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Ottmar Fuchs

Wer’s glaubt, wird selig …

Wer’s nicht glaubt, kommt auch in den Himmel

OTTMAR FUCHS

Wer’s glaubt,
wird selig …
Wer’s nicht glaubt,
kommt auch
in den Himmel

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

Vorwort

1. Hinführung

2. Erste Spuren

1. Glaube, eine „Kettensäge“?

2. Glaubensschwund ohne Angst

3. Autonomie in gebrochener Vielfalt

4. Bedeutung des Lebens?

3. Gewalt im Glauben?

1. Allmächtig und gut?

2. Begrenzt gut?

3. Heil für alle

4. Heiligkeit als Entgrenzung

1. Beschmutzte Heiligkeit

2. Gottes Herunterkommen

3. Am Kreuz: für alle!

5. Gnade als Rechtstitel

1. Luthers befreiende Entdeckung

2. Bedingungslos geliebt

6. Wozu dann noch glauben?

1. Erleben der Liebe

2. Gericht als Gnade zur Versöhnung

3. Ressource des Geliebtseins

7. Spuren vorgängiger Annahme

1. Von Geburt an

2. Gelegenheit macht gut

3. Basis der Solidarität

8. Gnadenreiche Pastoral der Kirchen

1. In Wort und Tat, in Tat und Wort

2. Herausforderung der Gegenwart

3. Gewalt als Religionsproblem

4. Übungswege

5. Religiöse „Illusion“: ein Zukunftsvorteil?

9. Triebunterbrechung im „Hinhalten der Wange“ (Mt 5,39)

1. Imagination als Freiheitsgewinn

2. Wartezeit

10. Wunschübertragungen

1. Geöffnete Sehnsucht

2. Gabe für das Gebenkönnen

3. Glaube ohne Bedingung

11. Notwendigkeit als Schein?

1. Kapitalistische Warenästhetik

2. Jenseits der Vernutzung

12. Solidarität für alle Fälle

1. Glaube: geschenkt!

2. Im Zeichen des schwachen Gottes

3. Wie der „himmlische Vater“

13. Gratis und kostbar

1. Verschwendung

2. Glaube als Gnade

14. Im Glauben Heil für alle

1. Mit Luther über Luther hinaus

2. Anarchie der Gnade

15. Gott im Glauben Gott sein lassen

1. Besitzverzicht

2. Einsame Andersheit

3. Erwählung

16. Gott die Ehre geben

1. Anbetung und Anerkennung

2. Vor-Zeichen für die Zukunft des Christentums

17. Schlussgedanken

1. Nochmals: das Wort aus dem Volk

2. Was festzuhalten ist

Anmerkungen

Vorwort

Religionen können menschliche Ängste bis ins Unermessliche steigern, sie können aber auch von Ängsten befreien und sie bewältigen helfen. Für viele Menschen sind christlicher Glaube und christliche Gemeinde jene Orte, wo sie aufatmen können, wo im zwischenmenschlichen Vertrauen das Vertrauen auf Gott wachsen kann und wo sich umgekehrt vom Gottesglauben her die Beziehung zu den Menschen vertieft und bereichert. Demgegenüber sind aber auch all die Menschen ernst zu nehmen, die den Glauben gerade nicht als Befreiung, sondern als Bedrückung und Unterdrückung erlebt haben und erleben. Auch die, die nicht selbst davon betroffen sind, werden Menschen kennen, die derart im Glauben verkettet sind, und manchmal haben sie selbst noch Restbestände beängstigender und zwangvoller Glaubensbilder „im Bauch“.

Angst und Zwang im religiösen Bereich wurzeln meist in der Vorstellung, dass der Weg zu Gott mit vielen Wenn-Danns gepflastert ist, die zuerst und oft unter Strafandrohungen zu erfüllen sind, damit Gott den Menschen gut ist und gut tut. Einmal in diese Richtung hellhörig geworden, erschrickt man zuweilen, wie dieses Wenn-Dann-Muster auch noch in sublimer Form vorherrscht und sich im unmäßigen Gebrauch des „Müssens“ nicht für die befreiende Botschaft öffnet: dass Gott niemals seine Liebe zurückzieht, was immer die Menschen machen oder nicht machen. Die frohe Botschaft, dass Gott jede Bedingung „aufhebt“, ist das Grundanliegen dieses Buches.

Dieses Anliegen ist nicht nur eine Frage christlicher Spiritualität, sondern reicht weit in akute Zukunftsprobleme und ihre politische Bewältigung hinein. Für eines steht das Flüchtlingsdrama „Lampedusa“. Ein entgrenzender Gottesglaube könnte sich in Europa als eine unerschöpfliche Ressource für eine Haltung erweisen, die möglichst keine Bedingungen stellt und niemanden ausgrenzen muss. Denn was in der Gottesbeziehung erlebt werden darf, wirkt sich auf die Menschenbeziehung aus.

Dieses Buch ist das Ergebnis vieler Begegnungen, Gespräche und Lektüren. Allen, die zugehört, das Ihrige geteilt und mitgeteilt haben, mit ihren Anfragen und Widerständen bis hin zu den vielfältigen Unterstützungen, ohne die das Buch nicht hätte entstehen können, bin ich sehr dankbar! Namentlich danke ich Herrn Heribert Handwerk für sein engagiertes und umsichtiges Lektorat.

Tübingen und Lichtenfels im Februar 2012, am Vorabend zum 1. Fastensonntag mit dem Evangelium: Der Teufel nennt „Wenn-dann“-Bedingungen (vgl. Mt 4,1–11): „Das alles will ich dir geben, wenn du vor mir niederfällst und mich anbetest“, und Jesus widersteht den Wenn-dann-Versuchungen: „Da sagte Jesus: Weg von mir, Satan!“ (Mt 4,9–10).

Ottmar Fuchs

1. Hinführung

Selbstbewusst setzt sich das Sprichwort „Wer’s glaubt, wird selig, wer’s nicht glaubt, kommt auch in den Himmel“ in Widerspruch zu Mk 16,16: „Wer glaubt und sich taufen lässt, der wird selig (gerettet) werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.“

Nun, es gibt auf der anderen Seite eine Reihe von biblischen Texten, die sich selbst zu diesem Satz aus dem zugefügten Markusschluss in einen hoffnungsvollen Widerspruch bringen, wie etwa der Satz aus dem Lukasevangelium, dass bei Gott nichts unmöglich sei1 (vgl. Lk 1,37 und Mt 19,26). Und die Weltgerichtsrede in Mt 25,31–46 erwähnt gerade den Glauben nicht als Einlassbedingung in das Himmelreich, sondern gute und helfende Taten: ob man Kranke besucht, Obdachlose aufgenommen und Hungrige gespeist hat. Und dann gibt es jene Texte, die auch über die Verurteilung hinaus Gottes Liebe und Versöhnung in den Blick nehmen. In Jesus ist ein Verdammter Gottes Augapfel.

Welche biblischen Texte etwas bedeuten, auch in Ergänzung und Kritik zu anderen biblischen Texten, hängt davon ab, welche Bedeutung die jeweils Lebenden ihnen zumessen, im Zusammenhang ihrer Verhältnisse, Herausforderungen und Dringlichkeiten.

In diesem Buch begebe ich mich auf eine solche Spurenlese für die Zukunft des christlichen Glaubens in seiner lokalen und globalen Weltverantwortung.2 Dabei geht es besonders darum, den christlichen Glauben aus seinem eigenen Herzen heraus von Bemächtigungsattitüden, Zwangsvorstellungen und darin von zerstörerischen Wahnbildern, kurz: von der Angst zu befreien und so in ihm und ihm gegenüber den Horizont der Freiheit schier unendlich weit werden zu lassen.

Ein Hinweis zum Gebrauch der Gottesrede: Den Gottesbegriff wiederhole ich lieber, als dass ich ihn mit „er“ wiedergebe und damit vermännliche. Allerdings hat dies den Nachteil, dass es im Text so viel „gottet“, als könnte man leicht und selbstverständlich über Gott reden. Dieses Dilemma sei als Vorbehalt eingebracht: Ein sprachlicher Zugriff ist immer auch, vor allem und wenn er häufig kommt, ein Versuch, etwas in den Griff zu bekommen. Über Gott reden macht Gott eher zum Gegenstand als „mit Gott zu sprechen“, also zu beten. Denn eine Ich-Du-Begegnung, wenn sie gut ist, bringt von vorneherein die andere Person nicht in die Herrschaft eines verdinglichenden Zugriffs, sondern lässt ihr auch ihr unantastbares und unergründliches Geheimnis. Dies gilt vor allem auf dem Hintergrund meines Anliegens, Gott „wirklich“ Gott sein zu lassen, unendlich über alle menschliche Fassungskraft hinaus: im Glauben berührbar, aber erst im Lobpreis Gottes abgebbar, in der Anbetung, die Gott die Ehre gibt und in dieser „Doxologie“ Gott „größer“ und „mehr“ sein lässt als alles Menschliche und Irdische, jenseits seines/ihres „Nutzens“ für die Menschen.

Es geht hier um nicht weniger als darum, wie Christinnen und Christen künftig ihre Wahrheit vertreten. Geschieht dies im Selbstbewusstsein eines Wahrheitsbesitzes, das schon in der Form, nämlich etwas zu besitzen, Gott verliert und zum Götzen macht? Vertritt man die Ideologie eines „Clash of religions“ (Krieg der Religionen), in dem es zur Herrschaftsfrage wird, welche Religion sich exklusiv gegenüber der anderen durchsetzt? Lässt sich das Christentum von solchen Bewegungen in seinem Inneren wie auch im Außen anderen Religionen gegenüber das Gesetz des Handelns aufzwingen? Wird damit die Chance verspielt, jene neue Daseinsform der eigenen Identität zu suchen und zu finden, die dem Christentum von Anfang an in sein eigenes Herz geschrieben ist und die auch in seiner Geschichte immer wieder Wirklichkeit war, nämlich den Glauben als Gnade zu erleben und Gott als Geheimnis unerschöpflicher Liebe zu preisen? Sich in Wahrheit für die kleinen und nichtsiegreichen Menschen und Völker und sich in Wahrheit für die Freiheit der Menschen mit, vor, ohne und gegen Gott einzusetzen, dies wäre das religionskritische Gegenkonzept zur Religionsgeschichte als Siegergeschichte.

2. Erste Spuren

1. Glaube, eine „Kettensäge“?

In der Tagespresse und in den Feuilletons insbesondere der letzten Jahre wird das Verhältnis von Glaube und Zwang immer wieder aufgegriffen. So schreibt Christian Nürnberger in der Süddeutschen Zeitung: „Dogmatische Abrüstung wäre daher angesagt, dieser noch unbeschrittene, nicht zu Pferd, sondern nur zu Fuß gangbare Weg des ‚geistlich Armen‘ ist die vermutlich letzte Chance beider Kirchen. Ihn zu gehen, hieße: vom Dogma schweigen, aber den Willen Gottes tun, also die Armut bekämpfen, Unterdrückten zur Freiheit verhelfen, der Wahrheit Geltung verschaffen, Frieden stiften, Kranke heilen, die Mächtigen kritisieren, falschen Göttern den Gehorsam kündigen und hoffen, dass sich dann erfüllt, was verheißen wurde: Wer den Willen Gottes tut, wird Gott schauen.“3 Den Glaubenden von heute trägt nichts anderes als „ein Balken, an den nichts geheftet, treibend auf dem Meere.“4 Auch wenn der Dogmenbegriff hier aus theologischer Perspektive korrekturbedürftig ist, trifft er in diesem Sprachgebrauch doch das Richtige: nämlich die Strategie, den Glauben an einen Zwangszusammenhang zu heften, wie dies, nach Ansicht des Autors, die Kirche jahrhundertelang immer wieder getan hat.

Katholischen Gläubigen wird darüber hinaus vorgeworfen, dass selbst noch ihr Einsatz gegen die Verbindung von Glaube und Zwang das damit verbundene Autoritätssystem nicht verlässt, auch in der Gegenabhängigkeit nicht. Dies zeigt die spöttische Bemerkung, von der der von der katholischen zur evangelischen Kirche konvertierte Arnd Brummer zu berichten weiß: „Einmal katholisch, immer katholisch. Ihr braucht doch den Papst! Die einen, um ihn zu verehren, die anderen, um sich gegen ihn zu wehren.“5

Ein wirklich erschreckendes Buch hat jüngst Andreas Altmann geschrieben, ein Wutbuch über seine brutale katholische Kindheit und Jugend in Altötting.6 In einem Interview in „DIE ZEIT“ spricht er von Religionslehrern, die „Götter der Scheinheiligkeit (waren). Keine Wärme, kein Verzeihen, keinen Funke Liebe für uns Kinder.“7 Altmann ist Devotionalienhändlersohn, „den aber kein Gott vor seinem sadistischen Vater und seinen brutalen Lehrern rettete, so dass er die Gnadenlosigkeit auskosten musste“8. Altmann selbst spricht von der „Kettensägenmonsterideologie des Glaubens“, die das Leben terrorisiert und Liebessehnsucht unerfüllt sein lässt. Und er bekommt zuhauf Zuschriften und E-Mails von Menschen, die Ähnliches erfahren haben.9 Die öffentlichen Fälle schlimmster Erfahrungen mit Kirche bzw. ihren Hauptamtlichen ist nur die Spitze vom Eisberg: bis in unsere Gemeinden hinein, vor allem auch hinsichtlich der Unterdrückung im Glauben selber, mit dem Überraschungswort, wenn dessen erlösende und liebevolle Aspekte zur Sprache kommen: „Warum hat uns das bisher niemand gesagt?!“

Dass es sich bei diesen bekannt gewordenen Fällen um Extremfälle auch ansonsten tiefsitzender Erfahrungen und Ängste bei Gläubigen selbst handelt, habe ich in der Seelsorge immer wieder erfahren. Vor allem seitdem ich mich um die Bedeutung des „Jüngsten Gerichts“ bemühe,10 werde ich gefragt, warum ich als praktischer Theologe dieses an sich bisher weitgehend in der Dogmatik erörterte Thema von den „Letzten Dingen“ bearbeite. Das Gerichtsthema reicht bis in meine Kaplanszeit hinein, wo ich die Ängste in Bezug auf den Tod und auf das, was danach kommt, auch vor der Hölle, nicht nur bei älteren Leuten unglaublich vital erlebt habe. Übrigens auch noch bei Menschen, die das alles anzweifeln oder ablehnen. Bis hin zur Angst auch jüngerer Eltern, dass Gott ihre Söhne und Töchter nicht mehr lieben könnte, weil sie, oft aufgrund von Enttäuschungserfahrungen, von der Kirche Abstand genommen haben.

Mich hat bis heute diese Fragestellung nach dem Verhältnis von Glaube, Unterdrückung und Angst nicht mehr losgelassen. Im Grunde ist es die Aufarbeitung eines kollektiven Traumas der Kirchengeschichte, dieser jahrhundertealten Angst vor einem gnadenlos strafenden Gott, weil die Menschen nicht gläubig und/oder nicht gut genug waren. Das steckt tief, auch bei den nicht zur Kirche dazugehörigen Menschen. Sie übertragen auf die Kirchen immer noch die religiöse Angst und rebellieren dagegen. Bestimmte Medienprodukte und Filme tun das ihrige, diese Projektionen aufrechtzuerhalten.

2. Glaubensschwund ohne Angst

Neben dieser Spur der Verbindung von Glaube und Zwang, von Kirche und Angst gibt es die Spuren, auf denen der Glaube ohne Angst schwächer wird, bis dahin, dass er abhandenkommt. Viele Menschen wären gerne gläubig und können es nicht sein.

Nach Beendigung des letzten Examens sagte ein Theologiestudent zum Abschied, und ich gebe hier seine Gedanken in meiner Sprache wieder: ‚Ich habe meinen Glauben verloren. Nicht wegen des Theologiestudiums, das mir bis zum Schluss Freude gemacht hat, sondern einfach so. Es ist passiert im Zusammenhang verschiedener Ereignisse in meinem Leben. Und ich fühle mich nicht unglücklich. Ich kann gut auch ohne diesen Glauben leben und weiterleben. Natürlich fehlt mir etwas, es fehlt mir vor allem die Hoffnung über den Tod hinaus. Aber da gibt es noch einen Rest: Gibt es den Gott, über den ich im Theologiestudium nachgedacht habe, dann doch über meinen Unglauben hinaus, nimmt er es mir auf keinen Fall übel, wenn ich nicht mehr an ihn glaube. Er ist vielleicht traurig darüber, wie ich traurig darüber bin, dass ich nicht mehr auf ihn bauen kann, aber wenn es ihn dann doch gibt, wird er seine Liebe von mir niemals zurückgezogen haben.

Ich kann ja auch gar nichts dafür, es ist mir sehr klar geworden, dass der Glaube wirklich ein Geschenk ist, eine Gabe, die man bekommt oder nicht bekommt, die letztlich an keine Bedingungen gebunden ist. Weder für den einen noch für den anderen Fall muss ich Angst haben. Ich kann mich immer noch über die Gottesphantasie der Gläubigen freuen, denn solche Glaubensvorstellung ist kein Wahn, sondern ein wunderbares Bild der Hoffnung. Und kann auch niemandem schaden, wenn niemand ausgegrenzt wird. Gegen den Glauben an eine unendliche Liebe ist nichts zu sagen, wenn man ihn geschenkt bekommen hat.’

Ich treffe zunehmend kirchennahe ältere Menschen, auch Theologen und Theologinnen, die sich irgendwie als solche erfahren, die auf den Glauben verzichten können, ohne viel Schmerz dabei zu empfinden, einfach weil er sich irgendwie erübrigt. Dabei geht es nicht darum, mutwillig dagegen anzugehen oder aktiv etwas nicht mehr glauben zu können oder zu wollen, sondern darum, dass die Bilder des Glaubens verblassen, ihre Kraft verlieren, eine Schwäche bekommen. Eine Schwäche allerdings, die darin stark ist, dass sie alle Hoffnung, ohne sie zu verneinen, über den Tod hinaus an die Macht abzugeben vermag, die alles auffängt oder alles versinken lässt. Und Letzteres vielleicht doch in die abgrundtiefe Liebe Gottes? Dieses „Vielleicht“ eines „schwachen“ Glaubens,11 dem unwahrscheinlichen „Vielleicht“ des Propheten Amos ähnlich („… vielleicht wird der Herr, der Gott Zebaoth, doch gnädig sein …“, Amos 5,15), nämlich dass Gott vielleicht doch noch retten wird, wird nicht einer großspurigen Verneinung geopfert, die immer über ihre Verhältnisse lebt und diesbezüglich ziemlich besserwisserisch erscheint.

Diese eigenartige Erfahrung, dass gläubigen Menschen der Glaube irgendwie fern erscheint, fremd wird oder gar abhandenkommt, hat die Theologin Silvia Strahm Bernet folgendermaßen beschrieben: „Existiert in den Himmeln irgendetwas, das sich kümmert, um mich, um uns? Wieso gibt es etwas und nicht vielmehr nichts? Ich bin nicht weitergekommen, die Fragen sind nicht verschwunden, nur ihre Kraft hat abgenommen und die Dringlichkeit einer Antwort. Ich kann auch ohne leben. Im Nichtwissen kann man sich ein Leben einrichten, in dem der Schmerz über das Nichtwissen auszuhalten ist.“ Und: „Gott, Erlösung, Gnade, Sünde, Christus, Vergebung, Gericht, Heil, große alte Worte, die wie erratische Blöcke in der Welt stehen und Findlingen gleich noch an große Umwälzungen erinnern, an eine andere Welt, und doch Überbleibsel sind.“ Und so wird es schwer und schwerer, „anzuknüpfen an einer Welt, die so weit weg scheint, die in ihren Worten, Symbolen, Ritualen zwar noch immer Vibrationen erzeugt, aber nur schwache. … Ja, da lebt noch etwas, ganz weit weg, in den untersten Schichten des biographischen Sedimentes, und es ist noch da, es nährt nicht, es ist eher ein schmerzhaftes Ziehen, die Erinnerung, dass etwas war, wenn auch nur ein feuriger Wunsch, nun aber unaufhaltsam entgleitet. Tot ist es noch nicht, nicht solange es Lebenszeichen sendet, wenn auch ganz leise. … manch eine Pietà rührt mich noch immer zu Tränen und auch der Gekreuzigte mag ihn immer noch wieder hervorzuholen, den kindlichen Schmerz über die Grausamkeit der Welt, ein Schmerz, der geblieben ist und sich nicht mildern lässt und mit dem man dennoch leben lernt, ohne es sich je zu verzeihen.“

Und weiter: „Ich bin eine ungläubige Gläubige. Ich glaube nicht, was zu glauben ist, und bin doch in einem dauernden Gespräch mit ihm oder ihr. Ich lebe noch immer von religiösen Sätzen, Bildern und Musik, aber ich lebe nicht mit ihnen. Sie tauchen nur sporadisch auf und ich hole sie hervor und ich staune, wie viel Leben sie erzeugen und Begeisterung und Anregung. Aber ich lege sie wieder weg, und sie gehen vergessen wie Gegenstände, die man aufbewahrt, in Sichtweite, und doch nicht mehr sieht … Wenn alles in Bewegung ist, dann kann man nur noch den Kopf über Wasser halten, aber keine großen Visionen mehr entwickeln. Die Hoffnung reduziert sich darauf, nicht unterzugehen. Das klingt ein wenig erbärmlich. Und ist doch für eine wie mich nicht nichts, sondern der Angelhaken, der noch immer in dem steckt, wonach ich mich trotz allem sehne.“ Am Ende zitiert Strahm den Dichterphilosophen Emil M. Cioran: „Wie schade, dass man, um zu Gott zu gelangen, durch den Glauben hindurch muss.“12 Aus meiner Perspektive darf man demgegenüber auch sagen: Man muss gar nicht durch den Glauben hindurchgehen, um von Gott geliebt zu werden und zu Gott zu gelangen.

Hier wird deutlich: Die religiösen Symbole haben immer noch eine Wirkkraft in die Gegenwart hinein, und wenn es sich auch „nur“ um das symbolische Licht erloschener Sterne handelt. So gibt es viele Menschen, die dem kirchlichen Glauben fernstehen, bei denen aber die Rituale und Symbole noch eine Resterfahrung von dem bewahren, was der Glaube einst verheißen hat. Hier wird noch etwas von der Fülle der göttlichen Liebe, von seiner Geborgenheit gespürt: Die Symbole und Rituale lassen etwas von dem Überfluss erahnen, den die Gnade über das Wort und den Glauben hinaus bringt. Unsere Kirchen leben finanziell von den vielen Menschen, die ein Leben lang ihre Kirchensteuer zahlen und die Kirchen dafür nur einige Male beanspruchen, nämlich bei den Kasualien (Taufe, Kommunion, Firmung, Konfirmation, Trauung, Beerdigung u. a.):13 Sie lassen sich wenig viel kosten, weil sie darin den unverrechenbaren, weit über Tauschvorstellungen hinausgehenden „Überfluss“ der Gnade erahnen, wie er in diesen Symbolhandlungen zur Wirkung kommt. Die Fülle der künftigen Gnade „darf bereits vorweggenommen werden im sakramentalen Handeln der Kirche“14.

Denn es gibt ein Empfangen jenseits der überlegten Worte, „wie die gewaltige Wirkung eines Kunstwerkes, das bewegt, ohne dass der Rezipient jedes Detail zu verstehen in der Lage ist“15. Hier gilt allein der Vollzug der Sakramente („ex opere operato“), nämlich dass sie aus sich heraus, ohne Bedingungserfüllungen der Menschen, Gnade erfahren lassen. So rettet die Liturgie nicht nur die Erfahrung von Glaubensinhalten, die als solche entschwunden sind, sondern auch die Erfahrung von Glaubensinhalten, die als solche einmal offenbar werden. Die Liturgie hat also in diesem Sinn eine für Vergangenheit und Zukunft stellvertretende Eigenwirkung.

3. Autonomie in gebrochener Vielfalt

Alexander Schimmel hat in seiner Untersuchung den sehr ausgeprägten Autonomieanspruch von Jugendlichen, verbunden mit der Abwehr von Vereinnahmung und Fremdbestimmung vor allem im Bereich des persönlichen Glaubens und der eigenen Religiosität, unterstrichen.16 Hier begegnen offensichtlich auch keine Ängste mehr gegenüber kirchlichen Autoritäten bzw. gegenüber Gott. Vielmehr zeigt sich ein nicht ausschließender und unideologischer Umgang mit religiösen Fragen, verwurzelt in den je persönlichen Biographien, die zwischen den Menschen und Gruppierungen zugleich als religiöse Pluralität erlebt und in Gleichwertigkeit zugestanden werden.

Längst gilt auch für ältere Menschen: „Die Verlagerung der kirchlichen Innen-Außen-Grenze in die Biographie des Individuums und die zunehmend wahrnehmbare Pluralität von Deutungsangeboten lassen die Rede von einem ‚festen Glauben‘ zu einer unrealisierbaren und letztlich unerreichbaren Option werden.“17

Renate Wieser hat hinsichtlich katholisch sozialisierter alter Frauen das Bild gründlich zerbrochen, dass diese glauben würden, was ihnen zu glauben vorgegeben wurde: Theologie und Kirche „haben nicht bemerkt, dass ihnen viele ältere und alte Frauen längst schon den Rücken gekehrt haben, und sich kaum darum gekümmert, was diejenigen, die so selbstverständlich noch da sind … wirklich brauchen würden.“ Theologie und Kirche „haben sich mit den alten Frauen gerade nicht auf die Suche nach einem pluralitätstauglichen Glauben gemacht, haben nicht nach ihrem Überlebensglauben gefragt und auch nicht nach ihren Erlösungshoffnungen“. Der kirchlich vermittelte Glaube wird als „leere“ Kommunikation erlebt, die im Ernstfall nicht trägt. Denn tatsächlich gilt: „Kontingent, mehrdeutig, unentschieden, plural, ungleichzeitig, ambivalent, jenseits von klaren und sauberen Grenzziehungen – mit Bezeichnungen wie diesen lässt sich die alltägliche Wirklichkeit von Frauen beschreiben, die in einem Jahrhundert älter und alt wurden, in dem sich so viel änderte, dass kaum mehr ein Stein auf dem anderen blieb.“18

Wo Menschen einen bedrückenden Glauben erleben, gilt das, was Tilman Moser schreibt: „Vor allem viele ältere Frauen hätten, im Glauben an eine solche christliche Botschaft, ihr Leben in Enge und Aufopferung verbracht, und da stieße der Pfarrer auf viel untergründigen, aufgestauten Zorn, berechtigte Bitterkeit und heftige Trauer um das unter solchen Imperativen versäumte Leben, das nun nicht mehr zurückzuholen sei.“19 So gibt es offensichtlich bei gar nicht wenigen älteren Menschen jenes Betrugsgefühl, dass sie auch im Bereich ihres Glaubens um wichtige Möglichkeiten ihres Lebens gebracht wurden.20 Was ist das für ein Glaube, der derart Leben stranguliert? Und wie müsste er sein, dass er dies nicht mehr tut? Wieser nennt dies in den Frauenbiographien den Topos des „ungelebten Lebens“, das viele Gründe hat, unter denen allerdings leider ein Grund seine verschärfende Dynamik entwickelt, nämlich die Kontexte von Glaube und Kirche.21 So stellen sich die Frauen „gegen eine Theologie und Kirche, die nicht mit der eigenen Einsamkeit, dem eigenen Scheitern, der eigenen Ohnmacht, der Nicht-Erfahrbarkeit Gottes rechnet und fordern … eine Karsamstags-Theologie, in der dem Tag der Tiefe, der Unterwelt und der Verlassenheit zwischen der Kreuzigung und der Auferstehung die ihm zustehende Bedeutung eingeräumt wird.“22

Alte katholisch sozialisierte Frauen erleben auch, dass der Glaube angesichts des Leidens in der Welt und des Leidens, das sie selbst wahrgenommen und erlebt haben, keinen Sinn stiftet und keine Antwort gibt. „Das Leid begegnet als die Durchkreuzung aller herrschenden sinnstiftenden Diskurse schlechthin – denn in der Sinnlosigkeit des Leidens offenbart sich die Grenze aller Erklärungsmuster.“23

Es gibt eben keine Erklärung für das Leiden der Menschen und auch die Vorstellung, dass Gott selber dieses Leiden in Christus erlitten hat, verkleinert nicht die Sinnlosigkeit des Leidens, sondern verschärft sie bis ins Unendliche, bis in die wohl nur in Gott aushaltbare Differenz zwischen dem am Kreuz klagenden Christus und jenem Anteil in Gott, der als „Gott Vater“ für alles verantwortlich ist.24

4. Bedeutung des Lebens?

Und dann gibt es viele Menschen, die sagen können, dass sie Gott und Glaube nicht brauchen, entweder weil sie beides nie anders kannten und nie vermisst haben oder aus den Enttäuschungen heraus, dass beides ohnehin nichts hilft, nichts bringt und für nichts wirklich zu gebrauchen ist. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass sie mit dem Nichtbrauchenkönnen und -müssen gar nicht so unrecht haben.

Heutzutage kommt Menschen aber nicht nur die Bedeutung des Glaubens abhanden, sondern leider auch die Bedeutung des Lebens, bis hinein in einen sich offensichtlich ausweitenden Bedeutungsverlust sogar hinsichtlich der Selbstwertigkeit des Lebens. Janne Teller ist hier in ihrem Jugendroman „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ erschreckend deutlich: „Das Ganze ist nichts weiter als ein Spiel, das nur darauf hinausläuft, so zu tun, als ob – und eben genau dabei der Beste zu sein.“25 Und weil dies so ist, verlässt ein Schüler die 7. Klasse und setzt sich auf einen Pflaumenbaum. „Alles ist egal … Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem … Das Leben ist die Mühe überhaupt nicht wert.“ Und: „Nichts bedeutet irgendetwas … Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun.“26 Und: „In wenigen Jahren seid Ihr alle tot und vergessen und nichts, also könnt ihr genauso gut sofort damit anfangen, euch darin zu üben.“27 Und: „Ich sitze im Nichts. Und lieber im Nichts sitzen als in etwas, was nichts ist!“28

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