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Regina Bäumer · Michael Plattig

Aufmerksamkeit ist
das natürliche Gebet der Seele

Geistliche Begleitung in der Zeit
der Wüstenväter und der personzentrierte Ansatz
nach Carl R. Rogers – eine Seelenverwandtschaft?!

Regina Bäumer
Michael Plattig

Aufmerksamkeit
ist das natürliche
Gebet der Seele

Geistliche Begleitung
in der Zeit der Wüstenväter und
der personzentrierte Ansatz
nach Carl R. Rogers –
eine Seelenverwandtschaft?!

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
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© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de)
Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg
ISBN
978-3-429-03510-5 (Print)
978-3-429-04641-5 (PDF)
978-3-429-06051-0 (ePub)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im SS 1998 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften II der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie nur geringfügig verändert.

Die Idee für diese Arbeit erwuchs aus den Gesprächen der beiden Autoren über ihre Erfahrungen im Rahmen von geistlicher und therapeutischer Begleitung von Menschen. Beide Autoren nahmen an der internationalen Tagung „Prayer and Spirituality in the Early Church“ der Katholischen Universität von Melbourne (Australien) im Juni 1996 teil. Dem schloß sich ein Studienaufenthalt in Washington an der Catholic University of America und an der Washington Theological Union (Ordenshochschule) an.

Bei unserer Zusammenarbeit an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster bzw. dem dort ansässigen Institut für Spiritualität ergab sich ein reger Austausch. Eine gemeinsame Lehrveranstaltung an der Hochschule im SS 1994 und ein Fortbildungskurs am Institut für Spiritualität ließen das Projekt reifen.

War unser Interesse am Thema zunächst nur persönlicher und kollegialer Art, so kamen wir im Zuge unserer Forschungsarbeiten immer mehr zu der Erkenntnis, daß es lohnenswert sei, unsere Ergebnisse und Anregungen, die wir gewonnen hatten, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

In der Zeit unserer Arbeit wurden wir von vielen Menschen begleitet und unterstützt, und zwar auf ganz unterschiedliche Weise:

Die Karmeliten in Australien und in den USA gewährten uns großzügige Gastfreundschaft während unserer Auslandsaufenthalte. Der Louis Hermann and Susan Hamilton Rogge Fund (Washington D.C.) unterstützte unsere Forschungen finanziell.

Die Franziskaner - damals noch in Münster am Hörsterplatz - ermöglichten es uns, die Arbeit in Ruhe verfassen zu können.

Es gab das Interesse all derer, die von unserem Projekt hörten und uns ermunterten, an einer Veröffentlichung zu arbeiten und es gab die kritischen und gleichwohl konstruktiven Nachfragen und Anregungen all derer, die mitreden konnten und die uns damit auch über schwierige Phasen hinweghalfen.

Die Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster gewährte uns ein Forschungsfreisemester.

Wir bedanken uns an dieser Stelle für alle Unterstützung, ohne die unser Vorhaben nicht hätte Gestalt annehmen können.

Unser besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Rainer Kampling für die Begleitung und die Begutachtung dieser Arbeit. Wir bedanken uns bei Frau PD Dr. Dorothea Sattler für die Erstellung des Zweitgutachtens. Sr. Katharina Schuth OSB danken wir dafür, daß sie die Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen hat, kurzfristig, genau und freundlich.

Erwähnen möchten wir auch all die Menschen, die sich in Krisensituationen an uns gewendet haben, in unserer jeweiligen Funktion als Therapeutin oder Priester, und aus deren Vertrauen und deren Lebenskraft unsere Erfahrungen als Begleiterin/Begleiter erwachsen sind, die wir hier einbringen.

Dieses Buch ist geschrieben worden mit der Option, „gut lesbar“ zu sein, will sagen, daß es für alle Leserinnen und Leser, die Erfahrungen und Interesse im und am Thema haben, einen Zugang gibt, der nicht verstellt ist durch zu „hohe Wissenschaftlichkeit“ oder zu „flache Popularität“.

Wir stellen uns vor, daß das Spektrum unserer Leserschaft breit gefächert ist und daß es sehr unterschiedliche Vorkenntnisse und Interessen gibt. Die Aufteilung der Kapitel und die Überschriften sollen helfen, jedem den Einstieg an der Stelle zu ermöglichen, wo sein Interesse liegt und sich von da aus „vor- oder zurückzuarbeiten“, je nachdem, wohin ihn oder sie die Neugier oder die gewonnenen Anregungen führen.

Vorwort zur Neuherausgabe

Im Rahmen des Instituts für Spiritualität an der Phil.-Theol. Hochschule Münster haben wir inzwischen eine berufsbegleitende Fortbildung Geistliche Begleitung und den berufsbegleitenden Masterstudiengang Theologie der Spiritualität entwickelt und installiert. Für diese Studien ist diese Arbeit von grundsätzlicher Bedeutung, weshalb wir uns entschieden haben, das Buch in dieser Form neu herauszugeben. Der Text wurde weitgehend in der ursprünglichen Form belassen. Ebenso die Literaturliste, die allerdings durch einen zweiten Teil mit aktueller Literatur ergänzt wurde.

Wir hoffen, dass unsere Studie auch über das Institut für Spiritualität hinaus allen Interssierten auf dem Gebiet von Geistlicher Begleitung und therapeutischer Arbeit Anregungen für die eigenen Überlegungen und Reflexionsprozesse liefert.

Münster, im Januar 2012

Regina Bäumer

P. Michael Plattig O.Carm.

Gliederung

0. Einleitung

I. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern und Therapeutische Begleitung bei Carl R. Rogers - Darstellung

I.1. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern

I.1.A. Kirchengeschichtliche Verortung der Wüstenväter

I.1.B. Die Wüste und der Kampf mit den Dämonen

I.1.B.a. Die biblische Sicht der Wüste als Ort der Erwählung, des Bundes und der Prüfung

I.1.B.b. Die Vorstellungen des zeitgenössischen Hellenismus von der Wüste als dem idealen Ort eines gesunden und zurückgezogenen Lebens

I.1.B.c. Die religiös-mythische Deutung der Wüste als Bereich des Todes und der lebensbedrohenden Gefahr, als Ort der Dämonen

I.1.C. Die Entwicklung von der Anachorese zum Koinobitentum

I.1.D. Die Apophthegmata und Vitae Patrum

I.1.D.a. Quellenlage und Verfasserfrage

I.1.D.b. Die literarische Form

I.1.D.b.α. Anekdotisches Apophthegma

I.1.D.b.β. Gleichniserrzählungen

I.1.D.b.γ. Das Logion

I.1.D.c. Schriftbezug

I.1.D.d. Wunder und Visionen

I.1.D.e. Verschriftlichung, Redaktion und Wirkungsgeschichte

I.1.E. Evagrios Ponticos und Johannes Cassian

I.1.E.a. Evagrios Pontikos

I.1.E.b. Johannes Cassian

I.1.E.c. Johannes Cassian als Vermittler des Evagrios Ponticos im Westen

I.1.F. Menschenbild der alten Mönche

I.1.F.a. Auseinandersetzung mit den Gedanken, Leidenschaften und Dämonen

I.1.F.b. Der Umgang mit dem Sünder - Barmherzigkeit und Vergebung

I.1.F.c. Gehorsam in der Beziehung zum Altvater

I.1.G. Ziel und Praxis Geistlicher Begleitung

I.1.G.a. Zielbeschreibung

I.1.G.b. Methode

I.1.G.b.α. Konkrete Weisung

I.1.G.b.β. Trösten und Ermutigen

I.1.G.b.γ. Geduld und Langmut

I.1.G.b.δ. Behutsam zur Wahrheit führen und keine Entscheidung abnehmen

I.1.G.b.ɛ. Verweigerung des Wortes

I.1.G.b.ζ. Gefühle und Bedürfnisse zulassen

I.1.H. Die Rolle des geistlichen Begleiters im frühen Mönchtum

I.1.I. Zusammenfassung

I.2. Der personzentrierte Ansatz nach Carl. R. Rogers

I.2.A. Einleitung

I.2.B. Zur Biographie von Carl Ranson Rogers

I.2.C. Anthropologische Voraussetzungen

I.2.D. Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie

I.2.D.a. Beziehung

I.2.D.b. Inkongruenz

I.2.D.c. Echtheit

I.2.D.d. Bedingungslose positive Zuwendung

I.2.D.e. Empathie

I.2.D.f. Kommunikation des empathischen Verstehens

I.2.D.g. Folgerungen

I.2.E. Der therapeutische Prozeß nach C.R. Rogers

I.2.F. Unterscheidende Merkmale der Gesprächspsychotherapie

I.2.G. Zur Kritik an C.R. Rogers’ Menschenbild

II. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern und Therapeutische Begleitung bei Carl R. Rogers - Zusammenschau

II.0. Einleitung

II.1. Anthropologische Voraussetzungen

II.2. Beziehung

II.3. Inkongruenz

II.4. Echtheit

II.5. Bedingungslose positive Zuwendung

II.6. Empathie

II.7. Prozeß

II.8. Zusammenfassung

III. Bedeutung für die Praxis

III.0. Einleitung

III.1. Pastorale Theorie und Praxis

III.1.A. Aspekte der Tradition und ihre Implikationen für heute

III.1.A.a. Buße und Geistliche Begleitung

III.1.A.b. Katechese und Geistliche Begleitung

III.1.A.c. Biographische Entwicklung und Geistliche Begleitung

III.1.B. Aspekte des Verhältnisses von Seelsorge und Psychotherapie

III.1.C. Konsequenzen für eine Praktische Theologie

III.1.D. Konsequenzen für Geistliche Begleitung heute

III.2. Konsequenzen für die Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern

IV. Schlußwort

Anmerkungen

Literatur

Neuere Literatur in Auswahl

0. Einleitung

„Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele“1

Geistliche Begleitung in der Zeit der Wüstenväter und der personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers - eine Seelenverwandtschaft?!

Geistliche Begleitung nennt man in der christlichen Tradition die helfende Beziehung zwischen einem ratsuchenden Gläubigen und einem Seelsorger, einer Seelsorgerin. Begleitung und Hilfestellung ergeben sich in den Gesprächen, die Ratsuchender und Seelsorger/in in regelmäßigen Abständen miteinander führen. Diese Form der Individualseelsorge zieht sich durch die gesamte Geschichte des Christentums. Die zunehmende Individualisierung der Seelsorge heute führt zu einer gesteigerten Nachfrage nach Geistlicher Begleitung.2 Die gegenwärtige Praxis, die zur Zeit auffindbare theologische Literatur zu diesem Thema und die meisten Ausbildungsgänge zum geistlichen Begleiter sind geprägt vom ignatianischen Hintergrund, von seinen Exerzitien als einer Intensivform Geistlicher Begleitung.

Dies hat historische und systemische Gründe. Nach dem Trienter Konzil übernahmen Jesuiten die Geistliche Begleitung für den heranwachsenden Klerus in den Kollegien und Priesterseminaren.3 Dies führte zu einer Focusierung auf die ignatianische Form der geistlichen Begleitung. Daneben zeigt sich bis heute, daß der systematisch durchgearbeitete und erprobte Ansatz der ignatianischen Exerzitien eine gute Grundlage für Geistliche Begleitung bietet.

Die christliche Tradition Geistlicher Begleitung ist jedoch wesentlich breiter, sie birgt unterschiedliche und unterscheidbare Konzeptionen, angefangen bei den „Sprüchen“ der Wüstenväter und -mütter (Apophthegmata Patrum) im 4./5. Jahrhundert bis hin zu den Anleitungen zu einem frommen Leben (Philothea) bei Franz von Sales im 17. Jahrhundert.

Von daher kann man nicht von der geistlichen Begleitung schlechthin, sondern nur von Geistlicher Begleitung in einer bestimmten Schule oder in einer Mischung unterschiedlicher Ansätze sprechen.

Seit der beginnenden Auseinandersetzung der Theologie mit der Psychologie, gibt es in der Beschäftigung mit Geistlicher Begleitung die Tendenz, Anleihen bei der Psychologie zu machen. Im Zuge dieses Prozesses geriet die Geistliche Begleitung oft in Konkurrenz zu sich entwickelnden Therapieformen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, das Eigene der geistlichen Begleitung zu profilieren und sich immer wieder von der Psychologie abzugrenzen, wobei diese eher als Hilfswissenschaft betrachtet wurde.

Als Beispiel mag J. Sudbrack dienen, der etwa die psychologischen Erkenntnisse, Ignatius zitierend, zu den „übrigen Dingen auf dem Angesicht der Erde“ zählt, die dem letzten Ziel untergeordnet sind, nämlich: „Der Mensch ist geschaffen, um Gott, unseren Herrn, zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen...“4. Das „Psychologische“ bildet in seiner Gliederung die Stufe drei nach dem „Somatischen“ und „Pädagogischen“ auf dem fünfstufigen Weg über das „Mystagogische“ (Stufe vier) zum „Geistlichen“. Diese klassische Unterordnung der Psychologie unter die Theologie und damit ihre Einordnung unter die Hilfswissenschaften der Theologie bzw. des Geistlichen, behandelt die psychologischen Erkenntnisse sehr von oben herab und bedient sich ihrer oft blauäugig und unreflektiert im Bewußtsein der Überlegenheit des eigenen Standpunkts. Psychologie wird in dieser Sicht immer als defizitär betrachtet, als Zugang zum Menschen und zur Welt, dem das „Eigentliche“ mangelt.

Allmählich gestaltet sich die Beziehung versöhnter; ein Interesse an gegenseitiger Befruchtung scheint zu wachsen. Dabei ist auffällig, daß die theologischen Disziplinen mehr und selbstverständlicher Erkenntnisse der Psychologie gebrauchen als umgekehrt. Allerdings fällt auch auf, daß in der theologischen Literatur zur geistlichen Begleitung von „Therapie“ oft allgemein und nicht differenziert gesprochen wird, daß weder Schulen noch Grundansätze der Psychologie sauber unterschieden werden bzw. daß klar Bezug darauf genommen wird.

K. Schaupp z. B. behandelt das Thema der Abgrenzung zu Therapie explizit auf einer halben Seite seiner Einführung in die Geistliche Begleitung5. Er unterscheidet Therapie und Geistliche Begleitung im Hinblick auf das Ziel, das bei der Therapie eine „Freiheit von ...“ sei, während es bei Geistlicher Begleitung um eine „Freiheit für...“ gehe. Es gehe also bei der Therapie mehr um die Bearbeitung innerpsychischer Konflikte, um Einbeziehung unbewußten Materials, damit Therapie hilfreich für die Identitätsfindung sein könne.

Dies trifft jedoch so nur für problemorientierte Therapieformen zu. Die person-zentrierte Therapie nach C.R. Rogers z.B. würde diesen Therapieansatz ablehnen. Ihr geht es nicht primär um die Lösung eines Konflikts oder um die Bearbeitung unbewußten Materials, sondern um die Hilfe zur „Veränderung durch Verstehen“6. Die Perspektive ist also auch hier nicht eine Freiheit von bestimmten Symptomen, sondern eine Freiheit für Veränderung und Entwicklung. Schaupps Beobachtung trifft also, wenn überhaupt, nur auf einen Teil der Therapieformen zu.

Solche Positionen, so unzureichend sie auch sind, machen jedoch eines deutlich, daß man heute im gesamten Bereich der geistlichen Begleitung nicht mehr ohne die Erkenntnisse aus der Psychologie auskommen kann und auskommen darf.

Unser Interesse ist es, Erkenntnisse aus der Tradition Geistlicher Begleitung und aus der humanistischen Psychologie nebeneinander zu stellen.

Im Bereich der geistlichen Begleitung beziehen wir uns auf die Konzepte und Formen der Wüstenväter und -mütter. Im Bereich der humanistischen Psychologie beziehen wir uns auf C.R. Rogers und sein Konzept.

Bei den Wüstenvätern und -müttern findet sich die Ursprungsform Geistlicher Begleitung in der christlichen Tradition, die alle späteren Konzepte beeinflußt hat. In dieser frühen Zeit liegt noch kein durchstrukturiertes Konzept Geistlicher Begleitung vor, wie etwa die „Exerzitien“ des Ignatius oder die „Philothea“ des Franz von Sales. In der Quelle, den „Apophthegmata Patrum“ (= Sprüchen der Väter), sind kurze Geschichten, bzw. wie der Titel sagt, Aussprüche von Vätern und einigen Müttern gesammelt. Es schien uns lohnend, auf diese Ursprungsform zurückzugreifen, da sie durch ihre offene Struktur einem Vergleich mit psychologischen Formen der Begleitung zugänglicher ist. Bei der Beschäftigung mit den Apophthegmata Patrum und in interdisziplinären Gesprächen tauchten immer wieder Verbindungen auf, sprangen Parallelen mit der Gesprächspsychotherapie nach C.R. Rogers ins Auge.

Neben dieser assoziativen Anknüpfung spricht für den Vergleich mit C.R. Rogers seine weitgehende Rezeption im Rahmen seelsorglichen Handelns.7

Nach dem Erscheinen seines Buches „On Becoming a Person“ 1961, das Rogers unerwartet große Anerkennung brachte und eine millionenfache Auflage erzielte, wurde er für die nächste Dekade zum bedeutendsten Psychologen Amerikas. Gewisse Ideen von Rogers wurden so weitgehend akzeptiert und rezipiert, daß es schwierig ist, zu ermessen, wie revolutionär sie in ihrer Entstehungszeit waren.8

Der personzentrierte Ansatz, der von C.R. Rogers entwickelt wurde, ist im Rahmen der pastoralen Praxis sehr weit verbreitet und bildet die Grundlage für verschiedene Ausbildungsgänge (z.B. Beratungs-, Telefon- und Krankenhausseelsorge)9. Die Grundideen Rogers’ finden sich allerdings oft auch unter anderen Überschriften wieder, wobei der Zusammenhang mit seinem Konzept dann meist nicht dokumentiert oder belegt ist, doch bei näherer Auseinandersetzung deutlich wird.10

So könnte man sagen, daß C.R. Rogers und sein personzentrierter Ansatz für den ganzen Bereich der Pastoralpsychologie, der praktischen Seelsorgsarbeit, der Individualseelsorge eine ähnliche Rolle spielt wie die Wüstenväter und -mütter für die Geistliche Begleitung.

Es geht nun in dieser Arbeit nicht darum, in einem weiteren Versuch zu definieren, was Geistliche Begleitung ist, oder die Grenzen zwischen Geistlicher Begleitung und Psychotherapie zu ziehen, sondern unser Ansatz ist zunächst ein rein informativer. Wir möchten interessierten Leserinnen und Lesern aus dem Bereich der therapeutischen und der seelsorglichen Arbeit Einblick geben in die Geistliche Begleitung der Wüstenväter und -mütter und in die Grundlagen der Gesprächspsychotherapie nach Rogers. Wir wollen Verknüpfungen herstellen und Unterschiede aufzeigen und gehen davon aus, daß diese Zusammenschau für beide Seiten interessant sein kann. Die Relevanz von C.R. Rogers für Geistliche Begleitung ergibt sich aus der bereits erwähnten rein pragmatischen Tatsache seiner Rezeption im Bereich der praktischen Theologie. Die Relevanz der Wüstenväter für therapeutische Arbeit heute ergibt sich aus den historischen Zusammenhängen. Die Wüstenväter und -mütter verstanden sich ausdrücklich als Therapeuten, denen die Heilung des ganzen Menschen wichtig war. Sie sind damit die Ahnen heutiger Therapeutinnen und Therapeuten. Wie jede Beschäftigung mit Geschichte identitätsstiftend sein und Impulse für die Gegenwart liefern kann, so auch die Beschäftigung mit der „Therapie“ zur Zeit der frühen Kirche. Es wird uns immer wieder darum gehen, Impulse aufzuzeigen, die sich Geistliche Begleitung nach dem Modell des frühen Mönchtums und Psychotherapie nach C.R. Rogers gegenseitig geben können. Dieser Austausch, so unsere Erfahrung, ist für beide bereichernd. Diese Bereicherung ist unser Ziel!

Darüber hinaus sehen wir wichtige Konsequenzen dieser Betrachtung für die Gestaltung der Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die eigens formuliert werden sollen.

Bei allem Bemühen, dieses Anliegen in schriftlicher Form vorzustellen, sehen wir deutlich die Begrenztheit des Unterfangens. Wir schließen uns M. Josuttis an, der für seine „Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität“ formuliert hat: „Ein Buch ist hier, wie auch in anderen elementaren Lebensbereichen, ein Medium, das Distanzen schafft, die man beim besten Willen nicht überspringen kann. Allenfalls kann es Impulse vermitteln, Neugierde wecken, Suchbewegungen auslösen: Wo kann ich das lernen, von dem hier die Rede ist? Wie kann ich eine/r werden, der/die andere auf dem Weg in das Leben kraft eigener Erfahrung führt?“11

I. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern und
Therapeutische Begleitung bei Carl R. Rogers -
Darstellung

I.1. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern

I.1.A. Kirchengeschichtliche Verortung der Wüstenväter

Das Toleranzedikt des Galerius und Licinius 311 beendete die letzte große sog. Diokletianische Verfolgung und gewährte den Christen Versammlungsfreiheit. Der oströmische Kaiser Konstantin siegte in der Schlacht an der Milvischen Brücke 312 über Maxentius und wurde damit auch Herrscher des weströmischen Reiches. Diesen Sieg schrieb er dem Christengott zu, dem seine Mutter, die Kaiserin Helena, schon diente. Im Toleranzedikt von Mailand 313 wurde dem Christentum völlige Gleichberechtigung mit allen anderen Kulten gewährt, der Staatskult abgeschafft und kirchliches Eigentum zurückgegeben. 391 schließlich wurde das Christentum Staatsreligion und alle anderen Kulte verboten.

Bis zum Ende des vierten Jahrhunderts hatte also das Christentum die Gesellschaft praktisch erobert. Mit dem allgemeinen Ansehen und der gesellschaftlichen Etablierung wuchsen nicht nur Macht sondern auch Reichtum - sowohl einzelner als auch von Gemeinden. So war das Bischofsamt einer Stadt von auch nur mittelmäßiger Bedeutung zu einer anerkannten Stellung geworden, die ein Mann selbst aus nicht nur religiösen Motiven anstreben konnte. Viele Christengemeinden waren zu bedeutendem Grundbesitz gekommen und unterstützten zahlreiche Arme. Gleichzeitig wurde seit dem dritten Jahrhundert mit ständig wachsender Dringlichkeit die Frage gestellt, ob die Kirche eine einflußreiche Position in der höchsten Gesellschaft einnehmen könne, ohne dabei einen Teil ihrer moralischen Kraft und ihrer Unabhängigkeit einzubüßen.

Seit Bestehen des Christentums gab es nämlich immer auch eine asketische Bewegung in den Gemeinden: einzelne Christen, die auf die Ehe und bis auf ein Minimum auf allen Besitz verzichteten, lebten das Ideal der Entsagung und der Hingabe an Gebet und Werke der Barmherzigkeit. Neben einer gewissen Vorliebe der antiken Umwelt für asketische Ideale gab es dabei spezifisch christliche Motive wie etwa die sog. Naherwartung, d.h. die Erwartung, daß Christus sehr bald wiederkommt und damit das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht. In der Askese konnte bereits das Leben des Paradieses vorweggenommen, ein „engelgleiches Leben“ geführt werden.12 Hinzu kommt die allmähliche Ablösung des Märtyrerideals durch die Vorstellung von einem unblutigen Martyrium als Zeugnis des Christentums, das man im asketischen Leben verwirklicht sah. „Selbst nach der Befreiungstat Konstantins ist das Martyrium das Maß der Frömmigkeit.“13

Eine besondere Gruppe in der Gemeinde bildeten die Jungfrauen, deren Zahl vom Beginn des 3. Jahrhunderts an so bedeutend ist, daß ihnen ganze Traktate gewidmet werden. Schon früh wurde die Jungfräulichkeit wegen des Verzichts, den sie voraussetzte, als eine Vorbereitung auf das Martyrium gesehen und später dem Martyrium gleichgesetzt. Ihr zahlenmäßiges Anwachsen mußte organisiert, mit öffentlichen Verfehlungen gegen das Ideal mußte umgegangen werden.14 Jungfrauen und Asketen bildeten nach und nach eine gewisse Elite in den Gemeinden und befanden sich gegenüber den sich etablierenden hierarchischen Ämterstrukturen in einer Außenseiterposition. Die Ordnung und Hierarchisierung der Gemeinden setzte nicht erst mit der konstantinischen Wende ein, sondern war schon Mitte des 3. Jahrhunderts in hohem Grad verwirklicht. A. von Harnack stellt fest: „... das starke Band, das sie [die Kirche] verband, war nicht mehr die religiöse Hoffnung und Bruderliebe, sondern eine hierarchische Ordnung, welche die christliche Mündigkeit und Freiheit, damit aber auch den Brudersinn zu erdrücken drohte.“15

An der Spitze der Gemeinde steht der Bischof; alle Ämter, Funktionen und Dienstleistungen sind genau geregelt. Der Asket ist in dieser Ordnung nicht untergebracht, er könnte sich nur unter teilweisem Verzicht auf seine asketische Lebenshaltung und durch Anpassung in diese Ordnung einfügen.16 So steht ein asketisches, an möglichst klarer und z.T. radikaler Verwirklichung der Nachfolge Christi orientiertes und durchaus auch in der Gemeinde geschätztes Ideal des Christentums einer gewissen pragmatischen Bewegung gegenüber, die das „Christliche“ strukturieren und in das alltägliche Leben einpassen muß, da die Mehrheit das asketische Ideal nicht leben kann. Konflikte sind damit programmiert. Verschiedene Asketen entziehen sich dieser Situation durch Verweigerung um der Askese willen und distanzieren sich von der Gemeindeordnung. Johannes Cassian formuliert, selbst etwas peinlich berührt, später:

„Es ist eine von Alters her bis jetzt bestehende Ansicht der Väter, die ich nicht ohne meine eigene Beschämung aussprechen kann, da ich weder meine Schwester meiden noch den Händen meines Bischofs entrinnen konnte, die Ansicht nämlich, daß der Mönch Weiber und Bischöfe durchaus fliehen müsse. Denn weder die Einen noch die Anderen lassen Den, welchen sie in den Kreis ihrer Freundschaft gezogen haben, ferner der Ruhe der Zelle sich hingeben, noch gestatten sie ihnen, durch die Betrachtung heiliger Dinge auf die göttliche Lehre den Blick eines ganz reinen Auges zu richten.“17

K.S. Frank unterstreicht, daß diese Verweigerung nicht als Protest gegen eine verweltlichte Kirche zu werten sei, wie das einige Deutungen unterstellen, sondern daß sie von individueller Heilssorge motiviert war, wobei die Askese als der sichere Heilsweg, der Weg zum Paradies, angesehen wurde. Die Askese „soll zur ungestörten Kontemplation und mystischer Gottesschau führen; dazu gehören aber die Absage an die Welt, auch an die ‘Welt’ der Gemeinde, Verzicht auf eine bürgerliche oder gemeindliche Tätigkeit und das übrige Repertoire asketischer Praxis.“18

Speziell für den Bereich des spätrömischen Ägypten, aus dem sehr viele Anachoreten stammten, kommt ein den Auszug verstärkendes Motiv hinzu. P. Brown kommt aufgrund der Literatur des frühen ägyptischen Mönchtums zu der Einsicht, „daß wir es hier mit Menschen zu tun haben, die durch eine Krise der menschlichen Beziehungen in die Wüste getrieben wurden.“19 Andere Zeugnisse aus dem spätrömischen Ägypten belegen, daß die Dörfer eine Krise der Solidarität durchgemacht haben. Die Askesebewegung rekrutierte sich weitgehend aus der Schicht der einflußreichen wohlhabenden Bauern des Niltales, deren Zusammenleben durch die Abhängigkeit vom kostbaren Wasser bestimmt war und diszipliniert wurde. „Welchen sozialen Status er auch haben mochte, kein Ägypter des 4. Jahrhunderts konnte daran zweifeln, daß sein Land eines war, dessen Bevölkerung unter dem Unstern unaufhörlicher Angst vor dem Verhungern lebte.“20 Die Last der Besteuerung verstärkte die Spannungen und Reibungen des Gemeinschaftslebens in den Dörfern, es handelte sich um „unglaublich rücksichtslose Kleinbauern, für die Gewalttätigkeit mit der Faust und der Zunge gleichermaßen natürlich war.“21 Die Reflexreaktion ägyptischer Bauern in schwieriger Lage war Distanzierung (anachoresis). Man zog entweder in ein anderes Dorf oder suchte sich irgendwie von den Mitmenschen zu entfernen.

So hatte das fromme Anachoretentum große Anziehungskraft für die bäuerliche Gesellschaft der spätantiken Mittelmeerwelt. Die Kräfte und das Prestige des Anachoreten rührten davon her, „daß er vor den Augen einer Gesellschaft, die in lastende Verpflichtungen und rücksichtslose soziale Beziehungen verstrikt war, in heroischer Weise die Rolle des absolut autarken, allein auf sich gestellten Menschen spielte.“22 „Der Eremit wurde als ein Mensch angesehen, der sich auf die Suche nach seinem wahren Ich begeben hatte. Mit dem Faktum der anachoresis hatte er die Spannungen und Ungereimtheiten in seinen Beziehungen zu den Mitmenschen gelöst. In der Wüste, so erwartete man, würde er sich niederlassen, um im Kampf mit dem Dämonischen die Ungereimtheiten seiner eigenen Seele aufzulösen. Die Kräfte, über die der Asket verfügte, stammten aus einem langen Prozeß der Selbstfindung.“23 Dieser Auszug, diese Trennung gab der Asketen-Bewegung auch ihren Namen, nämlich Anachorese, d.h. „das Weggehen aus dem Lande“, „das Sich-Entfernen“, „das Abstandnehmen“, den „Auszug aus dieser Welt“.24 Später bezeichnet dieser Begriff den Unterschied zu den Koinobiten, den in Gemeinschaft lebenden Mönchen, auch wenn diese Unterscheidung nicht ganz unproblematisch ist.25

In eine ähnliche Richtung zielt die mit dem Asketentum verbundene Forderung nach Jungfräulichkeit, bzw. die zweite Mahnung von Johannes Cassian, sich nicht nur des Bischofs, d.h. der Gemeinde, sondern auch der Frau zu enthalten. Dabei ist zu beachten, daß Sexualität im Leben der Männer dieser Zeit eine andere Konnotation hatte als heute. „Die Frau stand für alles Stabile und Umgreifende im Leben der Männer. Wenn ein Mann von seiner Frau träumt, schreibt Artemidoros, denkt er gewöhnlich an seine Arbeit: ‘Die Frau steht entweder für den Beruf des Träumenden oder für seine geschäftlichen Verpflichtungen.’ “26

Jungfräulichkeit war in der Antike ein Status, den es durch einen sozialen Akt zu überwinden galt. Selbstverständlich billigte Platon der polis die vollkommene Kontrolle über die Leiber ihrer Jugend zu. Die Fruchtbarkeit der jungen Frauen müsse für die Geburt von Kindern eingesetzt und der Mut ihrer jungen Männer für die Fortpflanzung und die organisierte Gewalt des Krieges verfügbar gemacht werden. Dem gegenüber war die Bewahrung der Jungfräulichkeit ein asozialer Akt. Der Leib wurde der Verfügungsgewalt des Staates entzogen. Der Entschluß, ihren Leib heilig zu halten, dokumentierte ein Recht, nach eigenem Gutdünken über seinen Körper zu verfügen, ihn in dem jungfräulichen Stand zu bewahren und dadurch herauszulösen aus dem Kreislauf der Gesellschaft. Das galt gleichermaßen für Mann und Frau. „Der eigene Körper war in der Tat zu einem greifbaren locus (Ort) geworden, an dem bei Entscheidungen, die das konventionelle Gefüge der Gesellschaft zuinnerst berührten, die Willensfreiheit geübt werden konnte.“27

Auf diesem Hintergrund muß die Jungfräulichkeit des Mönchtums auch in einer Linie mit der Befreiung aus sozialen Zwängen gesehen werden.

„Den Körper als ganzen der Gesellschaft entzogen zu haben hieß, ganz konkret und persönlich eine Erklärung über die Natur der alten Form menschlicher Solidarität abzugeben - über die grundlegenden Bindungen der Gesellschaft, die (auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht) heißen: sexuelle Bedürfnisse, sexuelle Vereinigung und damit die naturgegebenen Formen der Gesellschaft, die sich aus der sexuellen Vereinigung ergeben: Familie, Nachkommenschaft, Verwandtschaft. Statt dessen wurde nun das Recht des einzelnen geltend gemacht, für sich neue Formen der Solidarität zu suchen, die dem Rang freier Menschen gemäßer sind, die erlauben, in eine frei gewählte Harmonie der Willen einzutreten, die, wie die Christen der Spätantike glaubten, die Freude des ungeteilten Lebens der ‘Engel des Himmels’ ausmacht.“28

Das Ideal der Jungfräulichkeit hatte eine besondere Anziehungskraft für Frauen, denn was die christliche Gemeinde der Frau an gesellschaftlicher Anerkennung zu bieten hatte, war recht bescheiden. „Der verheirateten Frau bot die kirchliche Unterweisung das gut bürgerliche, etwas antiquierte Hausfrauenideal als Lebensziel an. Vom Gemeindeamt blieb die Frau grundsätzlich ausgeschlossen.“29 Unter diesen Umständen gab es für die Frau nur einen Weg zu einem bescheidenen Maß an Emanzipation und weitgehender gemeindlicher Anerkennung: Die Ehelosigkeit, das Leben in gottgeweihter Jungfräulichkeit.

Die jungfräulich lebenden Frauen blieben stärker an die Gemeinde gebunden, wohl auch wegen der Gefahren eines Einsiedlerlebens in der Wüste. Sie hielten sich aber durchaus von der übrigen Gemeinde getrennt auf und fuhren fort, Werke der Barmherzigkeit zu tun und sich der Gefangenen, Kranken , Waisen und Witwen anzunehmen.30 Gleichwohl gibt es Frauen, die als Eremiten lebten und anerkannte „Wüstenmütter“ wurden. Die Apophthegmata Patrum berichten von drei Müttern (Amma)31, wobei auffällt, daß sie dies ohne jegliche Einschränkung oder Unterscheidung tun, die Wüstenmütter sind den Wüstenvätern völlig gleichgestellt. Viele der Asketen waren einfache Leute, aber binnen kurzem erhielt die Bewegung eine zusammenhängende theologische Grundlegung. Schon in den Schriften des Klemens von Alexandrien (+ um 215), vor allem in den Stomateis („Teppiche“, eine Literaturgattung, die verschiedene Themen in bunter Reihenfolge behandelt) finden sich Grundzüge einer asketischen Theologie. Der Gläubige wird durch die christliche Wahrheit ein Wissender, ein „christlicher Gnostiker“32. Das Erkennen ist allerdings mehr als das Glauben und nicht alle Gläubigen können, obwohl sie alle das Heil erlangen, zu diesem Ziel des wahren Gnostikers gelangen, denn es ist der schwierige Weg der Vervollkommnung des Menschen. Die Mühen des Gnostikers betreffen nicht in erster Linie den Intellekt, sondern meinen die Erlangung der Herzensreinheit im Sinne sittlicher Vervollkommnung. Der Weg dazu ist der Weg der Liebe zum Nächsten und zu Gott. Gotteserkenntnis ist als dynamisches Fortschreiten und nicht als statischer Besitz zu verstehen. Deshalb bleibt dies lebenslange Aufgabe des Gnostikers.33

Auch nach Origenes (+ 254) steigt der wahre Gnostiker geistlich zu Gott auf, so wie die Apostel mit Christus auf den Berg der Verklärung, um ihn zu schauen. Das erste Erfordernis dafür ist die Selbsterkenntnis, der Christ muß wissen, was er tun und lassen soll, um auf dem Weg der Vereinigung mit Gott und Christus voranzuschreiten.34

Ständiger Kampf gegen die Leidenschaften und den Geist der Welt, der zur Sünde führt, kommen hinzu.

Dieser lebenslange Prozeß monastischer Askese wird als lebenslanges Martyrium verstanden, der Mönch wird nach und nach zum „Märtyrer“, zum wahren Zeugen des Christseins.35

I.1.B. Die Wüste und der Kampf mit den Dämonen

Als bevorzugten Ort wählen die Asketen die Wüste. Dafür lassen sich drei Gründe anführen:

I.1.B.a. Die biblische Sicht der Wüste als Ort der Erwählung, des Bundes und der Prüfung.

Der Bundesschluß erfolgte auf dem Weg des Volkes Gottes durch die Wüste (Ex 19ff.). Obwohl dieser Bund immer wieder durch die Untreue Israels gebrochen wurde, bleibt Gott seinem Volk gegenüber treu. Am Ende der Zeiten wird er sein Volk in die Wüste zurückführen (Hos 2,16), dem Ort der ersten Liebe (Jer 2,2-3; Hos 9,10). Die Wüste als Ort der Läuterung, Prüfung, Selbsterkenntnis und Vorbereitung ist ein weiteres Motiv (1 Kön 19,3-8; Mt 3,1-12; 4,1-11).

I.1.B.b. Die Vorstellungen des zeitgenössischen Hellenismus von der Wüste als dem idealen Ort eines gesunden und zurückgezogenen Lebens.

Nach Philon gab Gott sein Gesetz in der Wüste, weil die meisten Städte voll von unzähligen Übeln sind, von Freveln gegen die Gottheit wie von Verbrechen der Menschen gegeneinander.36 Außerdem sind die Städte wegen ihrer verschmutzten Luft zu meiden, die ein Leben in der Stadt ungesund macht. Deshalb haben sich die Therapeuten von Alexandrien an Orte begeben, die einen sehr gesunden klimatischen Zustand aufwiesen und wo die Luft sauber und leicht war.37 Bei Philon und anderen Autoren seiner Zeit ist eine romantische Sehnsucht nach Einsamkeit und Zurückgezogenheit festzustellen.

Dieses Bild findet sich in wesentlichen Zügen auch bei den frühen christlichen Autoren wieder. Klemens von Alexandrien schreibt über Johannes den Täufer: „In der Wüste genoß der Täufer das ruhevolle Leben der Einsamkeit.“38 Ähnlich bei Origenes: „Johannes der Täufer floh den Lärm der Städte und ging in die Wüste, wo die Luft reiner ist und der Himmel weiter offen steht und Gott näher und vertrauter ist.“39 Hier wird angedeutet, daß das Zeithaben für Studium und Meditation die entscheidende Motivation zum Rückzug in die Wüste darstellte. Der Brief des Hieronymus an Heliodor ist geradezu eine Werbeschrift für die Wüste auf dem eben beschriebenen Hintergrund: „... O Wüste, die du dich zeigst in der Frühlingspracht der Blumen Christi! ... O verlassene Stätte, in der man sich des vertrauten Umgangs mit Gott erfreut! Was willst du, mein Bruder, in der Welt, der du erhaben über der Welt stehst? Wie lange soll der Häuser Schatten auf dich drücken? Wie lange soll dich der rauchgeschwängerte Kerker dieser Städte festhalten? Glaube mir, ich weiß nicht, was ich allein an Tageshelle hier mehr genieße. Hier kann man sich der Bürde des Körpers entledigen und sich zum reinen Glanz des Äthers emporschwingen. ...“40 Dazu bemerkt A. Guillaumont lakonisch: „In Wirklichkeit sollte Hieronymus nur ein paar Monate in dieser so ‘beglückenden’ Einsamkeit verweilen. Dann kehrte er wieder in die Stadt, nach Antiochien, zurück.“41

I.1.B.c. Die religiös-mythische Deutung der Wüste als Bereich des Todes und der lebensbedrohenden Gefahr, als Ort der Dämonen42.

Diese Deutung wird bestimmend für die Wüstenväter.43

„Ganz gleich, ob Ägypten das Ursprungsland oder nur das klassische Land des frühen Mönchtums ist, auf jeden Fall begegnen wir dort Mönchen von ganz anderer Wirklichkeitsdichte, die in einer realistischeren Wüste leben. Für sie ist die Wüste etwas völlig anderes, als was uns bislang die an der Bibel, wie sie von Philon verstanden wurde, und an der griechischen Philosophie geschulten Literaten vor Augen gestellt haben. Die meisten von ihnen waren gebürtige Ägypter, Bauern44 aus den Dörfern des Niltals oder aus dem Nildelta.“45 Diese Mönche kannten von Jugend an den Gegensatz von bebautem Land und Wüste, der im engen Niltal viel schroffer ist als anderswo. Wo das Wasser des Nils nicht mehr hingelangt, beginnt fast übergangslos und sofort die Wüste.

P. Brown konstatiert: „Die Siedlungen der ägyptischen Asketen des 4. Jahrhunderts verbanden geographische Nähe zum bewohnten Land mit einer Haltung unendlicher gedanklicher Distanz. ... Trotz ihrer körperlichen Nähe zum bewohnten Land waren die Mönche Ägyptens in der Vorstellung der Zeitgenossen überlegen, weil sie sich gegen einen Sandozean behaupteten. ... Der Mythos der Wüste war eine der dauerhaftesten Schöpfungen der Spätantike. ... Er identifizierte den Prozeß der Loslösung von der Welt mit dem Übergang aus der einen ökologischen Zone in die andere, aus dem bewohnten Land Ägyptens in die Wüste. Es war eine Grenze von brutaler Klarheit,...“46

Die von P. Brown angesprochene Überlegenheit der Mönche dokumentiert die Begriffsgeschichte der Bezeichnung Mönch (μοναΧóς). Nach den Untersuchungen A. Adams war es Eusebius von Cäsarea, der den Begriff zwar wohl schon als Titel für christliche Asketen vorfand, ihn dann aber erstmals in folgender Weise definierte: „... die oberste Ordnung derer, die in Christus voranstreben, ist die der μοναΧοí.“47 Diese Mönche, so Eusebius weiter, sind selten anzutreffen und gehören nicht zum gemeinen Volk, und „darum werden sie nach Aquila μονογɛνɛíς genannt, da sie gleich geworden sind dem eingeborenen Sohne Gottes.“48 Sie sind μονήρɛι (Vereinzelte) und praktizieren τòν μονήρη καì άγνήν κατοροΰντɛς βίον (einsames und heiliges, glückliches Leben).“49 A. Adam resümiert: „Diese Ausführungen Eusebs sind mit Wahrscheinlichkeit als die Quelle anzusehen, von wo aus der Begriff μοναΧóς in den griechischen kirchlichen Sprachgebrauch übergegangen ist. ... Rund 30 Jahre nach dem Psalmenkommentar des Euseb [ca. 357] ist der Begriff μοναξóς bereits zur festen Bezeichnung geworden.“50

Die mönchische Askese, die in der Wüste als dem eigentlichen Bereich der Dämonen geübt wurde, stellte sich vor allem als Kampf gegen diese Dämonen dar. Jesus selbst wurde vom Geist in die Wüste geführt, „damit er vom Teufel versucht werde“ (Mt 4, 1). Der Sieg Christi über den Teufel steht am Anfang seines Erlösungswerkes. Wie Christus kämpfte nun auch der Mönch mit dem Bösen. Im „offenen Kampf und ohne Tarnung“51 trat er dem Dämon entgegen und erwies sich so als Kämpfer Christi. Hier ergibt sich eine Parallele zum oben skizzierten Märtyrerbegriff, der sich auf die Asketen übertragen hatte. Aus den Märtyrerakten geht hervor, daß diese ihr Martyrium nicht als Kampf mit Menschen und wilden Tieren, sondern als Kampf mit dem Teufel und seinen Helfern, den Dämonen, begriffen.52 „Die Dämonen stifteten die Christenverfolgung an. Sie ersannen die Martern. Sie lockten zum Abfall. Sie waren es auch, die angesichts der Niederlage von den blutigen Verfolgungen abließen, um nun die Christenheit durch eine erschlaffende Friedenszeit zu schädigen. ... Es ist für das alte Mönchtum selbstverständlich, daß sich nach dem Aufhören der Christenverfolgungen die dämonischen Angriffe besonders gegen die Mönche richten.“53

Dies verbindet sich mit einem weiteren Motiv: Durch das Kommen Christi hatte der Teufel keinen Ort mehr, an dem er herrschen konnte; einzig die öde und menschenleere Wüste blieb ihm noch. Als nun die Asketen in die Wüste eindringen, fürchtet er, „daß Antonius mit der Askese auch noch die Wüste anfüllt“54 und daß mit ihm die Scharen der Mönche ihn, den Teufel, aus seinem ureigensten Herrschaftsbereich verdrängen.55 „ ‘Die Welt’ zu fliehen bedeutete, eine festgefügte Sozialstruktur zu verlassen und sich für eine ebenso feste und ... ebenso soziale Alternative zu entscheiden56. Die Wüste war eine ‘Gegenwelt’, ein Ort, an dem eine alternative ‘Stadt’57 wachsen konnte.“58 Stadt und fruchtbares Land sind gemäß prophetischer Tradition (vgl. Jes 35, 1ff.) die Bilder für den Anbruch der Messiasherrschaft. So wird die Wüste zu einem theologischen und heilsgeschichtlichen Ort, einem Ort, den der antike Heide mied wegen der Dämonen, den der Christ aber bewußt aufsuchte, um den Kampf auszutragen, der das Glaubensleben eines jeden Christen ausmacht und bestimmt, den Kampf um die Errichtung der Herrschaft Gottes. Daraus ergibt sich folgerichtig: „Die Rede von den Dämonen ist keine Aussage über irgendwelche okkulte Phänomene und auch keine über rein psychische und psychologische Wirklichkeiten im Innersten des Menschen. Vielmehr beinhaltet das Wort vom Kampf mit den Dämonen eine theologische Aussage - und zwar über das Heil des Menschen. Der Mönch nimmt bewußt den Kampf mit den Dämonen auf sich, weil er erfahren hat, daß sein Leben wie das eines jeden Christen im Streit von Mächten und Gewalten steht. Indem der Mönch in der Welt und im Widerstreit der diabolischen Kräfte sich für das Gute entscheidet und den guten Kampf vollendet (vgl. 2 Tim 4,7), kämpft er an der Seite Christi und wirkt mit ihm für das Heil der Welt und für das Kommen des Gottesreiches. Damit bekommt das Tun des Mönches eine apostolische und missionarische Dimension.“59

A. Guillaumont warnt davor, dabei nicht die wirkliche Motivation aus den Augen zu verlieren, die den Asketen in die Wüste treibt. Sie sind nicht primär in die Wüste gegangen, um dort dem Dämon zu begegnen, vielmehr gingen sie dorthin, um Gott zu finden. So findet sich doch noch etwas von der oben erwähnten idealistischen und optimistischen Sicht der Wüste als Ort der Einsamkeit und Gotteserfahrung. „’Von den Dämonen versucht’ zu werden, bedeutete, daß man ein Stadium im Wachstum des Bewußtseins, empor von den unteren Grenzen der Persönlichkeit durchmachte.“60 Die Wüste zwingt zu einer Konzentration auf das Wesentliche, so formuliert Antonius:

„Wer in der Wüste sitzt und die Herzensruhe pflegt, wird drei Kämpfen entrissen: dem Hören, dem Reden, dem Sehen. Er hat nur noch einen Kampf zu führen: den mit dem Herzen.“ (Antonios 11)(Apo 11)

„Der Mönch ist ein Mensch, der seinem Leben Einheit geben will, der deshalb auf alles verzichtet, was Quelle der Geteiltheit und Spaltung ist. Das gilt nicht nur für die nach außen gewandten Tätigkeiten, sondern auch und vor allem für das innere Leben.“61 Für diesen Weg brauchte der Mönch Hilfe, er war angewiesen auf andere, auf den Bruder, der schon forgeschrittener war. Daher suchten die Mönche der Wüste einander auf, zu Austausch und geistlichem Gespräch, zu Ermutigung, Korrektur und Hilfe auf ihrem Weg und für ihr Leben mit Gott. Daraus entwickelte sich die Geistliche Führung durch erfahrene, gereifte Mönche, die den Namen Abbas (Vater), bzw. wenn es sich um eine Frau handelte, Amma (Mutter) erhielten. Geistliche Väter oder Mütter zeichneten sich nicht unbedingt durch höhere Bildung oder größere Klugheit aus, sondern durch ihre geistliche Erfahrung, durch ihre Reife, die sie im Kampf mit den Dämonen errungen hatten. Es sprach sich herum im Kreis der Anachoreten, die nicht so weit entfernt voneinander wohnten und, wie gesagt, lockeren Kontakt hatten, wenn da ein Abbas, eine Amma als vom Geist erfüllt galt und im geistlichen Leben weiterhelfen konnte.62 Ihren Niederschlag fand diese Geistliche Führung in den Apophthegmata Patrum, einer losen Sammlung von zunächst mündlich überlieferten und dann verschriftlichen „Aussprüchen der Väter“, die in kleinen Geschichten und kurzen szenischen Darstellungen oder nur in Form eines Spruchs die Erfahungen und Weisheiten der Väter für spätere Generationen von Mönchen festhalten wollten. Die Geistliche Führung bei den Wüstenvätern ist ein Hauptthema dieser Arbeit und wird weiter unten noch ausführlich behandelt, deshalb mögen hier die wenigen Hinweise genügen.

I.1.C. Die Entwicklung von der Anachorese zum Koinobitentum

„Das Mönchtum der Sketis, das uns die sog. Apophthegmata Patrum in vollendeter Form und Klarheit abspiegeln, ist seinem Grundcharakter nach anachoretisch.“63 Mit dieser Feststellung beginnt W. Bousset seinen grundlegenden Artikel zum Mönchtum der sketischen Wüste.

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