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Jahrbuch der Akademie CPH
Anregungen und Antworten

Wohlstand anders denken

Jörg Alt · Samuel Drempetic (Hg.)

Jahrbuch der Akademie CPH Anregungen und Antworten

Wohlstand anders denken

Band 7 der Reihe
Veröffentlichungen der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus
www.cph-nuernberg.de

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers der Reihe

Dank

Einleitung

Teil I: Situationsbeschreibung

Jörg Alt: Aus dem Ruder gelaufen – Krise des Finanzsystems und die Folgen

Gerhard Berz: Klimawandel und Naturkatastrophen – Risiken und Handlungsnotwendigkeiten aus wirtschaftlicher Sicht

Johannes Müller: Global, aber gerecht – Klimawandel bekämpfen, Entwicklung ermöglichen

Teil II: Alternative Wohlfahrtsmaßstäbe

Ulrich Spörel: Zwei Jahre nach Stiglitz – Zum Stand der Diskussion über die statistische Messung von Wohlstand und Lebensqualität

Karlheinz Ruckriegel: Subjektive Indikatoren und mehr – ein Plädoyer

Teil III: Politische Umsetzung

Einleitung

Stefanie Vogelsang: (Nachhaltiges) Wachstum und Wohlstand hängen wesentlich zusammen

Thomas Gambke / Thomas Potthoff: Wachstum nicht rein ökonomisch betrachten – und kritisch hinterfragen

Sabine Leidig: Von der ‚Astronautenperspektive‘ zu konkreten sozialen Verhältnissen

André Habisch, Stefanie Herber: Erwartungen an Wirtschaft und organisierte Zivilgesellschaft

Harald Riedel: Global denken und lokal handeln – Das Beispiel der Stadt Nürnberg

Teil IV: Einstellungen der Bevölkerung

Malte Boecker: Die Weisheit der Vielen – Wie denkt die Gesellschaft über Wachstum und Fortschritt?

Jan Grossarth: Zwischen den Extremen – Aussteiger als Impulsgeber für die Gesellschaft?

Schluss und Ausblick

Autorenbiografien

Fragen der Zeit – Veröffentlichungen der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus

Abkürzungsverzeichnis

Bedeutung mehrfach vorkommender Abkürzungen

Anm. d. A.

–   Anmerkung des Autors

BIP

–   Bruttoinlandsprodukt

CO2

–   Kohlendioxid

EU

–   Europäische Union

Hg.

–   Herausgeber

G20

–   Group of Twenty (Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer)

GDP

–   Gross Domestic Product

ILO

–   International Labour Organization

IPCC

–   Intergovernmental Panel on Climate Change

IWF

–   Internationaler Währungsfonds

OECD

–   Organisation for Economic Co-operation and Development

ONS

–   Office for National Statistics (Großbritannien)

SOEP

–   Das Sozio-oekonomische Panel

SSF

–   Stiglitz-Sen-Fitoussi (Kommission)

SVR

–   Sachverständigenrat (zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung)

UN

–   United Nations

UNECE

–   United Nations Economic Commission for Europe

UNICEF

–   United Nations International Children’s Emergency Fund

VGR

–   Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung

WHO

–   World Health Organization

Gutes Leben – eine Frage unserer Zeit

Vorwort des Herausgebers der Reihe

Die Frage nach einem guten Leben und den dazu nötigen Rahmenbedingungen und Gestaltungsprinzipien wurde und wird von jeder Generation neu gestellt.

Es ist zum einen die individuelle Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens schlechthin. Sicher hat man früher – beispielsweise vor 500 Jahren – die Frage anders gestellt. Aber mit der berühmten Formulierung „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ war ebenso gemeint: Wie kann mein Leben gelingen? Denn die wenigen Jahrzehnte in den diesseitigen Bahnen des spätmittelalterlichen Geburtsstandes waren die Vorbereitung auf die unendliche Erfüllung im Jenseits. Heute ist die Gewissheit um das ewige Leben und dessen Erreichung geschwunden und der Blick mehr auf individuelle Erfüllung gelenkt.

Zum anderen ist die Frage nach einem guten Leben immer eine gesellschaftliche, eine kollektive Frage. Wie gestalten wir unser Gemeinwesen, wie organisieren wir Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, um die Rahmenbedingungen für ein Gelingen des Lebens zu ermöglichen? Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist überdeutlich geworden, dass die Antwort in keiner Weise mehr regional, gruppenspezifisch oder in einem allgemeinen Sinne exklusiv beantwortet werden kann. Zu verschränkt sind weltweite Vernetzungen, zu dominant sind globale Interdependenzen.

Die Akademie CPH hat sich der Aufgabe gestellt, den Fragen der Zeit nachzugehen und diese Suche auch in der gleichnamigen Reihe im Echter Verlag zu dokumentieren (vgl. dazu den einleitenden Artikel im 1. Jahrbuch: Im Fokus Afrika, Würzburg 2010). Der vorliegende Band möchte aber ganz bewusst nicht nur Dokumentation, sondern vor allem eine Einladung sein, die gemeinsame Suche nach einem neuen Wohlstandsleitbild weiter mitzugestalten und im Dialog mitzuprägen. Die katholischen Akademien in Deutschland sollten Experimentalorte und Laboratorien des gesellschaftlichen Wandels sein, so forderte es paradigmatisch der Pastoraltheologe Rainer Bucher. Das steht für die Akademie CPH, welche von der Erzdiözese Bamberg und des Jesuitenordens getragen wird, auch in guter jesuitischer Tradition. Im Dekret 4 der 34. Generalkongregation und damit einem der zentralen Dokumente des Jesuitenordens von 1995 heißt es: „Ignatius [als Begründer des Ordens] liebte die großen Städte. Sie waren der Ort, wo sich der Wandel der menschlichen Gesellschaft vollzog, und er wollte, dass sich die Jesuiten an diesem Prozess beteiligten. Die ‚Stadt’ kann für uns ein Symbol sein für unser ständiges Bemühen, die menschliche Kultur zu ihrer Erfüllung zu bringen.“ So bedeutete dieser Auftrag, dass wir immer wieder neu den „Fragen der Zeit“ nachgehen und damit Anstöße und Beiträge in die gesellschaftliche, politische Diskussion, aber auch in die Gestaltung der (Stadt-) Gesellschaft einbringen.

Der Motor des vorliegenden Bandes und der damit weiterhin zu verfolgenden Diskussion ist das „Centrum für Globales Lernen“. Nach vielen Jahren der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der Jesuitenmission und der Akademie CPH wurde dieses Centrum gegründet, um das gemeinsame Bemühen der beiden Träger um einen Beitrag für eine globale Solidarität durch Bildungs- und Begegnungsprozesse zu verstetigen. Seit 2011 leitet und gestaltet Samuel Drempetic das Centrum mit vielen (freien) Mitarbeitern/innen der Akademie CPH und der Jesuitenmission, hier namentlich mit Pater Jörg Alt SJ und Missionsprokurator Pater Klaus Väthröder SJ. An dieser Stelle sei daher nicht nur den beiden Herausgebern, sondern auch der Jesuitenmission ein herzlicher Dank ausgesprochen, dass sie durch diese Kooperation den Auftrag der Akademie mit erfüllen, in Nürnberg den Fragen der Zeit nachzugehen.

Die erkenntnisleitenden Fragestellungen dieses Bandes werden uns alle noch lange begleiten. Nie war es so deutlich, dass ein sozial-ökologisch-nachhaltiges Umsteuern und Umdenken nötig ist. Die großen Krisen des Finanzsystems, des Wirtschaftens, der Umwelt und des Klimas haben ein „Weiter so“ unmöglich gemacht. Viele Ansätze, Dinge „neu zu denken“, haben in den interdisziplinären Dialog Einzug gehalten, aber auch in die Einzelwissenschaften, wie erst kürzlich der Wirtschaftsnobelpreisträger George A. Akerlof in seinem Buch „Identity Economics“ bewiesen hat.

Wichtig ist uns dabei, dass wir bei der Suche nach den Fragen, Herausforderungen und Lösungsansätzen unseren Ausgangspunkt im Blick behalten. Es geht um den Menschen mit seinen Freuden und Hoffnungen, mit seiner Trauer und Angst, ganz besonders um die Armen und Bedrängten aller Art – wie es vor 50 Jahren das 2. Vatikanische Konzil beschrieb.

Im Grunde eben um ein gelingendes, ein gutes Leben für alle. Möge dieses Buch bei dieser Suche ein kleiner Meilenstein werden.

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Siegfried Grillmeyer

Direktor der Akademie CPH

Dank

Zu Beginn ein Wort des Dankes: Will man Beiträge einer Fachtagung veröffentlichen, solange die dort von zwölf Referierenden präsentierten und diskutierten Inhalte noch Neuigkeitswert haben, so ist man auf die disziplinierte Kooperation vieler Akteure angewiesen.

Zunächst all jener, die Beiträge verfassen und termingerecht abliefern müssen. Dies ist umso schwieriger, je beschäftigter die Autoren sind, und dies ist bei allen, die nachfolgend das Wort ergreifen, der Fall. Dass sie ihre Beiträge dennoch ‚punktgenau’ ablieferten, ist etwas, womit wir nicht (wirklich) gerechnet haben, was uns aber umso mehr gefreut hat. Dass die Autoren sich darüber hinaus derart gut an die inhaltlichen Vorgaben der Herausgeber gehalten haben, dass es kaum zu Überschneidungen und Doppelungen kam, ist umso begrüßenswerter und erleichterte sowie beschleunigte die herausgeberische Arbeit zusätzlich.

Nicht vergessen sei ein Dank an die Personen, welche die Arbeitsbelastung der Herausgeber indirekt zu spüren bekommen haben, sei es durch Abwesenheit oder Anspannung.

Sodann danken wir den Herausgebern der Reihe „Fragen zur Zeit“ für die Aufnahme dieses Bandes sowie dem Echter-Verlag und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die unkomplizierte Betreuung des Buchprojekts. Die umfangreiche Unterstützung, die wir erhielten, erleichterte uns die Arbeit sehr.

Abschließend ein Dank an Akademie und Tagungshaus „Caritas-Pirckheimer-Haus“ sowie den freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die professionelle Vorbereitung und Durchführung der Fachtagung, dem Noviziat der Jesuiten, die uns während der ‚Herausgabeklausur’ Gastfreundschaft gewährten, sowie unseren Vorgesetzten, die uns zu den erforderlichen Zeiten die nötige Flexibilität an unseren diversen Arbeitsstellen gewährten.

Einleitung

Das vorgelegte Buch präsentiert Ergebnisse der Fachtagung „Jetzt aber richtig! Lehren aus den aktuellen Weltkrisen“, die am 4. und 5. November 2011 in Nürnberg stattgefunden hat. Diese wiederum war ein follow-up zu einer Vorjahresveranstaltung, nämlich der Fachtagung „Steuer gegen Armut – Finanztransaktionssteuer“, die ihrerseits eine Reaktion auf diverse Krisen der Jahre 2007/2008 gewesen ist.

Die Veranstalter der Fachtagung und Herausgeber dieses Buches wollen der Einsicht Rechnung tragen, dass die Finanzkrise nicht isoliert von anderen krisenhaften Entwicklungen gesehen werden darf, sondern als ein Aspekt heutzutage gleichzeitig zunehmender kritischer weltweiter Szenarien in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft, Klima und Umwelt. Immer mehr Menschen erkennen: Nicht nur eine Branche, sondern unser gesamtes Produktions- und Konsummodell gerät aus den Fugen und zugleich an die Grenzen seiner ökologischen und sozialen Vertretbarkeit. Die sich zugleich aufdrängende Frage nach Alternativen ist hingegen deutlich unklarer erkennbar beziehungsweise provoziert dort, wo Vorschläge gemacht werden, heftige Auseinandersetzungen: Geht es doch um das, was wir als Gemeinschaft und jeder für sich unter „Wohlstand“ oder dem „guten“ und „gelungenen Leben“ verstehen und versteht.

Diesen Einsichten folgt auch die Struktur dieses Tagungsbands. Im (ersten) Analyseteil wird zunächst aus sozial- und naturwissenschaftlicher Perspektive eine Bestandsaufnahme der aktuellen Krisen unternommen:

Jörg Alt zeichnet die Entstehung, Strukturen und Auswirkungen des deregulierten globalen Finanzsystems nach, die Entwicklungen also, die es zu dem werden ließen, was Politik und Gesellschaft auch im Jahr drei nach dem großen Crash zu schaffen macht. In der Genese dieses globalen Netzwerks liegen auch jene Probleme begründet, die nationale Lösungen nicht mehr länger praktikabel sein lassen. Skizzenhaft wird aufgezeigt, in welche Richtung Politik und Gesellschaft gehen müssen, um durch regional oder global koordiniertes Handeln ‚die Märkte’ wieder ‚einfangen’ und erneut dem Dienst am Gemeinwohl verpflichten zu können.

Gerhard Berz zieht in seinem Beitrag Bilanz aus seiner langjährigen Leitung des Bereichs GeoRisikoForschung bei der Münchener Rückversicherung (heute: Munich Re). Er zeigt auf, wie und warum vom Menschen verursachte, atmosphärisch bedingte Naturkatastrophen in den letzten Jahren zunehmen. Projiziert man die Tendenz der letzten Jahre in die Zukunft, so ist absehbar, dass die Entwicklung selbst die Kapazitäten des weltgrößten Rückversicherers strapazieren dürfte, weshalb große Versicherungsunternehmen weltweit zu denjenigen Institutionen gehören, die an vorderster Front für das Ergreifen entschiedener Maßnahmen gegen den Klimawandel eintreten.

Versicherung gegen Risiken ist allerdings ein Luxus, den sich vor allem die Reichen dieser Welt leisten können. Diesen Zusammenhang arbeitet Johannes Müller im Rahmen eines Forschungsprojekts aus, welches die Korrelation von Klimawandel und Armutsentwicklung untersuchte. Es belegt, dass jene, die am wenigsten vom Reichtum der Welt profitieren, am meisten unter den geschaffenen Risiken leiden, dass es aber zugleich im nachvollziehbaren Interesse der armen Länder liegt, durch Wirtschaftswachstum überhaupt erst ein Wohlstandsniveau für ihre Bevölkerungen zu erreichen, das für die Reichen selbstverständlich ist. Es wird dargelegt, wie solche Dilemmata ethisch sortiert und gewichtet werden können, ebenso werden gemeinsam und zeitgleich anzugehende Lösungsstrategien vorgestellt.

Der zweite Hauptteil legt jene Initiativen, Diskussionskontexte und Theorien dar, welche sich mit einem alternativen Verstehen und Messen von „Wohlstand“ und „gutem Leben“ jenseits des klassischen Wachstumsmodells („mehr Produktion, mehr Einkommen, mehr Konsum“) beschäftigen.

Ulrich Spörel bietet eine Übersicht zu der erstaunlichen Entwicklung, die weltweit seit der Einsetzung der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission durch den französischen Präsidenten Sarkozy im Februar 2008 auf dem Gebiet alternativer Wohlfahrtsmaßstäbe in Gang gekommen ist. Der Kommission gelang es, vorhandenes Wissen zu bündeln und, aufgrund der hohen ‚Nobelpreisträgerdichte‘ unter den 25 Kommissionsmitgliedern, publizistisch und medial jenseits einschlägiger Expertenkreise breit bekannt zu machen. Sie setzte dadurch wichtige Nachfolgeinitiativen auf der Ebene der OECD, der EU und einzelner Staaten in Gang. Seither findet das Thema zunehmend Interesse in der breiten Öffentlichkeit und ist fest auf der gesellschaftspolitischen Agenda vieler Staaten der Welt etabliert.

Diese Übersicht wird vertieft durch die Herausarbeitung der wissenschaftlichen Hintergründe. Karlheinz Ruckriegel berichtet über die Entwicklung in verschiedenen Unterdisziplinen der Wirtschaftswissenschaften und zieht eine große Linie von der (schlecht durchdachten) Konzipierung des Bruttoinlandsprodukts als Wohlstandsindikator in den USA Ende der 1920er-Jahre bis hin zu den aktuell diskutierten Konzepten der interdisziplinären ‚Glücksforschung’. Dabei verfolgt er einen starken empirischen Ansatz und belegt unter Hinzuziehung von Studien und Umfragen, was eigentlich viele schon lange wissen: Geld allein macht nicht glücklich, und mehr Geld macht nicht automatisch glücklicher. Was aber spielt eine Rolle bei der Beurteilung, ob man ein „gutes Leben“ führt? All dies sind Kriterien, die für eine alternative gesamtwirtschaftliche Ausrichtung von Bedeutung sein werden.

Dies führt nahtlos zum dritten Hauptteil des Buches, nämlich den Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten politischer Verwaltungseinheiten, konkret des Deutschen Bundestags und der Kommunen. Begonnen wird mit Abgeordneten und Sachverständigen der Bundestags-Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft.“

Eine Übersicht über den Auftrag der Kommission und die Akzente der fünf Projektgruppen bietet Stefanie Vogelsang in ihrem Beitrag mit der These „(Nachhaltiges) Wachstum und Wohlstand hängen wesentlich zusammen.“ Entsprechend misst sie Wachstum auch weiterhin eine zentrale Rolle in der gesamtwirtschaftlichen Ausrichtung bei, plädiert aber dafür, dass der Wachstumsbegriff den Nachhaltigkeitsbegriff in sich aufnimmt, was die Art und Weise künftiger Wohlstandsmessung verändern würde.

Thomas Gambke geht grundsätzlicher auf die Stärken und Schwächen des herkömmlichen ‚Wachstums‘-Maßstabs ein. Ökonomische Interessen hätten es zu lange geschafft, dass ihnen andere Werte, etwa ökologische, untergeordnet wurden. Ökonomisches Wachstum darf deshalb nicht mehr länger oberster Wert in der volkswirtschaftlichen Wachstumsausrichtung sein, sondern ihm müssen weitere Indikatoren zur Seite gestellt werden. Anders gesagt: Ein Wachstum nach ökonomischen Kriterien unterscheidet sich von einem Wachstum, welches nach ökologischen oder sozialen Kriterien gestaltet wird.

Vor einer abgehoben-abstrakten Diskussion des Themas warnt sodann Sabine Leidig: Es gehe um konkrete strukturelle Probleme und konkrete Menschen, die unter diesen Problemen leiden. Sie kritisiert die Tendenz, dass der Status quo nicht grundsätzlich genug hinterfragt und das BIP als grundsätzlicher Wohlstandsindikator zwar ergänzt, insgesamt aber beibehalten werden soll. Sie mahnt eine Verständigung über Ziele an, die eine Gesellschaft braucht, bevor sie den Weg dahin beschreitet. Dies sei umso wichtiger, als der herkömmliche Weg sich als Sackgasse erwiesen habe.

Als Vertreter der Kommissionssachverständigen verweist André Habisch auf die Potenziale, die wirtschaftliche Unternehmen und die organisierte Zivilgesellschaft bei der Umgestaltung und Neuausrichtung der Gesellschaft haben. Transparenz und Öffentlichkeit trügen dazu bei, dass gute Ansätze, die Unternehmen etwa im Kontext der Corporate-citizen-Bewegung bereits umsetzen, Nachahmer finden. Ähnlich wachse auf Seiten der Zivilgesellschaft und der Bürger die Einsicht, Konsumverhalten zu verändern, was wiederum das Produktionsverhalten der Unternehmen beeinflusst. So würde auch außerhalb des staatlichen Gestaltungsrahmens Wandel konkret vorangetrieben.

Nach den Vertretern der Bundespolitik richtet Harald Riedel nun den Blick auf die unterste staatliche Verwaltungseinheit, die Kommune. Er legt dar, welch vielfältige lokale Gestaltungsmöglichkeiten eine konkrete Gemeinde trotz aller finanziellen Engpässe auch heute hat, wenn beispielsweise eine kluge Stadtteil-, Bildungs- und Stiftungspolitik ehrenamtliches Engagement mobilisieren kann. Summiert man dann vergleichbare lokale Initiativen in vielen Kommunen, die in einem globalen Zusammenhang, etwa der Agenda 21, stehen, so hat selbst Handeln auf dieser Ebene ein riesiges Einfluss- und Veränderungspotenzial.

Der vierte und letzte Hauptteil beschäftigt sich nun mit dem Dreh- und Angelpunkt jeglicher Veränderung: der Bürgerin beziehungsweise dem Bürger. Teilt er nicht Werte, Perspektiven und Ansätze der Politik, so kommt keine Veränderung zum Tragen.

Hier überraschen die Darlegungen von Malte Boecker: Meinungsumfragen belegen, dass die Bereitschaft der Bürgerin und des Bürgers, ein gesamtgesellschaftliches Umsteuern weg von quantitativem ökonomischem Wachstum hin zu einem Wachstum, welches sich an alternativen, vor allem ökologischen, Kriterien orientiert, groß ist. Von dieser grundsätzlichen Bereitschaft hin zur Konkretion ist jedoch noch ein langer Weg. Individuelle Blockaden herrschen beispielsweise dort, wo ‚man‘ zwar eine nachhaltige Gesellschaft wünscht, selbst aber nicht bereit ist, nachhaltig zu leben, wenn es die anderen nicht tun. Verbindliche politische Rahmenbedingungen kommen wiederum nicht zustande, weil kurzfristige Legislaturperioden langfristig unpopuläre Entscheidungen verhindern, da dies die Wiederwahl des Politikers gefährdet. Dennoch weist die Demoskopie auf, dass in diesem Kontext anstehende Entscheidungen mit mehr Zuspruch rechnen könnten als gemeinhin angenommen.

Natürlich gibt es immer auch Menschen, die angesichts der Größe und Dringlichkeit der Probleme nicht warten wollen, bis in den langwierigen gesellschaftspolitischen Aushandlungen Mehrheiten oder gar Konsens gefunden wird, der im Ergebnis absehbar unter den eigenen Vorstellungen liegen wird. Solche Menschen steigen konsequent und sofort aus dem Mainstream aus und leben ihr Leben nach eigenen Werten und Kriterien. Von solchen individuellen und kollektiven Aussteigern berichtet Jan Grossarth im letzten Beitrag dieses Buches.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass dieser Band nur die Beiträge der Referentinnen und Referenten in Artikelform beinhaltet. Weitere Informationen zu der Diskussion, zu den Ergebnissen der Abschlussdiskussion sowie ergänzende Power Point-Materialien zu den Autorenbeiträgen befinden sich auf der Website: www.cfgl.de/JetztRichtig

Teil I:
Situationsbeschreibung

Jörg Alt

Aus dem Ruder gelaufen –

Krise des Finanzsystems und die Folgen

Hintergründe

Man hätte gewarnt sein können: Bereits 1996 hat eine Studie der Weltbank ergeben, dass sich allein für die Zeit seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems 96 ‚Bankenkrisen‘ und 175 ‚Finanzkrisen‘ feststellen lassen.1 Ebenso war bekannt, dass Adam Smith, der Prophet der Marktwirtschaft, in seinem Buch Wealth of Nations eine staatliche Regulierung des Bankensektors befürwortete. Denn: Er wusste aus eigener Erfahrung um die Gefahr, dass „einige wenige“ ihre Freiheit „so ausüben, dass sie die Sicherheit des ganzen Landes gefährden können“.2

Und doch gelang es den Prophetenjüngern Friedman, von Hayek, den Chicago Boys und anderen, die Politik davon zu überzeugen, dass niemand anderes als die „unsichtbare Hand des Markt“ am besten wisse, wie Ressourcen weltweit zugeteilt werden sollten – eine Folgerung der Efficient Market Hypothesis. Und so unternahmen es Politiker wie Margaret Thatcher, Ronald Reagan und andere, Regulationen abzubauen und ‚den Märkten‘ bislang ungekannte Freiheiten zu eröffnen.

Nach dem Wegfall staatlicher Regulierungen verloren auch die ‚zunfteigenen‘ Handelsplätze, die Börsen, an Bedeutung. Diese wurden einst gegründet, um dem Handel verlässliche Rahmenbedingungen zu geben und dadurch Kaufen und Verkaufen berechenbar zu machen, indem Käufern und Verkäufern gleicher Wissensstand gesichert und Abläufe transparent gemacht werden sollten. Aber bald entdeckten einige, dass man außerhalb der Börse noch schnellere und riskantere Geschäfte tätigen konnte, die entsprechend höhere Gewinne versprachen. Dieser außerbörsliche ‚Telefonhandel‘ (alias Over-the-counter- oder OTC-Handel) ist möglich für jeden, der per Internet und Telefon Zugang zu elektronischen Handelsplattformen (multilateral trade facilities) hat. So entstand der „Schattenbankensektor“, in dem Hedgefonds, Investmentfonds, Private-Equity-Firmen, private Geldverleiher und ähnliche ihre Anlagen tätigen.

Der Siegeszug von Computern brachte den nächsten Quantensprung: Es entstand der computerbasierte Hochfrequenzhandel, das sogenannte Algo-Trading. Der Name kommt von den Algorithmen, mit denen Händler die Kauf- und Verkaufsentscheidungen von Computern programmieren und wodurch Handelsbewegungen mit großem Volumen und hoher Geschwindigkeit durch miteinander kommunizierende Computer getätigt werden.

Aber noch mehr wurde getan, um Profite zu erzielen. Findige Experten entwickelten ein „innovatives Finanzprodukt“ nach dem anderen, was zur Folge hat, dass der Finanzsektor sich zunehmend zu einer eigenen Verdienstquelle entwickelt. Das begann mit etwas, das anfänglich sinnvoll war, etwa ein Future zur Absicherung von Wechselkursschwankungen im Terminhandel. Dieses Future wurde nun wiederum beliehen, verkauft und gekauft oder versichert, in abgeleitete (von lateinisch „derivare“) und „komplex strukturierte Produkte“ verpackt, die wiederum gekauft, verkauft oder versichert werden können usw. Schlussendlich wurden diese Produkte derart komplex, dass weder die Emittenten noch die Händler noch die Käufer den Überblick bewahrten, was sie nun eigentlich kauften und wer wem etwas schuldete.

Folgen

Der schwer kontrollierbare Schattenbankensektor wuchs und wächst rapide, auch heute noch, denn: Je stärker die Regierungen der Welt versuchen, den Finanzmarkt zu regulieren, desto mehr Handelsaktivitäten werden in diesen intransparenten Markt verlegt, entsprechend steigt sein Umsatzvolumen:

– In den USA werden über den Schattenbankensektor mit 16 Billionen US$ schon jetzt mehr Kredite vergeben als über den regulären Bankensektor (13 Billionen US$),

– Das weltweite Volumen des Schattenbankensektors stieg von 25 Billionen US$ (2002) auf 60 Billionen US$ (2010),3