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Maximilian Boost
Naturphilosophische Emergenz

Religion in der Moderne

Herausgegeben
von Matthias Lutz-Bachmann,
Thomas M. Schmidt
und Michael Sievernich

RIM Band 22

Maximilian Boost
Naturphilosophische Emergenz

Vermittler im Dialog
zwischen Naturwissenschaft
und Religion

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Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek

Meiner Familie und Hannah in Liebe
und Dankbarkeit gewidmet

Danksagung

Die vorliegende, leicht überarbeitete Fassung meiner im November 2010 am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt eingereichten Dissertation wird sich vor allem mit solchen Eigenschaften beschäftigen, die nur einem System als Ganzem, aber keinem seiner Einzelbestandteile zukommen. Auch dieses Buch kann als eine systemische Eigenschaft in diesem Sinne verstanden werden, insofern es nicht ohne die wertvolle Mithilfe vieler Einzelner zustandegekommen wäre. An erster Stelle ist dabei Prof. Dr. Thomas M. Schmidt zu nennen, dem ich für die herausragende Betreuung danken möchte. Im Mittelpunkt dieses Buches steht nicht zuletzt auch deshalb ein dialogisches Unterfangen, weil mir seine Offenheit und stete Bereitschaft, vermeintlich Konträres philosophisch miteinander zu versöhnen, immer ein Vorbild waren. Prof. Dr. Hermann Schrödter bin ich für sein ausführliches Zweitgutachten wie auch für seine wertvollen Änderungsvorschläge verpflichtet, die in diesem Buch bereits vollständig umgesetzt sind. Der Frankfurt Graduate School for the Humanities and Social Sciences (FGS) danke ich sehr, dass sie mich mit einem Promotionsstipendium (2009-2011) gefördert hat und mir somit die volle Konzentration auf meine Forschungen ermöglichte. Dr. Tobias Müller war mir durch seine Unterstützung besonders zu Beginn meiner Promotionsphase sowie in Bezug auf die quantenphysikalischen Aspekte eine große Hilfe. Jens Bettermann (die symbionten) danke ich für die technische Erstellung und perfekte visuelle Umsetzung der Grafiken und Fedja Koob (M.A.) dafür, dass er mir über den gesamten Zeitraum der Promotion in unzähligen Diskussionen und Gesprächen als Ratgeber und Freund zur Seite stand.

Inhaltsverzeichnis

1

Einleitung

I

EMERGENZ – HISTORISCH-SYSTEMATISCHE BEGRIFFSANALYSE

2

Einführung

3

Die Vordenker des Emergentismus

3.1

John Stuart Mill: „A System of Logic“

3.1.1

Homopathisch und heteropathisch

3.1.2

Abgeleitete und letzte Gesetze

3.1.3

Gesetzestypen bei Mill

3.2

George Henry Lewes: „Problems of Life and Mind“

4

Die Britischen Emergentisten

4.1

Samuel Alexander: „Space, Time and Deity“

4.2

Conwy Lloyd Morgan: „Emergent Evolution“

4.3

Charles Dunbar Broad: „The Mind and its Place in Nature“

4.4

Die Hauptmerkmale emergentistischer Theorien

4.4.1

Naturalismus

4.4.2

Neuartigkeit und systemische Eigenschaften

4.4.3

Hierarchie der Existenzstufen

4.4.4

Diachrone und synchrone Determiniertheit

4.4.4.1

Diachrone Determiniertheit

4.4.4.2

Synchrone Determiniertheit

4.4.5

Nicht-Deduzierbarkeit und Irreduzibilität

4.4.6

Prinzipielle Unvorhersagbarkeit

4.4.7

Abwärts gerichtete Verursachung

4.5

Varianten der Emergenz

4.5.1

Modell I: Schwache und starke Emergenz

4.5.2

Modell II: Schwache, synchrone und diachrone Emergenz

4.6

Der Niedergang des Britischen Emergentismus

5

Wiederkehr des Emergenzbegriffs in die Philosophie

II

EMERGENZ IN DER PHILOSOPHIE DES GEISTES

6

Das Körper-Geist-Problem

6.1

Dualität von Physischem und Mentalem in der Erfahrung

6.2

Formulierung des Körper-Geist-Problems

7

Exkurs: Modelle der Reduktion

7.1

Das klassische Modell der Reduktion von Ernest Nagel

7.2

Probleme des Nagelschen Reduktionsbegriffs

7.3

Das funktionale Modell der Reduktion

8

Physikalistische Theorien des Geistes

9

Emergenz in der Philosophie des Geistes

9.1

Grundlegende Argumente für die Irreduzibilität der Qualia

9.1.1

Die Wissenschaftlerin Mary

9.1.2

Der mathematische Erzengel

9.1.3

Das Erklärungslückenargument

9.2

Der neue Qualia-Emergentismus

9.3

Mentale Verursachung und abwärts gerichtete Verursachung

9.3.1

Einführung

9.3.2

Epiphänomenalismus

9.3.3

Die Debatte um die abwärts gerichtete Verursachung

9.3.4

Das Supervenienz-Argument von Jaegwon Kim

9.3.5

Reaktionen auf Kims Argument

III

KRITIK DES PHYSIKALISMUS UND DES SZIENTISTISCHEN REDUKTIONISMUS

10

Der Physikalismus in der Kritik

10.1

Vom Wiener Kreis bis Oppenheim und Putnam

10.2

Der Physikalismus in der Neuzeit

10.3

Kritische Betrachtung des Physikalismus

10.3.1

Grenzbereiche für die Physik

10.3.2

Der lineare Kausalitätsbegriff des Physikalismus

10.3.3

Kausalität in der Quantenphysik

10.3.3.1

Das Doppelspalt-Experiment

10.3.3.2

Prinzipieller Indeterminismus in der Quantenmechanik

10.3.3.3

Das EPR-Paradox

10.3.3.4

Die Bellsche Ungleichung

10.4

Résumé

11

Der szientistische Reduktionismus in der Kritik

IV

EMERGENZ – NATURPHILOSOPHISCHE NEUBESTIMMUNG

12

Epistemologische Voraussetzungen

12.1

Möglichkeit und Wirklichkeit von Wissen und Erkenntnis

12.1.1

Gemäßigter epistemologischer Fundamentalismus

12.1.1.1

Fundamentalismus und Kohärentismus

12.1.1.2

Gemäßigter Fundamentalismus

12.1.2

Fallibilismus

12.2

Epistemologischer Naturalismus

12.3

Postfundamentalistische Rationalität

12.4

Integrativer Wissenschaftspluralismus

12.5

Vernunft und Willensfreiheit

12.6

Intersubjektive Nachvollziehbarkeit

13

Emergenz in der natürlichen Welt

13.1

Bereich des Mentalen

13.1.1

Die klassische Qualia-Definition

13.1.2

Kritik der klassischen Qualia-Definition

13.1.3

Vom ‚Wie-es-ist‘ bewusster mentaler Zustände

13.1.4

Nichtbewusste Zustände

13.1.4.1

Unterschwellige und unbewusste mentale Zustände

13.1.4.2

Erinnerungen als unbewusste mentale Zustände

13.1.5

Emergente Qualia

13.2

Bereich des Sozialen

13.2.1

‚We-mode-groups‘

13.2.2

Emergenz des Sozialen

13.2.3

Aspekte des Sozialen

13.3

Résumé

14

Emergenz und Erklärung

14.1

Vorbetrachtung

14.1.1

Jaegwon Kims Kritik am zeitgenössischen Emergenzbegriff

14.1.2

Zurückweisung der Unerklärbarkeit als Kritik und als Merkmal

14.2

Szientistische Erklärungen

14.2.1

Das kausale Modell der Erklärung

14.2.2

Alternative Modelle zur kausalen Erklärung

14.2.3

Der Begriff der wissenschaftlichen Erklärung als ideales Modell

14.2.4

Allgemeine Kritikpunkte am kausalen Modell der Erklärung

14.2.5

Kritik am Umfang induktiv-statistischer Erklärungen

14.2.6

Emergenz im Vergleich mit induktiv-statistischen Erklärungen

14.3

Nicht-szientistische Erklärungen

14.3.1

Intentionale Erklärungen als Beispielfall

14.3.2

Nicht-szientistische Erklärungen: Erklären oder Verstehen?

14.4

Verstehen als Erkennungsmerkmal für eine Erklärung

14.4.1

Die dialektische Verhältnisbestimmung im Praxistest

14.5

Résumé

15

Ein naturphilosophischer Ansatz von Emergenz

15.1

Systemische Eigenschaften und Neuartigkeit

15.2

Irreduzibilität und Nicht-Deduzierbarkeit

15.3

Emergenz und Evolution

15.4

Irreduzible dynamische Komplexität

15.4.1

Vorbemerkungen

15.4.2

Qualitative Sprünge und die Entstehung emergenter Phänomene

15.4.3

Kompatibilität des Begriffstrios mit anderen Merkmalen

15.5

Diachrone Determiniertheit

15.5.1

Determiniertheit und qualitative Sprünge

15.5.2

Multiple Realisierbarkeit und hinreichende Unbestimmtheit

15.5.3

Basale Ebene der unbewussten mentalen Zustände

15.6

Unvorhersagbarkeit

15.7

Ein neues Verständnis der abwärts gerichteten Verursachung

15.7.1

Anti-fundamentalistische Grundlegung

15.7.2

Abwärts gerichtete qualitative Sprünge

15.7.3

Emergenz und Willensfreiheit

15.7.4

Diachrone Determiniertheit und kausale Überdeterminierung

15.7.5

Résumé

16

Konzeptioneller Status des naturphilosophischen Emergenzbegriffs

16.1

Einordnung in die Modelle der Varianten der Emergenz

16.2

Naturwissenschaften und Emergenz

V

EMERGENZ ALS VERMITTLER IM DIALOG ZWISCHEN NATURWISSENSCHAFT UND RELIGION

17

Problemfeld reduktionistische Interpretation von Religion

17.1

Andrew Newbergs ‚Biologie des Glaubens‘

18

Mindestbestimmungen von Religion

18.1

Intensionale Logik

18.2

Vorbedingungen

18.2.1

Doppelte Negierbarkeit des Religionsbegriffs

18.2.2

Kritischer Diskurs, Rationalität und Anti-Fundamentalismus

18.3

Religiosität – Erfahrung der Endlichkeit und ihre Überwindung

18.3.1

Radikale Endlichkeit menschlicher Existenz

18.3.2

Reale Überwindung der Erfahrung der Endlichkeit

18.3.3

Résumé

18.4

Objektivation von Religiosität – Symbolik und Ritus

18.5

Minimale Religion – Eine Begriffsbestimmung

19

Minimaler Religionsbegriff und Emergenz

19.1

Religiosität und Emergenz

19.2

Objektivation und Emergenz

20

Religion und szientistischer Reduktionismus

21

Religion und Wirklichkeit

22

Bereitschaft zur Selbstrelativierung als vordialogisches Moment

23

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Während Naturwissenschaft (bzw. ihre Vorformen) und Religion seit jeher eng miteinander verflochten, ja, teils sogar identisch miteinander waren, trennt sie spätestens seit der Kopernikanischen Wende ein weltanschauliches Schisma, dessen Abgrund immer tiefer klafft. Die Unversöhnlichkeit der Positionen beschränkt sich dabei nicht nur auf den Streitpunkt, wem denn nun das Primat in der Welterklärung und -erschließung zukommt, sondern reicht – vor allem in Bezug auf die Religion – sogar bis zur Frage nach der Existenzberechtigung des jeweils anderen Bereichs. Zusätzlich erschwert wird die Situation dadurch, dass die Gemengelage der verschiedenen Umgangsweisen mit dieser Problematik kaum überschaubar ist: Während manche den einen Bereich zugunsten des anderen aufgeben – sei es im szientistischen Reduktionismus oder im religiösen Fundamentalismus – scheinen andere diese Spannung auszuhalten oder aber zu ignorieren. Dabei lässt sich feststellen, dass die Problematik gerade aus religiöser Perspektive besonders zum Tragen kommt, während im naturwissenschaftlichen Alltag die religiösen Implikate der eigenen Thesen kaum bzw. nur äußerst selten eine Rolle spielen.

Der Konflikt zwischen den beiden Bereichen gipfelt gerade in Bezug auf christliche Positionen in jüngster Zeit in aufsehenerregenden politischen und wissenschaftlichen Bewegungen und Programmen. Auf der einen Seite liest und hört man immer wieder von der Rückkehr der Religion – verstanden als globale Revitalisierung von Religion und Gegenpol zur Säkularisierung –, die in allen Bereichen an Einfluss gewinnt:1 Diese scheint auch gegeben, betrachtet man zum Beispiel den massiven politischen Einfluss der religiösen Rechten in den USA, der in der religiösen Legitimation wichtiger politischer Entscheidungen, wie sie durch George W. Bush stattgefunden haben soll2, seinen wirkmächtigsten Ausdruck gefunden hat. Auch auf wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene findet der Versuch einer religiösen Einflussnahme durch die Bewegungen des Intelligent Design und des Kreationismus statt: Während dies hierzulande eher auf Skepsis stößt, wird vielerorts in den USA die Schöpfungsgeschichte im schulischen Unterricht als gleichberechtigte Alternative zur Evolutionstheorie gelehrt.3 Bezieht man jedoch differenziert das gesellschaftliche Gesamtbild mit ein, ist zu fragen, ob die Rückkehr der Religion wirklich auf breiter Front gegeben ist oder sich bisher nur in den genannten Bewegungen zeigt. Auf naturwissenschaftlicher Seite wiederum haben sich prominente und lautstarke Positionen ‚wider die Religion‘ formiert: Sieht man einmal davon ab, dass allein schon die gesellschaftlich weithin geteilte Auffassung einer scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden Erklärung der Welt durch die Naturwissenschaft dazu führt, dass bei ihrem vollständigen Gelingen auch die Religion – zumindest in Form religiöser Erfahrungen – ‚wegreduziert‘ sein dürfte, gibt es auch dezidiert polemische Positionen reduktionistischer Natur: Hierbei sind die Brights sowie der Neue Atheismus zu nennen, die besonders auf die populärkulturelle Diskussion zielen. Letzterer hat vor allem durch die Schriften von Richard Dawkins und Christopher Hitchens in jüngster Zeit große Aufmerksamkeit erlangt.4 Auch wenn sich die Darstellung des Konflikts an dieser Stelle vornehmlich im Kontext (westlicher) christlicher Religion und ihrer szientistischen Gegenpositionen bewegt, muss betont werden, dass er nicht nur hier besteht. Wenn sich dort auch nicht solch plakative und medienwirksame Positionen ausmachen lassen, stehen grundsätzlich auch die anderen Weltreligionen, ja, überhaupt jede Strömung, die an etwas Über-Natürliches ‚glaubt‘, gleichermaßen in einem entsprechenden Spannungsverhältnis zur modernen Naturwissenschaft.

Angesichts der harten Frontlinien dieses Konflikts soll nach einer Möglichkeit gesucht werden, im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion zu vermitteln. Dabei ist zu fragen, ob die Naturwissenschaften und ihr bevorzugtes Forschungsprogramm – die Reduktion der zu erklärenden Phänomene auf einfachere Strukturen und Prozesse – in allen Fällen gelingen kann oder ob es Bereiche gibt, die sich einem solchen szientistischen Reduktionismus zumindest in Teilen grundsätzlich verschließen. Die Grundthese der nachfolgenden Betrachtungen ist, dass solche Bereiche existieren und dass es für einige von ihnen eine geeignetere Erklärung gibt, den Begriff der Emergenz. Außerdem wird die These vertreten, dass der Emergenzbegriff auch in Bezug auf die Religion Erhellendes zu sagen hat. Die Zielsetzung ist, dass der Begriff der Emergenz im Konflikt zwischen szientistischen und religiösen Positionen neue Impulse geben, und so die Grundlage für eine wechselseitige Öffnung legen kann. Die Betrachtungen sind wie folgt aufgebaut:

TEIL I Begriffsgeschichtlich gesehen ist der Emergenzbegriff für den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion allein schon deshalb von größtem Interesse, weil ihn bereits seine Erfinder, die Britischen Emergentisten, Anfang des 20. Jahrhunderts in dem Bestreben entwickelten, zwischen einem naturwissenschaftlichen Verständnis der Welt auf der einen, und dem Vorhandensein vitaler und mentaler Eigenschaften von Organismen auf der anderen Seite, zu vermitteln. Eine Untersuchung ihrer Schriften kulminiert in der Beschreibung der Hauptmerkmale des Britischen Emergentismus. Damit ist die notwendige Basis für ein tieferes Verständnis und für die Bewertung sowohl der klassischen als auch der modernen Emergenzkonzeptionen gelegt. Zudem wird begründet, warum der Emergentismus schon Ende der 1920er Jahre wieder aus dem Fokus der Philosophie verschwand. Ein kurzer Blick auf die Wiederkehr emergentistischer Ansätze Ende der 1970er Jahre in den Schriften von Karl Popper und Mario Bunge schließt die begriffsgeschichtliche Untersuchung des Emergenzbegriffs ab.

TEIL II Die moderne Debatte um den Emergenzbegriff findet vor allem in der Philosophie des Geistes statt, wo er derzeit am Profiliertesten diskutiert wird. Da Phänomene in der Regel vor allem deshalb als emergent bezeichnet werden, weil sie irreduzibel sind, ist in einem Exkurs zunächst ein adäquater Reduktionsbegriff zu formulieren. Einer anschließenden Betrachtung der physikalistischen geistesphilosophischen Positionen des 20. Jahrhunderts folgt die Erörterung der Frage, in welcher Weise der Emergenzbegriff in der modernen Philosophie des Geistes verortet werden kann. Dabei zeigt sich, dass, insofern zeitgenössische Autoren für die Existenz von Qualia plädieren, dies in der Regel einen Qualia-Emergentismus impliziert. Mit diesem verbindet sich in der Geistesphilosophie die Hoffnung, das Leib-Seele-Problem in einer nicht-reduktiv-physikalistischen Weise lösen zu können, die sowohl unserem naturwissenschaftlichen Grundverständnis der Welt Rechnung tragen kann, als auch der Erfahrung, dass menschliche Gedanken und Emotionen einen eigenständigen Bereich umfassen, der nicht einfach auf die Naturwissenschaften reduzierbar ist. Doch ist der Qualia-Emergentismus den Problemen der abwärts gerichteten Verursachung sowie der mentalen Verursachung ausgesetzt, wobei zu klären ist, ob diese sich unter Bedingungen eines physikalistischen Verständnisses von Emergenz lösen lassen oder nicht.

TEIL III Doch bedarf es wirklich einer reduktionistischen Weltsicht im Allgemeinen bzw. einer physikalistischen Weltsicht im Besonderen, um als philosophische Theorie Anspruch auf angemessene Einbindung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erheben zu können? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nicht nur, dass der szientistische Reduktionismus immer an bestimmten Phänomenen der natürlichen Welt scheitern muss, die sich grundsätzlich nicht reduzieren lassen, sondern auch, dass dessen Spielart, der Physikalismus, selbst in der Physik zahlreichen Einschränkungen ausgesetzt ist, und somit nicht als wissenschaftlich fundierte Strömung angesehen werden kann.

TEIL IV Auch wenn der Physikalismus zu verwerfen ist, muss damit nicht auch gleichzeitig der Begriff der Emergenz aufgegeben werden. Denn es ist durch nichts evident, dass sich Emergenz nur im Rahmen des Physikalismus formulieren lässt. Entsprechend könnte der Emergenzbegriff sehr wohl in der Lage sein, irreduzible Phänomene wie Qualia adäquat zu interpretieren. Daher gilt es, eine Neubestimmung des Emergenzbegriffs vorzunehmen. Hierzu bedarf es zunächst der Explikation der epistemologischen Grundlagen, d.h. der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, denen diese Neubestimmung unterliegen soll. Sie müssen aus zwei Gründen offengelegt werden: Zum einen, um den Nachvollzug der Argumentation zu erleichtern, und zum anderen, um den Rahmen für die nachfolgenden Überlegungen in erforderlicher und geeigneter Weise zu verengen. Anschließend wird geprüft, ob neben Qualia auch andere emergente Phänomene in der natürlichen Welt auftreten. Außerdem wird dafür plädiert, dass der Emergenzbegriff – entgegen dem üblichen Verständnis – als erklärungsmächtiger Begriff angesehen werden muss. Die Neubestimmung des Emergenzbegriffs als naturphilosophischer Ansatz von Emergenz trägt nicht nur den verschiedenen Problemen und Schwächen des Emergenzbegriffs aus der historisch-systematischen Analyse Rechnung, sondern auch den Erkenntnissen aus den geistesphilosophischen sowie den anti-physikalistischen und -reduktionistischen Betrachtungen. Auch wird der konzeptionelle Status des naturphilosophischen Emergenzbegriffs sowie sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften geklärt.

TEIL V Zur Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Religion wird einleitend Andrew Newbergs neurotheologischer Ansatz einer Biologie des Glaubens vorgestellt. Dieser lässt sich in zwei Lesarten fruchtbar machen: In der stärkeren Lesart ist er konkretes Beispiel für einen szientistisch-reduktionistischen Standpunkt in Bezug auf die Religion und macht damit deutlich, inwiefern der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion als herausgehobenes Problemfeld zu betrachten ist. In der schwächeren Lesart erweist er sich als möglicher Vorschlag für eine naturwissenschaftliche Rückbindung religiöser Erfahrungen. Ein Religionsbegriff, der so voraussetzungsarm wie möglich, und damit sogar für Religionsgegner – also auch für szientistische Reduktionisten – nachvollziehbar sein soll, klärt, was genau mit ‚Religion‘ gemeint ist. Im Anschluss wird der Emergenzbegriff auf diesen minimalen Religionsbegriff angewandt, wobei sich erweist, dass Religion nicht nur in einzelnen Bestandteilen, sondern als strukturelles Gesamtphänomen unter den Emergenzbegriff fällt. Abschließend wird gezeigt, welche Konsequenzen sämtliche Betrachtungen für den Dialog zwischen Naturwissenschaft (als szientistischem Reduktionismus) und Religion mit sich bringen.

Vornehmlich einem philosophischen Rahmen verpflichtet, bewegen sich die vorliegenden Betrachtungen durchgängig in interdisziplinären Zusammenhängen. Dabei werden neben philosophiegeschichtlichen, geistesphilosophischen, religionsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Aspekten nicht nur erweiterte Kontexte aus dem geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich in Form psychologischer und sozialphilosophischer Überlegungen mit einbezogen, sondern auch in beträchtlichem Maße naturwissenschaftliche Aspekte dargestellt und diskutiert, so aus der klassischen Physik, der Quantenphysik und der Evolutionsbiologie. Neben historischen Nachvollzügen und Systematisierungen orientieren sich die Darstellungen vor allem an der philosophischen Analyse von Begriffen.

1 Vgl. Riesebrodt, Martin (2000). Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München: C.H. Beck 2001. S. 9.

2 Vgl. Kamen, Al (2005). „George W. Bush and the G-Word“. The Washington Post. Amerikanische Druckausgabe vom 14. Oktober 2005.

3 Die damalige hessische Kultusministerin Karin Wolff stieß 2006 mit dem Vorschlag, kreationistische Lehren im hessischen Schulunterricht zu dulden, auf deutliche Ablehnung. Vgl. Welt.de/dpa (2006). „Kreationisten im hessischen Biologie-Unterricht“. Welt-Online vom 01.11.2006. URL: http://www.welt.de/wissenschaft/article91539/Kreationisten_im_hessischen
_Biologie_Unterricht.html (Stand: 14.11.2010).

4 Vgl. Dawkins, Richard (2006). The God Delusion. Boston: Houghton Mifflin und Hitchens, Christopher (2007). God Is Not Great: How Religion Poisons Everything. London: Atlantic Books.

I EMERGENZ – HISTORISCH-SYSTEMATISCHE BEGRIFFSANALYSE

2 Einführung

Die historische Entwicklung des Emergentismus lässt sich mit Achim Stephan in vier Phasen unterteilen5: Seinen Anfang nahm der Emergentismus im 19. Jahrhundert mit den Werken seiner Vordenker John Stuart Mill („A System of Logic“6, 1843) und George Henry Lewes („Problems of Life and Mind“7, 1875). In der ersten Hälfte der 1920er Jahre kamen in der zweiten Phase die Theorien des Britischen Emergentismus8 zur Blüte. Die Hauptvertreter dieser Strömung sind Samuel Alexander („Space, Time and Deity“9, 1922), Conwy Lloyd Morgan („Emergent Evolution“10, 1925) und Charles Dunbar Broad („The Mind and its Place in Nature“11, 1925). Obwohl der Britische Emergentismus schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wieder rapide an Bedeutung verlor, wurde er noch bis in die 60er Jahre hinein diskutiert bzw. kritisiert. Diese – vergleichsweise lange – Periode bildet die dritte Phase des Emergentismus. Erst in den 1970er Jahren gewann der Emergenzbegriff wieder an Bedeutung. Besonders Karl Popper („The Self and its Brain“12, 1977) und Mario Bunge („The Mind-Body Problem“13, 1980) entwickelten wieder eigenständige Emergenzkonzeptionen und trugen damit zur Wiederkehr emergenztheoretischer Ideen in die Philosophie bei. Ihre Arbeiten leiteten die vierte Phase des Emergentismus ein, die bis heute anhält. Der jüngere Teil dieser Phase, die aktuelle Qualia-Debatte, aus welcher die derzeit stärksten Argumente für eine emergenztheoretische Position in der Philosophie stammen, führt aus der historisch-systematischen Betrachtung des Emergentismus heraus und wird daher im zweiten Teil behandelt.

Doch muss erwähnt werden, dass es auch Vertreter emergentistischer Theorien neben dem Britischen Emergentismus gab, wie den Amerikaner Roy Wood Sellars („Evolutionary Naturalism“14, 1922). Da Sellars sein Werk zunächst unabhängig vom Britischen Emergentismus verfasst habe, spricht Stephan – welcher die bislang umfassendste Analyse der Geschichte des Emergenzbegriffs vorgenommen hat – auch vom „Britischen und amerikanischen Emergentismus“15. Aber auch Pragmatisten wie William James, John Dewey und George Herbert Mead vertreten emergentistische Positionen, wie Charbel el-Hani und Sami Pihlström betonen.16 Und auch Alfred North Whitehead und seine Schülerin Dorothy Emmett lassen sich mit emergenztheoretischem Denken in Verbindung bringen.17 Stephan hat außerdem herausgearbeitet, dass Elemente einer Emergenztheorie bereits in den Theorien einiger kontinentaler Philosophen aus der Zeit vor dem Britischen Emergentismus – hierzu zählen Johann Christian Reil, Hermann Lotze, Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Wundt – zu finden sind.18 Und sogar in der Antike lassen sich ihm zufolge schon emergentistische Anklänge verorten, nämlich bei Aristoteles und Galen.19 John Haldanes Auffassung dagegen, hier sei auch Empedokles einzuschließen20, wird von Stephan kritisiert.21 Es soll hier jedoch davon abgesehen werden, emergenztheoretische Ansätze außerhalb der Tradition des Britischen Emergentismus zu untersuchen, da sie keine prägende Wirkung auf die Entwicklung des Emergenzbegriffs hatten und zum größten Teil nicht als emergentistische Positionen im vollen Sinne verstanden werden können.22

Die historisch-systematische Analyse, die maßgeblich durch Achim Stephan beeinflusst ist, wird durch eine Untersuchung der Beiträge von John Stuart Mill und George Henry Lewes, den Vordenkern aus der ersten Phase des Emergentismus, eingeleitet. Daraufhin werden die Werke von Samuel Alexander, Conwy Lloyd Morgan und Charles Dunbar Broad, den drei Hauptvertretern der zweiten Phase des Emergentismus, betrachtet. Anschließend werden mit Stephan die sich aus dem Britischen Emergentismus ergebenden Hauptmerkmale emergentistischer Theorien beschrieben. Hierdurch wird die Betrachtung der Hauptwerke der Britischen Emergentisten noch einmal vertieft. Darauf folgt die Beschreibung und Diskussion der zwei gebräuchlichen Modelle der Varianten der Emergenz. Die dritte Phase des Emergentismus, in welcher vor allem kritische Einwände gegen ihn erhoben wurden, wird in der Frage nach den Gründen für den Niedergang des Britischen Emergentismus aufgegriffen. Eine kurze Erwähnung der emergenztheoretischen Konzeptionen von Karl Popper und Mario Bunge, welche die vierte Phase des Emergentismus einleiteten, wird die historisch-systematische Analyse beschließen.

5 Vgl. Stephan, Achim (1999b). Emergenz – Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation. 2. Aufl. Paderborn: Mentis 2005. S. XI-XII.

6 Mill, John Stuart (1843). A System of Logic. Ratiocinative and Inductive. Collected Works, Vol. VII und VIII. Toronto/Buffalo: University of Toronto Press/Routledge/Kegan Paul 1974. Reprinted 1978.

7 Lewes, George Henry (1875). Problems of Life and Mind. Vol. 2. Reprint. Boston/New York: Houghton, Mifflin and Company 1891.

8 Die Bezeichnung ‚Britischer Emergentismus‘ geht zurück auf McLaughlin, Brian (1992). „The Rise and Fall of British Emergentism“ in: Ansgar Beckermann/Hans Flohr/Jaegwon Kim. Emergence or Reduction? – Essays on the Prospects of Nonreductive Physicalism. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 49.

9 Alexander, Samuel (1920). Space, Time, and Deity. The Gifford Lectures at Glasgow 1916-1918. Two Volumes. Vol. 2. Reprint. London: Macmillan and Co. 1927.

10 Lloyd Morgan, Conwy (1923). Emergent Evolution. The Gifford Lectures. Delivered in the University of St. Andrews in the Year 1922. Second edition. New York/London: Williams and Norgate Ltd. 1927.

11 Broad, Charles Dunbar (1925). The Mind and its Place in Nature. Tarner Lectures delivered in Trinity College, Cambridge, 1923. Seventh edition. London: Routledge/Kegan Paul Ltd. 1962.

12 Popper, Karl R. (1977). The Self and its Brain. Part I. In: Karl R. Popper/John C. Eccles. The Self and its Brain. Corrected Printing. Berlin/Heidelberg/London/New York: Springer International 1981.

13 Bunge, Mario (1980). The Mind-Body Problem. A Psychobiological Approach. Oxford: Pergamon International Library.

14 Sellars, Roy Wood (1922). Evolutionary Naturalism. Chicago/London: The Open Court Publishing Company.

15 Stephan (1999b). S. 3. Hervorhebungen durch den Verfasser geändert. Vgl. auch Stephan, Achim (1999a). „Emergenz“ in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.). Enzyklopädie Philosophie. Bd. 1. Hamburg: Felix Meiner Verlag. S. 304.

16 Vgl. el-Hani, Charbel/Sami Pihlström (2002). „Emergence Theories and Pragmatic Realism“. Essays in Philosophy – A Biannual Journal. Vol. 3. No. 2. Erhältlich online auf URL: www.humboldt.edu~essays (Archiv) (Stand: 16. März 2007). S. 26-33 und vgl. Stephan (1999b). S. 253.

17 Vgl. Stephan (1999b). S. 252-253.

18 Vgl. Stephan (1999b). S. 99-128.

19 Vgl. Stephan (1999b). S. 249-251 und Caston, Victor (1997). „Epiphenomenalisms, Ancient and Modern“. The Philosophical Review. Vol. 106. No. 3. S. 332-339 und S. 351-354.

20 Vgl. Haldane, John (1996). „The Mystery of Emergence“. Proceedings of the Aristotelian Society. Vol. 96. S. 261.

21 Vgl. Stephan (1999b). S. 249.

22 Vgl. Stephan (1999b). S. 76-77 und Stephan (1999a). S. 304.

3 Die Vordenker des Emergentismus

3.1 John Stuart Mill: „A System of Logic“

John Stuart Mills Werk „A System of Logic“ von 1843 ist darauf angelegt, in einer systematischen und umfassenden wissenschaftsphilosophischen Arbeit das Thema des induktiven Erkenntnisgewinns zu behandeln. In diesem Rahmen stellt er auch jene wegbereitenden Überlegungen an, die für den Emergentismus von großem Einfluss sein sollten. Zentral ist dabei seine Unterscheidung in heteropathische und homopathische Gesetze bzw. heterogen und homogen wirkende Ursachen.23

3.1.1 Homopathisch und heteropathisch

Mill nimmt in seinen Überlegungen eine Situation an, in der mehrere Faktoren unter bestimmten Bedingungen zusammenwirken und so einen bestimmten Effekt hervorbringen. Da er davon ausgeht, dass jeder der an dieser Situation beteiligten Einzelfaktoren – für sich genommen – unter den gleichen Bedingungen auch einen Effekt gehabt hätte, stellt sich für ihn die Frage, ob sich die gemeinsame Wirkung der Faktoren schon dann bestimmen lässt, wenn man nur diese Einzelwirkungen kennt. Die Frage ist also, ob sich, anders ausgedrückt, die (zuvor bekannten) Einzelwirkungen der Faktoren zu einer Gesamtwirkung einfach summieren lassen?24 Mill sieht dies besonders im Bereich der Mechanik als gegeben. So führt er an einem Beispiel aus der Dynamik an, wie sich unterschiedliche Kraftwirkungen auf einen Körper miteinander addieren lassen. Und auch in der Physik könne man die Teile eines zusammengesetzten Körpers einfach zu seinem Gesamtgewicht addieren.25 Mill fasst dies in folgendem Gesetz zusammen:

„I shall give the name of the Composition of Causes to the principle which is exemplified in all cases in which the joint effect of several causes is identical with the sum of their separate effects.“26

Obwohl dieses Prinzip eine „general rule“27 darstelle, scheint es, Mill zufolge, nicht überall zu gelten. Jeder andere Fall sei mithin als Ausnahme zu sehen („the other case [is] exceptional“28). So gelte es nicht in den Bereichen der Physiologie, der Psychologie und der Chemie, da diese ihre Existenz gerade eben einem Bruch des Prinzips der Composition of Causes verdanken würden.29 Für die Chemie gibt er dabei folgendes Beispiel:

„The chemical combination of two substances produces, as is well known, a third substance with properties different from those of either of the two substances separately, or both of them taken together. Not a trace of the properties of hydrogen or of oxygen is observable in those of their compound, water. […] [A]nd we are not, at least in the present state of our knowledge, able to foresee what result will follow from any new combination […].“30

Diese Überlegung führt Mill zur folgenden begrifflichen Unterscheidung: Kann eine Eigenschaft bzw. eine Wirkung, wie im Beispiel der chemischen Reaktion, nicht als ‚Summe‘ aller an ihrer Hervorbringung beteiligten Einzelfaktoren verstanden werden, so spricht Mill von einer heterogenen Eigenschaft bzw. Wirkung. Jene Gesetze, welche den empirisch feststellbaren Zusammenhang zwischen den Ausgangsfaktoren und ihrer gemeinsamen Wirkung beschreiben, werden heteropathische Gesetze genannt. Ist es jedoch umgekehrt, und die Gesamtwirkung ergibt sich – wie im Fall der Addition der Teilgewichte eines zusammengesetzten Körpers – als Summe der Einzelwirkungen, so nennt man sie homogen. Die dazugehörigen Gesetze heißen homopathische Gesetze. Sie können aus den Gesetzen über die Einzelwirkungen gefolgert werden. In der Unterscheidung zwischen homo- und heteropathischen Ursachen und Gesetzen liegt Mills Bedeutung für den britischen Emergentismus. Es sind dabei die heterogen wirkenden Ursachen, welche spezifisch ‚neue‘ Wirkungen hervorbringen. Dabei sind die Gesetze, die diese Wirkung ausdrücken, nicht aus den Teilgesetzen ableitbar.31

Mills Beispiele beziehen sich in der Regel auf komplexe Systeme mit systemischen Eigenschaften – also solche Eigenschaften, die nur dem System als Ganzem und keinem seiner Einzelteile zukommen. Hierbei beschreibt er insbesondere das Verhalten von Lebewesen und die Eigenschaften chemischer Verbindungen.32 In Bezug auf heterogen zusammenwirkende Ursachen lassen sich mehrere Varianten unterscheiden:

„[T]hat in some instances, at some particular points in the transition from separate to united action, the laws change, and an entirely new set of effects are either added to, or take the place of, those which arise from the separate agency of the same causes […].“33

Somit können in einer ersten Variante die ‚neuen‘ Gesetze den Platz der vorherigen Gesetze einnehmen. Dies lässt sich – Mill zufolge – besonders gut am bereits zitierten Beispiel des Wassers zeigen. Hier verbinden sich die Elemente Wasserstoff und Sauerstoff, welche beide gasförmig sind, zu H2O. Dieses aber ist flüssig und nicht gasförmig. Und auch die Teilstoffe des Wassers sind nicht mehr gasförmig. In einer anderen Variante hingegen gelten die Gesetze, denen die Bestandteile eines komplexen Systems für sich genommen folgen, auch innerhalb des Systems. Dieses hat aber darüber hinaus zusätzliche, neue Eigenschaften, die keines seiner Bestandteile besitzt. Mill bezieht sich hierbei besonders auf solche komplexen Systeme wie Organismen, die im Unterschied zu ihren Bestandteilen heteropathische Eigenschaften aufweisen, wie, ‚lebendig‘ zu sein oder ‚atmen‘ zu können. Dennoch folgen die Bestandteile eines Organismus gleichzeitig homopathischen (z.B. mechanischen) Gesetzen.34

3.1.2 Abgeleitete und letzte Gesetze

Eine weitere Überlegung Mills ist für die geschichtliche Betrachtung des Emergenzbegriffs von Bedeutung: die Unterscheidung in letzte und abgeleitete Gesetze („[…] ultimate laws, and what may be termed derivative laws.“35).36 Ein Gesetz gilt für Mill dann als erklärt, wenn es auf andere Gesetze zurückgeführt werden kann. Seiner Ansicht nach lässt sich dies aber nur mittels drei Typen der Erklärung von Gesetzen vornehmen37:

1. Indem man das Gesetz einer komplexen Wirkung auf die Gesetze der Partialursachen und ihr Zusammenwirken zurückführt. Dies bedeutet nichts anderes, als das Ganze als Summe der Einzelwirkungen seiner Teile zu betrachten.

2. Durch Angabe eines Zwischenglieds, das die Verbindung zwischen dem zu erklärenden Gesetz und den verursachenden Gesetzen herstellt.

3. Indem man das spezifische Gesetz, das erklärt werden soll, unter ein allgemeineres Gesetz subsumiert.

In allen drei Fällen wird – Mill zufolge – das zu erklärende Gesetz in solchen Gesetzen aufgelöst, die allgemeiner sind als es selbst.38 In Bezug auf die Gesetzestypen (1) und (2) erscheint diese Behauptung zunächst nicht plausibel. Doch Mill führt an, wann für ihn ein Gesetz allgemeiner ist als ein anderes: So ist ein Gesetz, welches besagt, dass A von C gefolgt wird, weniger allgemein als – zum einen – ein Gesetz, welches besagt, dass A von B gefolgt wird und – zum anderen – ein Gesetz, welches besagt, dass B von C gefolgt wird. Dies begründet er damit, dass im ersten Fall A von B auch dann gefolgt würde, wenn B nicht von C gefolgt wird. Wenn B aber nicht von C gefolgt wird, kann A nicht (über B) von C gefolgt werden. Dies erklärt er in analoger Weise auch für den zweiten Fall (wo B von C gefolgt wird).39 Anders als man es üblicherweise erwarten würde, hält Mill somit nicht jenes Gesetz, in welchem A von C (über B) gefolgt wird, für allgemeiner, sondern jene, welche jeweils nur einen ‚Teil‘ davon (AB oder BC) beschreiben. Er verdeutlicht dies an einem konkreten Beispiel: Ein Gesetz mit dem Inhalt ‚der Kontakt mit einem Objekt verursacht eine Empfindung‘ (AC) ist für ihn weniger allgemein als das Gesetz ‚der Kontakt mit einem Objekt verursacht eine Erregung der Nervenbahnen‘ (AB). Denn das zweite Gesetz könne auch dann erfüllt sein, wenn zwar eine starke Erregung der Nervenbahnen, aber gleichwohl keine Empfindung hervorgerufen werde. Dies sei zum Beispiel dann der Fall, wenn man sich in einer Schlacht Verletzungen zuziehe, ohne dass man diese bewusst empfinde. Aber auch das Gesetz ‚eine Erregung der Nervenbahnen verursacht eine Empfindung‘ (BC) sei allgemeiner als das Gesetz ‚der Kontakt mit einem Objekt verursacht eine Empfindung‘ (AC). Denn die Empfindung könne auch dann hervorgerufen werden, wenn sie gar nicht durch den Kontakt mit einem Objekt verursacht werde, zum Beispiel bei Phantomschmerzen im Falle amputierter Gliedmaßen.40 Nach diesem Verständnis also können nach Mill Gesetze über die drei Typen von Erklärungen auf allgemeinere Gesetze zurückgeführt werden. Der Erfolg dabei ist für ihn jedoch von begrenztem Umfang, denn:

„What is called explaining one law of nature by another, is but substituting one mystery for another; […] we can no more assign a why for the more extensive laws than for the partial ones.“41

Dennoch betrachtet er diese Form von Erklärung als sinnvoll, denn jede Zurückführung eines Gesetzes auf ein allgemeineres Gesetz bringe die Wissenschaft einen Schritt weiter:

„Every such operation brings us a step nearer towards […] comprehending the whole problem of the investigation of nature, viz. […] What are the fewest general propositions from which all the uniformities existing in nature could be deduced?“42

Alle jene Gesetze, die nach den drei beschriebenen Typen von Erklärungen auf allgemeinere Gesetze zurückgeführt werden können, nennt Mill abgeleitete Gesetze (‚derivative laws‘). Letzte Gesetze (‚ultimate laws‘) hingegen heißen jene, für die keine weitere Erklärung mehr möglich ist.43

Mill glaubt, dass es prinzipielle Grenzen für die Deduzierbarkeit bestimmter Gesetze gibt. Einige Gesetze sind daher notwendigerweise letzte Gesetze. Dies erläutert er an solchen Fällen, die phänomenale Qualitäten betreffen. Hierbei besteht für ihn eine prinzipielle Erklärungslücke zwischen dem physischen und dem psychischen Bereich, da sich auch durch Erweiterung des Wissens in den Naturwissenschaften nicht erklären lässt, wie und warum ein qualitativer Zustand aus physiologischen Prozessen hervorgeht:44

„It is therefore useful to remark, that the ultimate Laws of Nature cannot possibly be less numerous than the distinguishable sensations or other feelings of our nature; – those, I mean, which are distinguishable from one another in quantity or degree. […] I do not mean that it might not possibly be shown that some other phenomenon, some chemical or mechanical action for example, invariably precedes, and is the cause of, every phenomenon of colour. But though this, if proved, would be an important extension of our knowledge of nature, it would not explain how or why a motion, or a chemical action, can produce a sensation of colour; and however diligent might be our scrutiny of the phenomena, whatever number of hidden links we might detect in the chain of causation terminating in the colour, the last link would still be a law of colour, not a law of motion, nor of any other phenomenon whatever. Nor does this observation apply only to colour, as compared with any other of the great classes of sensations; it applies to every particular colour, as compared with others.“45

Wie Stephan schreibt, zeigt das Zitat somit, dass nach Mill jedem einzelnen phänomenalen Zustand ein spezifisches letztes Gesetz entspricht.46

3.1.3 Gesetzestypen bei Mill

Stellt man die Gesetzestypen, die bei Mill beschrieben werden, in einen Überblick, ergibt sich nach Stephan folgendes Bild: Da gibt es zum einen Gesetze, die nicht das Zusammenwirken mehrerer Ursachen beschreiben. Unter ihnen gibt es ableitbare und letzte Gesetze. Gesetze, die nicht das Zusammenwirken mehrerer Ursachen beschreiben, sind aus folgendem Grund für Emergenztheorien uninteressant: Es können sich nämlich nur aus dem Zusammenwirken mehrerer Ursachen neue Wirkungen im Sinne heteropathischer Wirkungen ergeben. Ein Gesetz, dem nicht eine Interaktion von Faktoren zugrunde liegt, kann daher auch nicht eine neue Wirkung beschreiben. Zum anderen gibt es Gesetze, die das Zusammenwirken mehrerer Ursachen beschreiben: Nur unter diesen Gesetzen gibt es solche, die homopathisch und solche, die heteropathisch zu nennen sind. Homopathische Gesetze lassen sich als abgeleitete Gesetze immer aus allgemeineren Gesetzen deduzieren. Sie können demnach keine letzten Gesetze sein. Bei den heteropathischen Gesetzen stellt sich dies anders dar: Einige von ihnen können abgeleitete Gesetze sein, wenn es gelingt, sie aus den Partialgesetzen über die zusammenwirkenden Ursachen und ein zusätzliches allgemeines Bildungsprinzip abzuleiten. Die meisten der heteropathischen Gesetze jedoch sind letzte Gesetze, weil sie nicht aus allgemeinen Gesetzen ableitbar sind.47 Wie Stephan zusammenfasst, „sind also [weder] alle heteropathischen Gesetze letzte Gesetze, noch sind alle letzten Gesetze heteropathische Gesetze“48.

Den Werken der Britischen Emergentisten und der Entwicklung ihrer Emergenztheorien dienten besonders die Überlegungen Mills über heteropathische und zugleich letzte Gesetze als Fundament.49 Am deutlichsten wird der Einfluss Mills im Werk C. D. Broads, der diese begriffliche und inhaltliche Unterscheidung aufgegriffen und weiterentwickelt hat.50

3.2 George Henry Lewes: „Problems of Life and Mind“

George Henry Lewes plädiert in seinem Werk „Problems of Life and Mind“ für die Metaphysik als Wissenschaft der allgemeinsten Prinzipien bzw. der abstraktesten Gesetze und versucht, sie in die Methoden der Naturwissenschaften zu transformieren. Lewes ist dabei im Wesentlichen als Schüler und Weggefährte Mills zu sehen. So schreibt Alexander Bain recht despektierlich:

„I met Lewes frequently when I was first in London in 1842. He sat at the feet of Mill, read the Logic with avidity, and took up Comte with equal avidity. These two works, I believe, gave him his start in philosophy.“51

Diese Nähe zu Mill zeigt sich auch deutlich in Lewes’ Werk: So übernimmt er von diesem die Unterscheidung zwischen homopathischen und heteropathischen Gesetzen und Wirkungen.52 Doch führt er dabei jenen Begriff der Emergenz ein, der später für eine ganze philosophische Strömung namensgebend sein sollte:

„There are two classes of effects markedly distinguishable as RESULTANTS AND EMERGENTS. […] Thus, although each effect is the resultant of its components, the product of its factors, we cannot always trace the steps of the process, so as to see in the product the mode of operation of each factor. In this latter case, I propose to call the effect an emergent.“53

Lewes stellt in seiner Definition von Resultants und Emergents – dem Millschen Gegensatz homopathischer und heteropathischer Gesetze und Wirkungen ähnlich – die Addition von homogenen Kräften dem heterogenen Zusammenwirken verschiedener Ursachen gegenüber.54 Resultants werden bei Lewes dementsprechend als die Summe homogener Kräfte definiert:

„Every resultant is either a sum or a difference of the co-operant forces: their sum, when their directions are the same; their difference, when their directions are contrary. Further, every resultant is clearly traceable in its components, because these are homogeneous and commensurable.“55

Emergents sind dann gegeben, wenn verschiedene Ursachen in heterogener Weise zusammenwirken:

„It is otherwise with emergents, when, instead of adding measurable motion to measurable motion, […] there is a co-operation of things of unlike kinds. […] [A]dd heat to different substances, and you get various effects, qualitatively unlike: expansion of one, liquefaction of a second, crystallisation of a third, decomposition of a forth […]. Here we have various emergents, simply because in each case there has been a different co-operant; and in most of these cases we are unable to trace the process of coalescence. The emergent is unlike its components in so far as these are incommensurable, and it cannot be reduced either to their sum or their difference.“56

Stephan sieht trotz der großen Nähe zu Mills Theorie eine entscheidende Modifikation in Lewes’ Überlegungen und verweist dabei auf folgendes Zitat:

„Unlike as water is to oxygen or hydrogen separately, or to both when uncombined, nothing can be more like water than their combination, which is water. We may be ignorant of the process which each passes through in quitting the gaseous to assume the watery state, but we know with absolute certainty that the water has emerged from this process. […] Some day perhaps, we shall be able to express the unseen process in a mathematical formula; till then we must regard the water as an emergent.“57

Stephan führt an, dass Lewes an dieser Stelle der Unvermeidlichkeit heteropathischer Gesetze in Chemie, Physiologie und Psychologie bei Mill einen eigenen Ansatz gegenüberstellt, welcher besagt, dass es an sich möglich sein müsse, eines Tages auch die bei einer chemischen Verbindung ablaufenden Prozesse mathematisch zu beschreiben.58 Damit wird der Begriff einer emergenten Wirkung in Fällen chemischer Verbindungen jedoch zu einem relativen Begriff. Denn würde die Erklärung der chemischen Verbindung von Wasser in einer mathematischen Formel gelingen, so wäre eine solche – vormals emergente – Wirkung fortan als resultierende Wirkung zu betrachten. Darüber hinaus fasst Stephan die Ausführungen Lewes’ so auf, dass hier nicht nur chemische Verbindungen gemeint seien. Vielmehr würde Lewes im letzten Satz des obigen Zitats andeuten, dass er es für nicht ausgeschlossen hält, dass sich mit dem Fortschritt der Wissenschaften vermeintlich emergente Wirkungen als resultierende Wirkungen herausstellen könnten, ohne dass dies auf einen bestimmten Bereich beschränkt bliebe. Nur so lange dies noch nicht möglich ist, hätten nicht-deduzierbare Phänomene als emergent zu gelten.59 Bei konsequenter Verfolgung dieser Betrachtung wäre Lewes somit nicht etwa ein Vordenker des Emergentismus im Sinne eines Nicht-Reduktionisten, sondern, da er emergente Phänomene durch Erkenntnisgewinn in den Wissenschaften letztendlich für reduzierbar hält, ein Reduktionist. Doch hier greift Stephans Betrachtung zu kurz, wie sich im weiteren Verlauf von Lewes’ Werk zeigt:

„Who, before experiment, could discern nitric acid in nitrogen and oxygen? […] Yet it is no extravagant hope that the day will arrive when we shall not only know the separate operations of agents, but their mutual modification in the product which emerges from their union. When an agent A has the value x, and another agent, B, has the value y, the resultant of A+B must be x+y. But this is only true when no other factor interferes. In truth, some other factor almost always does interfere, though it is generally thrown out of the calculation, either because it is arbitrarily set aside, being irrelevant to the purpose in view, or too small in amount to disturb our „approximation“. So that, strictly speaking, the real effect is always an emergent, since we never know with absolute accuracy enough of all the factors to trace their operation. This, which is true of reals, is no longer true of ideal constructions, wherein the factors are accurately defined.“60

Aus dieser Betrachtung Lewes’ folgt vielmehr, dass – entgegen dem Verständnis Stephans – der Begriff einer resultierenden Wirkung in allen anderen Fällen als in denen einer ‚ideal construction‘ als relativ anzusehen ist. Man wird, Lewes zufolge, nämlich in der Realität (in ‚reals‘) niemals alle Faktoren kennen, die außer den bereits bekannten Faktoren noch an einer Reaktion beteiligt sind, so dass die eigentliche Wirkung letztendlich immer eine emergenteallevollständignichtgenuine