden somit sichtbar, gelegentlich auch ihr zeitbedingter Hintergrund. Von „Je-m en-foutisme“ mag man noch sprechen, aber die „Null-Bock-Haltung“ wirkt wie ein Nachruf aus den 80er Jahren. Warum die Grenzen von inhaltlichen Bedeutungen (signifié) unter ihrem bzw. ihren Bedeutenden in der einen Sprache sinnreicherweise so, in der anderen sinnreicherweise anders verlaufen, das kann kein Wörterbuch verdeutlichen.

Das Wesen der Zusammenhänge von verschiedenen Bezeichnenden (signifiants) in Form von Nähe, Nachbarschaft oder Entfernung ist wie in eine Ellipse mit ihren beiden Brennpunkten eingezogen: auf der einen Seite ein zentrales Bezeichnendes – und auf der anderen Seite, zumindest gedacht oder denkbar, sein Gegenteil. Denn Sinn konstituiert sich nicht zuletzt auch dadurch, dass sich sein Gegenteil in der Antithese denken lässt.

Bei manchen Konstruktionen mehrfacher sich aufhebender Verneinungen ist es schwierig zu begreifen, was sie meinen. Haben die Sätze „Es wird nicht blühen, bis es regnet“ und „Es wird nicht blühen, bis es nicht regnet“ nicht die gleiche Bedeutung, wenn auch der zweite Satz eine Verneinung mehr trägt? In früheren Entwicklungsstufen der Sprache waren Gegensätze der Bedeutung bzw. gegensätzliche Bedeutungen häufig unter einem Begriff vereint. Eine Ausdifferenzierung erfolgte erst in späteren Stufen. Einen Eindruck davon mag das lateinische Beispiel „altus“ vermitteln, das sowohl hoch als auch tief bedeuten kann. Übrigens liegt in der Überschreitung vom Sinn zum Gegensinn oder zu einem benachbarten Sinn die Möglichkeit zur Ironie begründet.

Nicht nur die Abgrenzung der Wörter als Bedeutungsträger gegeneinander beziehungsweise die Abgrenzung der Bedeutungen, denen die Wörter zugeschrieben sind, lassen sich nicht in einem wesentlichen Sinn letztlich ergründen. Die wenigsten Synonyme sind echte Synonyme. Ein „Sintischnitzel“ wäre etwas anderes als ein „Zigeunerschnitzel“, schon wegen der Pragmatik, die dahinter steht. Und wenn ein Synonym echt ist, dann wäre erst noch zu klären, welchen Sinn es haben kann, dass dieselbe Bedeutung in exakt zwei Wörtern ausgedrückt werden kann. Womöglich kann die Frage nach dem Sinn von Synonymen die Problematik ideologischer Sichtweisen erhellen helfen.

Auch ist die Frage unergründbar, wie das Tragen und Aussagen von Bedeutung im signifié durch eine Aneinanderreihung vieler oder weniger Buchstaben im signifiant möglich ist. Lautmalerei kann einen Hinweis auf ein ursprüngliches Funktionieren von Sprache geben und es womöglich auch teilweise erklären. In der menschlichen Sprache kann die Ähnlichkeit von Lauten aus der Umwelt mit Lauten im Wort früher womöglich eine größere Rolle gespielt haben als dies heute der Fall ist. Wenn es etwas wie ein steinzeitliches imitatives Gemurmel gab, wird sich aber die Äußerung der signifiants als Imitation frühzeitig relativiert haben, denn die Konventionalität von Sprache bringt tendenziell ihre zunehmende Abstrahierung bzw. die Abstrahierung der signifiants mit sich. Lautmalerei bedeutet ja auch, dass Bezeichnetes und Bezeichnendes ineinander fallen. Durch Abstrahierung werden sie getrennt. Auf individueller Ebene wird es schwierig sein zu ergründen, wie ein Kind in frühesten Jahren die grundlegenden Zusammenhänge von Bezeichnetem und Bezeichnenden verstehen kann. Wohl kaum allein durch Konditionierung und anschließende Reproduktion und Imitation. Vielleicht ist die Phase des Spracherwerbs beim Kind in einer ähnlich kreativen Dimension zu sehen wie sie auch den sprachschöpferischen Akt des Literaten auszeichnet?

Bedeutungsinhalte können bei verschiedenen Kontexten eine Schnittmenge bilden („überlappen“). Als ich einen jüdischen Freund fragte, wie er noch deutsch sprechen könne nach all seinen Erfahrungen in Auschwitz und weiteren Konzentrationslagern, antwortete er mit der Schilderung einer wahren Begebenheit: Als er sich wieder einmal ungeschickt verhielt, schrie ihn der SS-Wachmann mit den Worten an: „Mensch, warum hast du das schon wieder fallen lassen?“ Da wusste der jüdische Gefangene, dass er selbst in den Augen des SS-Mannes offenbar doch kein Untermensch ist.

Wir wissen nicht wie, wir wissen nur, dass Sprache sinnreich sein kann und es in der Regel ja auch formal gesehen ist. Ob der dabei ausgedrückte Sinn dann auch moralisch zu verantworten ist, das ist eine eigene Frage. Dabei kann es nicht nur sein, dass Sinn und der gegenteilige Sinn wie im oben genannten Beispiel (etwa auch etymologisch) nahe beieinander liegen oder über Sprachgrenzen hinweg sich ausdifferenziert haben. Es kann auch gezielt konstruierte Sinnlosigkeit durch Bedeutung mit Sinn versehen werden. Das heißt: Die Aneinanderreihung der Worte „nichts“, „desto“ und „trotz“ ist anscheinend, in Wirklichkeit aber nur scheinbar sinnlos. Die Kombination der Bestandteile scheint sinnlos und komplett bedeutungsleer zu sein. Das nicht organisch entwickelte, sondern gezielt geschaffene Wort „nichtsdestotrotz“ erhält einen Sinn als Ausdruck des Spiels mit der Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit wird hervorgehoben und mit Humor überwunden. „Nichtsdestotrotz“ erscheint wie ein humoriger Protest (es hat einen humorig konnotierten Hintergrund durch Karl Valentin, auf den es zurückgeht) gegen die Unmöglichkeit, zu begreifen, wie die Sinnkonstitution in der Sprache im tiefsten funktioniert. Nun aber entsteht aus ihrer Ironisierung neue Sprache. Heute ist am Wort „nichtsdestotrotz“ besonders ironisch, dass es nur noch in seltenen Fällen als ironisch erkannt wird, da sein Gebrauch durch die jeder Sprache eigene Verallgemeinerungs- und Entironisierungstendenz harmonisiert worden ist.

Schon am Gebrauch der Kurzform „Warum nicht?“ ist eine Tendenz zur Abstrahierung des Inhalts durch die Form wahrzunehmen, und zwar im Sinne des Übergangs zu einem anderen Inhalt bei gleicher Form. Denn „Warum nicht?“ erscheint heute wie eine Bestätigung, wie eine Aufforderung, etwas zu tun, während der Fragecharakter der Konstruktion und die Verneinung, die in dem „nicht“ gegeben ist, noch auf die ursprüngliche vorgängige Ablehnung hinweisen.

Sprache bewegt sich in verschiedenen Feldern: zwischen Einmaligkeit (Individualität) und Allgemeinheit (Gemeinschaft), Konkretion und Abstraktion, Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit, Vergangenheit und Zukunft, Kreativität und Konvention, vor allem aber zwischen welthafter und überweltlicher sowie zeitlicher und überzeitlicher Realität. Ein weiteres Feld, auf dem sich Sprache bewegt: zwischen Enthüllen und Verhüllen. Denn enthüllt Sprache, so verhüllt sie zugleich, verhüllt sie, so enthüllt sie. Sprache verhüllt nie ganz, aber ganz wird sie auch nie enthüllen. Sprache ist für uns oft genug ein Rätsel, vor allem aber ein Geheimnis. Rätsel werden enträtselt, Geheimnisse gelüftet. Wesentliche Geheimnisse der Existenz, des Glaubens, des Mythos aber bleiben ungelüftet. Existenz, Glaube, Mythos stehen im Raum des Geheimnisses. Oft ist Sprache rätselhaft, aber als Sprache großer Literatur wie auch als Sprache des Glaubens bleibt sie ein Geheimnis.

Wie können wir uns aber dann ihrer bedienen? Wir bedienen uns ihrer, ohne sie einseitig oder ausschließlich kontrollieren zu dürfen. Kontrollieren wir sie dennoch, entzieht sie sich der Verwendbarkeit durch praktische Belanglosigkeit oder Unverständlichkeit. Oder sie wird zur Unmenschlichkeit. Belanglosigkeit, Unverständlichkeit und Unmenschlichkeit sind Vorstufen zur Sinnlosigkeit. Der verkündende Glaubensbote wie auch der literarisch tätige Künstler haben beide das Geheimnis der Existenz mit sprachlichen Mitteln auszuloten oder auszulegen. Dazu dienen die Sprache des Glaubens wie auch die Sprache der literarischen Fiktion. Die literarische Fiktion ist aber nur in einem sehr eingeschränkten Sinne Fiktion, denn literarische Welten gewinnen rasch ihre eigene Wirklichkeit und von daher rührt die Notwendigkeit, sie bei aller Fiktion auch moralisch zu verantworten.

2. Literaturwissenschaft und Theologie

Nun sind bereits erste Annäherungen oder wenigstens gemeinsame Betrachtungen von Literatur und Glaube vorgekommen. Literatur und Glaube sind auf eine besondere Weise Teil der Wirklichkeit. Das hat Auswirkungen auf die Wissenschaften, die sich mit Literatur und Glaube beschäftigen. Getätigt sei die Bemerkung, dass der Begriff der „exakten Wissenschaften“, womit zumeist ein Großteil der Naturwissenschaften gemeint ist, irreführend ist. Die „exakten Wissenschaften“ auf das Messbare zu beschränken, bedeutet die Wissenschaften des Geistes, darunter die Literaturwissenschaft wie auch die Theologie, als inexakt auszugrenzen. Das bedeutet die Verneinung der Vielfalt des Geistes, der sich in der menschlichen Sprache nicht nur ausdrückt, sondern materialisiert, so wie sich – analog – der Geist besonders in ästhetischer Hinsicht auch in der Kunst auszudrücken vermag.

Viele Bereiche der Wirklichkeit sind durch den Einsatz von Sprache als Vermittlerin des Geistes geprägt. Allerdings wird der Begriff der Sprache häufig sehr weit gefasst, etwa, wenn von einer Computersprache die Rede ist. Die Computersprache ist von Menschen erdacht, dennoch ist sie keine menschliche Sprache. Es gibt lustige Bemerkungen des Programmierers im Quellcode für jemanden, der sich später einmal mit dem Quellcode auseinandersetzen muss. Sie betreffen aber niemals das nackte Funktionieren des Programms.

Die Sprache der zu untersuchenden Formalobjekte, literarischer Texte oder Texte, die Zusammenhänge des Glaubens darstellen oder ins Wort heben, ist weder im einen noch im anderen Fall identisch mit der Sprache, die bei der wissenschaftlichen Untersuchung dieser Formalobjekte eingesetzt wird. Wissenschaft wird sich mit einem möglichst eindeutigen, präzisen Einsatz von Sprache möglichst präzise dem zu untersuchenden und darzustellenden Sachverhalt nähern. Empirische Untersuchungen, geschichtliche Dokumente und Studien; Textkritik, Literarkritik, Formkritik; theologische Quellentexte, literarische Texte (aller Gattungen), lehramtliche Texte (aller Gattungen), Epen, schließlich die Heilige Schrift: in all den genannten Bereichen wird Sinn über Sprache vermittelt. Die Möglichkeiten, die die Wissenschaftssprache in der Theologie wie auch in der Literaturwissenschaft bietet, in die Zusammenhänge des Sinnes einzudringen, sind im Gegensatz zur Sprache in Literatur und Glaubensausdruck groß, aber nicht unbegrenzt: Die Wissenschaftssprache beinhaltet kritische Reflexion, während Literatur und Glaubensausdruck u.a. der kritischen Reflexion ausgesetzt sind.

Literarische Äußerungen und Glaubensäußerungen: Literatur und Glaube lassen sich zwar in kritischer Reflexion immer weiter und tiefer zergliedern, aber dadurch nie erschöpfend ergründen. Beide sind stets mehr als die Summe ihrer Bestandteile. Beide, Literatur und Glaube, verbindet ein ähnlicher, vor allem metaphorischer Gebrauch von Sprache. Ein wichtiger Zugang zur wissenschaftlichen Erkenntnis durch Theologie und Literaturwissenschaft ist in beiden Fällen die Betrachtung der metaphorischen Dimension der Sprache. Denn beide, Literatur und Glaube, sind vor allem bestimmt durch den metaphorischen Einsatz der Sprache.

Mit exakter Sprache und klaren Bedeutungszuschreibungen nähern sich Literaturwissenschaft und Theologie ihren Gegenstandsbereichen, in denen zentrale Aussagen metaphorisch angelegt sind und „das Unsagbare aussagen“. Man denke nur an literarische Weltbetrachtung, besser: Weltbetrachtung durch Literatur etwa im literarisch verarbeiteten, besser gesagt: literarisch ausgesagten Mythos („Der Zauberberg“) oder allein im Titel des berühmten Romans „Germinal“ von Emile Zola oder auch an die Gleichnisse in den Evangelien. Nicht nur die in den Evangelien vorgestellten Gleichnisse, sondern auch die Evangelienredaktion mit ihrer dramatischen Gestaltung der beschriebenen Vorgänge belegt die Metaphorizität.

Die religiöse Sprache, die grundlegend metaphorisch ist, prägt den Gegenstandsbereich der Theologie. Auch der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft ist immer wieder durch eine metaphorische Sprache bestimmt, wenn auch die Aussagen der Literaten mit einem anderen Wahrheitsanspruch versehen sind als die von Verkündigern. Sie stehen bei den Literaten unter dem Signum künstlerischer Produktion. Die Wirklichkeitsbestimmung durch Metaphorik in Glaube und Literatur schlägt auf die Art der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse bezüglich dieser Bereiche durch, die vor allem Deutung und Auslegung (Interpretation) sind. Denn „theologisch gesprochen ist die Erscheinungsweise des Schönen die Herrlichkeit Gottes (kabod, doxa), dessen Glanz den Menschen überwältigt und hinreißt“1. Und, so darf man hinzufügen, anthropologisch gesprochen, kann die Erscheinungsweise des Schönen mit der Kunst auf Erden in Verbindung gebracht werden. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass im theologischen und im künstlerischen Feld vor allem gedeutet und ausgelegt wird. Auf die sogenannte Sicherung der Fakten folgen Plausibilisierung, Beleg und Erweis statt eines Beweises, der mit der Unabweisbarkeit mathematischer Logik verknüpft erscheint.