image

Andreas Unfried u. a.

XXL-Pfarrei

Monster oder Werk
des Heiligen Geistes?

Andreas Unfried u. a.

XXL-Pfarrei

Monster oder Werk
des Heiligen Geistes?

image

Die Bibelstellen wurden entnommen der Einheitsübersetzung
der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

Einleitung (Andreas Unfried)

TEIL I:
Grundlegende Überlegungen

1. Warum nicht alles bleiben kann, wie es ist. Und warum es besser ist, den Wandel zu gestalten, als ihn zu erleiden (Andreas Unfried)

2. Gemeinde, Pfarrei, Pfarrgemeinde – eine babylonische Sprachverwirrung (Andreas Unfried)

3. Es war nicht immer so, wie es ist: Pfarrseelsorge im Wandel (Mathias Wolf)

4. Gefeierter Glaube, gegebenes Zeugnis, tätige Nächstenliebe, praktizierte Gemeinschaft: Wovon die Kirche lebt (Andreas Unfried)

5. Die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche: Was Kirche ist (Andreas Unfried)

6. In persona Christi capitis: Priesterliches Dienstamt (Andreas Unfried)

7. Diener eurer Freude – Vom Zusammenspiel der Dienste und Ämter (Mathias Wolf)

8. Der mitteleuropäische Sonderweg: Hauptamtliche Laien und arbeitsteilige Seelsorge (Andreas Unfried und Daniel Dere)

9. Die sitzende Kirche – Die Gremien: unser Untergang? (Andreas Unfried)

10. Beteiligung braucht neue Formen: Die Überwindung des Sitzungskatholizismus (Daniel Dere)

11. Wie kann’s weitergehen? – Ein Ausblick (Mathias Wolf)

TEIL II:
Wie es trotz allem gehen kann: Ein Praxisbericht

12. „Wir wollen nicht. Aber wenn doch, dann schnell!“ – Die Ausgangslage (Andreas Unfried)

13. Projekt Pfarreiwerdung – Viele Köpfe denken besser (Andreas Unfried)

14. Nicht jeder kann alles, keiner kann nichts – Ein Team werden in der Seelsorge (Susanne Degen)

15. Wer nicht gegen uns ist, ist für uns – Öffentlichkeitsarbeit und Transparenz (Daniel Dere)

16. Da könnte ja jetzt jeder kommen … – Vom Umgang mit bischöflichen Behörden (Andreas Unfried)

17. Gemeinsamer Weg, gemeinsame Verantwortung – Vom Segen des Synodalprinzips (Andreas Unfried)

18. Wir gehen doch nicht allein – Geistliche Gründung eines Wandlungsprozesses. Ein imaginärer Dialog (Susanne Degen und Clemens Olbrich)

19. „Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles“ – Verwaltung und Finanzen (Andreas Unfried)

20. Fazit: Warum das Neue besser ist als das Alte – und trotzdem noch lange nicht genug (Andreas Unfried)

TEIL III:
Materialsammlung

I.

„Geh deinen Weg …“ – Eine biblische Vergewisserung

II.

FAQ: Was ist eine „Pfarrei neuen Typs“?

III.

Konsenspapier des Pastoralteams: Künftige Aufgaben der hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger

IV.

FAQ: Ergebnisse der Beratungen in den Projektgruppen

V.

Präsentation: „Pfarrei neuen Typs“ für fünf öffentliche Veranstaltungen in den Gemeinden

VI.

Präsentation: Offener Klausurtag zum Prozess Pfarreiwerdung

Gebet auf dem Weg zur Pfarreiwerdung

Guter Gott,

wir bitten Dich auf unserem Weg,

dass uns Dein Heiliger Geist begleitet,

der Geist der Geschwisterlichkeit,

der Geist der Kreativität,

der Geist der Beherztheit,

Dein Segen begleite uns in all unserem Tun.

Amen.

Dieses Gebet, das auf unserem Klausurtag entstanden ist, wurde am Folgetag in allen Gottesdiensten gebetet und hat uns auf dem weiteren Weg immer wieder begleitet, indem wir es vor Beginn oder am Ende von Sitzungen gebetet haben und die Gemeinden eingeladen haben, uns durch ihr Gebet zu Hause im Prozess zu unterstützen.

Einleitung

(von Andreas Unfried)

Es kommt nicht alle Tage vor, dass man von 311 deutschen Theologen als Missstand angeprangert wird. In dem vielbeachteten Memorandum: „Kirche 2011 – Ein notwendiger Aufbruch“ heißt es: „Christliche Gemeinden sollen Orte sein, an denen Menschen geistliche und materielle Güter miteinander teilen. Aber gegenwärtig erodiert das gemeindliche Leben. Unter dem Druck des Priestermangels werden immer größere Verwaltungseinheiten – ‚XXL-Pfarren‘ – konstruiert, in denen Nähe und Zugehörigkeit kaum mehr erfahren werden können. Historische Identitäten und gewachsene soziale Netze werden aufgegeben. Priester werden ‚verheizt‘ und brennen aus. Gläubige bleiben fern, wenn ihnen nicht zugetraut wird, Mitverantwortung zu übernehmen und sich in demokratischeren Strukturen an der Leitung ihrer Gemeinde zu beteiligen.“

Was lässt sich groß sagen gegen den versammelten Sachverstand der deutschen Theologie? Oder gegen das ebenfalls verbreitete Urteil im Kollegenkreis oder in Diskussionsrunden mit kirchenkritischen Kirchenliebhaberinnen und -liebhabern, man sei bloß zu konfliktscheu und schafsdumm, um gegen solch offenkundige Fehlentwicklungen entschlossenen Widerstand zu leisten?

Wir haben im vergangenen Jahr einen Weg beschritten hin zu einer „Pfarrei neuen Typs“. Wir haben es nicht unserem Bischof zu Willen getan – wenngleich mit gehöriger Unterstützung durch die Diözese. Wir haben es getan aus der Überzeugung heraus, dass wir grundlegend etwas ändern müssen in der pfarrlichen Seelsorge und dass wir diese Änderungen lieber selber mit betreiben wollen, statt uns als Hindernis den Veränderungen in den Weg zu stellen (auf die Gefahr hin, überrollt zu werden). Es ist nicht so, dass wir schon in allem Bescheid wüssten, wie das Neue werden wird. Immer wieder gehen wir mit Hoffen und Bangen und oft genug navigieren wir bloß auf Sicht. Es ist auch nicht so, dass wir völlig frei von Selbstzweifeln wären. Geben wir zu viel vom Bewährten auf? Werden uns die Gemeindemitglieder folgen? Ist die Kirche, die am Ende entstanden sein wird, auch weiter die Kirche, von der ich geträumt habe, als ich mich einst entschlossen habe, mein Leben von ihr und der Botschaft, für die sie steht, prägen zu lassen?

Viele von uns sind in dieses Projekt mehr hineingestolpert, als dass sie es aktiv gewollt hätten. Wir haben uns auseinandersetzen müssen mit einer völligen Umgestaltung des beruflichen Umfelds und der vertrauten Gemeindestrukturen. Für viele von uns bedeutet der Prozess der Veränderung auch schmerzlichen Abschied von Liebgewordenem und Vertrautem. Dennoch haben Priester, hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger und nicht zuletzt die synodalen Verantwortungsträger in den betroffenen acht Pfarrgemeinden unseres Pastoralen Raums mit großer Entschiedenheit den Weg zur Pfarreiwerdung beschritten. Wir sind diesen Weg von vornherein als gemeinsamen Weg gegangen, als Schicksalsgemeinschaft gewissermaßen. Und wir gehen ihn – bei unterschiedlichem Grad der Betroffenheit und unterschiedlicher Tiefe der Reflexion – als einen Weg, auf dem wir uns geführt vom Heiligen Geist erfahren. In unserer Perspektive ist das, was wir hier versuchen, nicht der Abgesang auf pfarrliche Seelsorge, sondern die konsequente Fortführung der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums. Es ist ein Ernstmachen damit, dass die Kirche wirklich Volk Gottes ist, in dem Laien und Priester gemeinsam Verantwortung tragen aufgrund gemeinsamer Berufung zum Allgemeinen Priestertum in Taufe und Firmung, und dass dieses Gottesvolk wiederum in sich gegliedert ist in eine Vielzahl und Vielfalt von Berufungen und Charismen, Ämtern und Diensten, unter denen dem priesterlichen Amt als dem Dienst an der Einheit und Apostolizität besondere Bedeutung zukommt.

Für uns ist die „Pfarrei neuen Typs“ keine Zentralpfarrei. Wir haben sie betont dezentral angelegt und sehen das Neue gerade darin, dass manche Identitätsmerkmale der klassischen Pfarrgemeinde auf sie nicht zutreffen. So vermag die neue Pfarrei die Gläubigen nicht ohne weiteres um einen Altar zu versammeln, weil es keine Kirche bei uns gibt, die groß genug wäre, die ganze Pfarrei (oder auch nur die Gottesdienstgemeinde derselben) zu fassen. Die neue Pfarrei wird auch kein zentrales Pfarrfest für alle haben können. Wir müssten uns dafür sonst wohl in einer Messehalle einmieten. Wichtiger aber als das, was die neue Pfarrei nicht sein wird oder leisten kann, wird sein, was sie positiv auszeichnet. Wir sind uns bewusst, dass vieles davon erst der Entwicklung bedarf. Wir legen gegenwärtig ja lediglich die Spielregeln fest, unter denen sich das Spiel dann erst entwickeln wird. Aber es ist doch nicht so, dass man an diesen Spielregeln nicht schon gewisse Kennzeichen der neuen Pastoral ablesen könnte: Es geht um Beteiligung und Transparenz in der Kommunikation und Entscheidungsfindung. Es geht uns um möglichste Nähe in der Seelsorge (wobei neu zu verstehen sein wird, wer künftig alles Träger von Seelsorge sein kann). Es geht uns um die Freisetzung von Ressourcen für die Neugewinnung bzw. Rückgewinnung pastoraler Felder, um das Aufbrechen der „Verkernung“ unserer Gemeinden und darum, dem immer schneller fortschreitenden gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Kirche und Glaube etwas entgegenzusetzen. Es geht schließlich darum, durch den Aufbau selbsttragender Gemeindestrukturen die pfarrliche Seelsorge weniger abhängig von hauptamtlicher Führung und Stützung zu machen, um die Gemeinden zukunftsfest zu machen in einer Zeit, in der es (Pflichtzölibat oder nicht) absehbar ist, dass der Grad der Hauptamtlichkeit in der deutschen Kirche spürbar abnehmen wird – und zwar nicht erst eines fernen Tages, sondern bereits im nächsten Jahrzehnt.

Wir haben im Folgenden versucht, unseren Weg und die Beweggründe für denselben zu beschreiben. Wir haben auch aufgeschrieben, welche Einsichten uns beim Gehen dieses Weges gekommen sind.

Gerne geben wir Ihnen auch etwas davon an die Hand, was uns selbst an Materialien in diesem Prozess hilfreich gewesen ist. Wir hoffen, auf diese Weise helfen zu können, dass andere, die sich auf den Weg machen wollen, das Rad nicht jedes Mal neu erfinden müssen oder auch dass sie aus unseren Fehlern lernen können.

Darum gliedert sich dieses Praxisbuch in einen ersten Teil mit grundlegenden Überlegungen, einen zweiten, der sehr konkret unseren Weg beschreibt, und einen dritten Teil, in dem wir verschiedene Materialien zusammengestellt haben.

Weil ein solcher Weg niemals von einem allein gegangen werden kann, wird dieses Buch auch gleichsam aus verschiedenen Perspektiven geschrieben. Nicht alles lässt sich hundertprozentig zur Deckung bringen. Nicht alle – zumindest scheinbaren – Widersprüche konnten wir ausgleichen. Wichtiger ist aber, dass wir gemeinsam auf dem Weg geblieben sind und uns immer wieder zumindest auf Richtung und Ziel verständigen konnten. Oft haben wir darum ringen müssen. Und gemurrt wie das Volk Israel in der Wüste haben wir mehr als einmal.

Für diejenigen, die dieses Buch vor allem aus dem Motiv heraus lesen, herauszufinden, warum das alles in ihrer Situation überhaupt nicht funktionieren kann, empfehlen wir, die Lektüre mit dem Kapitel 13 über die besondere Ausgangslage in Oberursel zu beginnen. Natürlich ist unser Prozess ein Einzelfall und – so gern es die Diözese auch hätte – nicht einfachhin ein Pilotprojekt, das sich problemlos auf andere Situationen im Bistum oder anderswo übertragen ließe.

Auf irgendwelche Vorbildfunktionen kommt es uns auch überhaupt nicht an. Wohl aber auf den Grundgedanken hinter unserem Projekt: dass auch in den gegenwärtigen Zumutungen eines tiefgreifenden Veränderungsprozesses der Gestalt von Kirche in unserem Land ein Anruf des Heiligen Geistes stehen kann, dass Gott auch heute in den Zeichen der Zeit zu uns spricht. Das „aggiornamento“ (die „Heutigwerdung“), jener Schlachtruf der Pastoral nach dem Konzil, das wir gern und oft in Richtung einer weitgehend reformunfähigen oder doch -unwilligen Institution Kirche aussprechen, erleben wir auf uns selbst gewendet als eine ungeheure Herausforderung, aber auch Inspiration. In der Pfarrei neuen Typs, wie wir sie miteinander erbauen und erbeten, wird der Geist der Freiheit und der Teilhabe wehen, der Geist des geschwisterlichen Miteinanders und der Freude an Gottes Wort und Sakrament. Wir sind uns bewusst, dass am Ende des Weges nicht schon „das Land, wo Milch und Honig fließt“, stehen wird. Es wird für uns nicht anders ausgehen als damals für das Volk Israel: Nach den 40 Wüstenjahren und der Landnahme wartete ein mühseliges Leben als Ackerbauern und Viehzüchter auf sie. Nicht ohne Grund hat Jesus für die Zeichen des Neuen Bundes nicht Milch und Honig, sondern Brot und Wein ausgewählt, die „Früchte der Erde und der Arbeit vieler Menschen“. Auf die Früchte dessen, was unsere Arbeit und Gottes Gnade wachsen lassen wird, hoffen wir und vertrauen wir.

Teil I:

Grundlegende Überlegungen

1. Warum nicht alles bleiben kann, wie es ist.
Und warum es besser ist, den Wandel zu gestalten, als ihn zu erleiden

Von Andreas Unfried

Alle vier Jahre ist in unserem Bistum Visitation. Bischof oder Weihbischof ziehen dann durch den Bezirk und besuchen die Gemeinden und Pastoralen Räume. In der Regel wird dies begleitet durch eine Konferenz zu Beginn der Visitationsreise und einer zum Abschluss derselben. Mit schöner Regelmäßigkeit werden dabei auch die aktuellen statistischen Zahlen vorgestellt: zum sonntäglichen Kirchgang, zur Mitgliederbilanz, zur Sakramentenspendung – seit neuestem auch zu den gesellschaftlichen Milieus, wie sie in der SINUS-Studie beschrieben werden. Und jedes Mal zur großen Überraschung aller sind die Zahlen wieder schlechter geworden. Es sind mehr gestorben und ausgetreten, als getauft werden wollten. Es sind wieder weniger geworden, die sonntags zur Kirche gehen, und sogar weniger, die ihr Kind zur Erstkommunion anmelden. Von den Eheschließungen ganz zu schweigen. Ich erlebe das jetzt (nehme ich meine Ausbildungszeit hinzu) seit beinahe 25 Jahren so. Immer sind alle tief betroffen. Immer sagen alle, so könne es nicht weitergehen und man müsse ganz grundlegend etwas ändern. Fragt man dann aber genauer nach, was man denn zu ändern gedenke respektive was man in den letzten vier Jahren geändert habe, dann hört man (wenn überhaupt) meistens Rezepte vom Schlage: Da müssen wir uns eben mehr anstrengen und uns mehr Mühe geben. Da wird dann der Firmkurs zum Katechumenat für Jugendliche ausgebaut und aus der Erstkommunionvorbereitung wird eine mystagogisch-missionarische Glaubensschule für glaubensferne Eltern. Nichts gegen Anstrengung in der Pastoral. Nichts gegen neue Konzepte. Aber mit Verlaub: Sie laufen bei uns meist nach dem Prinzip: „Mehr vom Gleichen“. Es ist aber sehr fraglich, ob man ein Konzept, das die Erwartungen nicht erfüllt hat, tatsächlich verbessert, wenn man es einfachhin fortschreibt. Dem Fußball-Trainer, der angesichts einer Niederlagenserie seines Teams sein Spielsystem nicht überprüft und Varianten ausprobiert, wirft man spätestens nach der fünften Niederlage in Folge vor, die Mannschaft nicht mehr zu erreichen. Der goldene Handschlag ist dann meist nicht mehr weit. Enthebt uns aber unsere Arbeitsplatzsicherheit der Notwendigkeit, nach echten Reformen zu suchen? Das würde wohl niemand auch nur heimlich denken.

Verbreitet höre ich auf die Frage, warum man nicht versuche, etwas zu ändern in der Gemeindeseelsorge, auch die Antwort, das würde sowieso nichts nützen, da das Problem viel tiefer greife. Im Grunde hinge die Misere an der grundsätzliche Reformunfähigkeit der Kirche selbst. Und solange nicht tiefgreifende kirchliche Reformen, wie die Aufhebung des Pflichtzölibats, die Ermöglichung des Zugangs zum Weiheamt für die Frau, die Korrektur von offenkundig dem modernen Menschen nicht mehr zumutbaren Dogmen wie der Unfehlbarkeit des Papstes usw. usw., solange dies alles nicht in Sicht sei, sei der Versuch, vor Ort etwas zu reformieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Diese These hat natürlich etwas für sich: Erstens beweist sie sich sozusagen selbst. Denn ihre Anhänger brauchen nichts weiter zu tun, als untätig zu bleiben und zuzusehen, wie alles immer schlimmer wird. Zweitens hat sie den Vorteil, dass man selber an nichts schuld ist. Die Verantwortung liegt ja anderswo. Und man selbst hat ja oft genug gewarnt. Der gravierende Nachteil der Theorie ist allerdings, dass es den Schiffspassagieren auf der Titanic nicht wirklich etwas genutzt hätte, wenn sie schon beim Auslaufen aus dem Heimathafen den Kapitän auf die grundsätzliche Gefährlichkeit winterlicher Überquerungen des Atlantiks und die Unberechenbarkeit von Eisbergen aufmerksam gemacht hätten. Erhobenen Hauptes hätten sie zwar am Ende sagen können, dass sie es ja schon immer gewusst hatten. Untergegangen wären sie aber genauso wie alle anderen.

Wenn uns also etwas liegt an dieser Kirche, in der die meisten von uns von Kind auf groß geworden sind, dann sollten wir schleunigst zusehen, dass wir tatsächlich etwas ändern an den Zuständen, wie sie derzeit herrschen und sich immer weiter verschlimmern. Machen wir dazu einfach ein kleines Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, der Papst würde morgen feierlich erklären, dass ab sofort der Zölibat für Neupriester nicht mehr obligatorisch verlangt würde und das Diakonenamt künftig für Frauen geöffnet werde. Was würde passieren? Es gäbe natürlich einen medialen Rummel sondersgleichen. Nehmen wir den optimalen Fall, dass es darüber zu keiner Kirchenspaltung käme, sondern im Gegenteil eine Hinwendung der Jugend zur Kirche geschehe, dann würden in den Folgejahren sicherlich die Zahlen der Studierenden auf das Diplom in Theologie erheblich steigen. In fünf Jahren hätten wir dann die ersten Absolventen (und Absolventinnen), die anschließend in die zweijährige praktische Ausbildung übernommen werden könnten – natürlich im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Bistümer und mit dem Blick darauf, eine ungünstige Altersverteilung im pastoralen Personal insgesamt zu vermeiden. Will sagen: Im besten Fall hätten wir mit einer spürbaren Linderung der Personalnot in der Seelsorge in etwa zehn Jahren zu rechnen. Und mit jedem Tag, an dem die Voraussetzungen für unser Gedankenexperiment nicht vorliegen, verschiebt sich der Silberstreif am Horizont weiter nach hinten. Wie gesagt, wenn Sie der Auffassung sind, ohne die große kirchliche Reform sei nichts zu retten, dann ist das eben so. Konsequenterweise sollten Sie dann aber Ihr Engagement in der Kirche gänzlich einstellen, weil es ja sowieso letztendlich für die Katz ist.

Bei aller Sympathie für die prophetische Kritik an der Kirche und ihrer, meiner Ansicht nach, unbestreitbaren Reformbedürftigkeit ist mir aber meine Kirche viel zu lieb und teuer, als dass ich einfachhin zuschauen möchte, wie sie vor sich hin darbt. Ich habe auch grundsätzlich ein Problem damit, Dinge und Entwicklungen einfachhin zu erleiden, ohne versucht zu haben, das Geschehen auch zu beeinflussen. Schließlich sagt mir meine Lebenserfahrung, dass ich schon vielfach das Potential für echte Veränderung gröblich unterschätzt habe. Weder habe ich mir den Fall der Berliner Mauer vorstellen können noch hätte ich geglaubt, dass man Diktatoren gewaltfrei vertreiben kann oder dass eine wirtschaftsliberale Regierung aus der Atomkraft aussteigt. All dies aber ist geschehen – und noch eine Menge anderer unglaublicher Dinge. Dagegen wirkt das Projekt, unsere Gemeinden so zu reformieren, dass sie lebensfähig bleiben (oder wieder werden), ein bisschen wie Kindergeburtstag.

Eines dürfte dabei allerdings klar sein: Bei dem Wandel, der gegenwärtig ansteht, geht es um tatsächlichen Wandel, um echte Veränderung. Es ist die Schwachstelle jeder echten Veränderung, dass das Neue gegenüber dem Alten immer eigenartig farblos bleibt. Es liegt eben erst in der Zukunft. Und wenn man die rosig malt, setzt man sich völlig zu Recht dem Vorwurf der Schönfärberei aus. Man kann schließlich das Gegenteil nicht beweisen. Es liegt ja noch nicht vor. Demgegenüber haben die Kritiker, die vor allem vor den negativen Folgen einer Veränderung warnen, alle Plausibilität für sich, denn alle haben schon soundso oft erlebt, dass prognostizierte Folgen nicht eingetreten sind, während man anschließend mit unvorhergesehenen Nebenwirkungen seine liebe Not hatte. Das Alte, so miserabel und kritikwürdig es auch immer sein mag, hat den unbestreitbaren Vorteil, dass man es kennt. Man hat sich damit arrangiert. Es macht keine Angst mehr. Und wer sich lange genug mit dem Alten herumgeschlagen hat, der hat auch einen Weg gefunden, sich damit zu arrangieren. Denken Sie doch: Kaum waren die Israeliten einst nach dem Exodus in der Wüste Sinai angekommen, da sehnten sie sich bereits nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“. Wie oft sie wohl vorher tatsächlich an diesen gesessen hatten? Aber in der Rückschau verklärte sich das Bild. Und die Gegenwart war karg genug, als dass die ferne Verheißung des Gelobten Landes ihre Stimmung nachhaltig hätte heben können.

Rechtfertigen solche Einsichten aber das Nichtstun? Ist auf diesem Hintergrund der Exodus ein Irrtum historischen Ausmaßes gewesen? Doch wohl nicht. Es ist unbestreitbar wahr: Es gibt keine Wandlung zum Nulltarif. Alle Veränderung bedeutet auch Kosten, beinhaltet Abschied und Trauerarbeit. Aber ist es wirklich ein Zukunftskonzept, im Wissen um diesen Sachverhalt und im Versuch, dies alles möglichst zu vermeiden, die Probleme nonchalant auf die nächste Generation weiterzuschieben? Ist solches „Uns trägt es ja noch“ nicht einfach Feigheit, einmal ganz abgesehen davon, dass man sich durchaus die Frage zu stellen hat, was der Geist Gottes von uns erwartet und wozu er uns heute ruft? Es ist doch nicht nur die Erde, die wir von unsern Kindern nur geborgt haben. Das gilt doch auch gleichermaßen von der Kirche.

2. Gemeinde, Pfarrei, Pfarrgemeinde – eine
babylonische Sprachverwirrung

Von Andreas Unfried

Mit dem Konzil und mit der Synode haben die Katholiken die Gemeinde entdeckt. Spät genug möchte man aus evangelischer Perspektive sagen. Aber dafür immerhin nachhaltig, können wir dagegenhalten! Der Pastoraltheologe Ferdinand Klostermann stand im und nach dem Konzil für den Slogan: „Wo Pfarrei war, soll Gemeinde werden“. Und das entsprechende pastorale Programm war erfolgreich wie kaum eines in der deutschen Kirchengeschichte. Weder haben wir je einen so hohen Grad an ehrenamtlicher Mitarbeit in der Kirche gesehen wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, noch stand uns je eine differenziertere Theologie der Gemeinde zur Verfügung als im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und seines regionalen Appendix, der Würzburger Synode von 1972 bis 1975.

Die Würzburger Synode entwickelt klarer, als das dem Konzil möglich war, das Programm der Gemeindetheologie: Wo bisher das Milieu die Kirchenmitgliedschaft prägte, sollte nun die bewusste Entscheidung für den Glauben stehen. Der Christ der Zukunft werde ein Mystiker sein, sekundierte dazu der führende Dogmatiker jener Zeit, Karl Rahner, und meinte damit einen Christenmenschen, der selber etwas erfahren hat mit seinem Gott. Allerdings muss man konstatieren, dass die mystagogische Erschließung der christlichen Botschaft in jenen Jahren faktisch eher unterentwickelt blieb und die Umsetzung des Prinzips der Gemeinde weniger unter dem Fokus der Nachfolge Jesu als unter dem Fokus der Gemeinschaftsbildung geschah.

Ohne verantwortungsvollen Projekten der Gemeindeentwicklung zu nahe treten zu wollen, behaupte ich, dass der Prozess der Neuorientierung vielfach nach dem Muster verlaufen ist: Wo „Pfarrei“ war und nun „Gemeinde“ werden soll, da gründen wir „Pfarrgemeinde“. Ich will damit sagen, dass das neue Paradigma das alte nicht einfach ablöste, sondern dass man den alten Idealen die neuen einfach an die Seite stellte. Die Fronleichnamsprozession sollte so feierlich wie immer sein, aber dafür jetzt mit begleitendem Kinderwortgottesdienst und Neuem Geistlichem Lied von der Jugendband. Bei alledem gab man sich wenig Mühe um die Definition der Begrifflichkeiten. Pfarrei, Gemeinde, Pfarrgemeinde – letztlich sollte sich alles gleich anfühlen, mit dem deutlichen Akzent auf den Primat der Gemeinde vor Ort. Sie war die maßgebliche Sozialgestalt der Kirche Jesu Christi auf Erden. An manchen Orten wurde das ideologisch so weit getrieben, dass die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst in einer Nachbarpfarrei als unsolidarischer Akt gegenüber der eigenen Gemeinde gewertet wurde. Aber auch wenn das seltene Überzeichnungen gewesen sein mögen, so ist doch aufs Ganze festzuhalten, dass sich über die Jahre und Jahrzehnte vielfach und vielerorts eine sehr selbstbewusste (und teilweise sehr eigene) Identität als Gemeinde herausprägte.

Dabei gab man sich wie gesagt häufig wenig Rechenschaft über die konkrete Bedeutung des Begriffs „Gemeinde“. Vielfach schillert der Begriff zwischen theologischer Norm (vgl. die Aussagen der Apostelgeschichte zur Urgemeinde in Jerusalem), der Bezeichnung für die Gruppe der regelmäßigen Kirchgänger oder auch der Umschreibung für den Kreis der ehrenamtlich Engagierten. Kann man die Pfarrei soziologisch einigermaßen präzise erfassen (als Gesamtheit der in einem territorial umschriebenen Gebiet wohnhaften Katholikinnen und Katholiken), so ist dies für den Begriff „Gemeinde“ ungleich schwieriger. Was ist ein „regelmäßiger Kirchgänger“? Zählen jene, die einmal im Monat gehen, auch schon dazu? Und was ist mit denen, die regelmäßig immer Weihnachten kommen (allerdings nur da)? Vermeintlich einfacher ist es dann schon, den Gemeindebegriff auf die Mitarbeit in gemeindlichen Gruppen und Kreisen zu beziehen – freilich mit der schwierigen Konsequenz: Wie fasst man jene treuen Katholiken, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, aber – aus welchen Gründen auch immer – sich nicht in der Gemeinde engagieren wollen oder können? Der Begriff der Gemeinde bleibt daher neben der theologischen Norm („Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“) ein eher emotionaler.