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Hans-Dieter Mutschler

Gemeinsam mehr von der Welt wissen
Zum Verhältnis von Spiritualität
und Naturwissenschaft

Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ
und Martin Müller SJ
Band 54

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Hans-Dieter Mutschler

Gemeinsam mehr
von der Welt wissen

Zum Verhältnis von Spiritualität
und Naturwissenschaft

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund
Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe
ISBN
978-3-429-03481-8 (Print)
978-3-429-04631-6 (PDF)
978-3-429-06040-4 (ePub)

Inhalt

1. Das Problem

2. Der einfache Weg

3. Quantenontologie

4. Was nun?

5. Teilhard de Chardin

Literatur

1. Das Problem

Zum Thema ›Naturwissenschaft und Spiritualität‹ gibt es von christlicher Seite fast nichts, dafür aber umso mehr von Seiten der Esoterik oder einer ostasiatisch inspirierten Neomystik. Heißt das, dass die Theologen wieder einmal das Problem verschlafen haben? Ich will nicht bestreiten, dass es schläfrige Theologen gibt, was die neueren Entwicklungen anbelangt, aber in Bezug auf Naturwissenschaft sind sie deutlich besser als ihr Ruf. Es gibt einerseits sehr gründliche Untersuchungen zum Thema ›Naturwissenschaft und Theologie‹, oft von doppelt qualifizierten Wissenschaftlern. Man könnte sogar die These aufstellen, dass die Theologen in dieser Hinsicht wacher sind als ihre materialistischen Gegner. Wer z.B. den Bestseller von Richard Dawkins »Der Gotteswahn« gelesen hat, wird vielleicht bemerkt haben, dass Dawkins den Forschungsstand in der Theologie gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Man könnte mit viel mehr Recht behaupten, dass die Materialisten schlafen.

Andererseits gehen die Themen ›Naturwissenschaft und Spiritualität‹ und ›Naturwissenschaft und Theologie‹ nicht genau in dieselbe Richtung. Naturwissenschaft und Theologie sind beide, wenn auch sehr verschiedene, Theorieformen, die man leidlich vergleichen kann. Dagegen meint Spiritualität eine existenzielle Praxis, so dass man nicht leicht sieht, was sie wohl mit den abstrakten Theorien der Naturwissenschaftler zu tun hat.

Könnten wir nicht im Gegenteil sagen: »Das hat gar nichts miteinander zu tun«? Wenn wir die großen christlichen Mystiker lesen, also z.B. Johannes vom Kreuz, Therese von Avila oder Ignatius von Loyola (allesamt Spanier!), dann scheinen ihre Überlegungen in keinem wie auch immer gearteten Verhältnis zu wissenschaftlichen Theorien zu stehen. Was würde sich denn z.B. an den Exerzitien des heiligen Ignatius ändern, wenn die Materie, statt aus diskreten Atomen zu bestehen, kontinuierlich verteilt wäre, wenn sich die Sonne um die Erde drehte, statt andersherum, oder wenn der Urknall vor 135 Milliarden Jahren stattgefunden hätte und nicht etwa vor 13,5 Milliarden Jahren? Was würde sich denn da wohl ändern? Offenkundig nichts! Im Weltall hängt zwar alles mit allem irgendwie zusammen, aber oft nur sehr lose. Die Mehrzahl der Biologen kennt wenig von der Quantentheorie, ohne dass ihnen als Biologen irgendetwas fehlt. Man muss eben nicht immer alles wissen.

Ist das Thema ›Naturwissenschaft und Spiritualität‹ also von vornherein verfehlt? Sollten wir es auf sich beruhen lassen? Ich bin nicht dieser Meinung. Aber das Verhältnis beider ist eher vermittelt, nicht so unmittelbar, wie es die paganen Neomystiker darstellen. Tatsächlich glaube ich, dass sie sich die Sache zu einfach machen und dass sie die Tiefe des Grabens, den sie überbrücken wollen, nicht richtig eingeschätzt haben. Sie legen ein großes Brett über den Grand Canyon, ohne zu bemerken, wie leicht sie uns zum Absturz bringen könnten, wenn wir töricht genug wären, auf ihr schwankendes Brett zu steigen.

Ich möchte, weil das Problem sehr verwickelt und dornig ist, zunächst einmal den Gegensatz zwischen Spiritualität und Wissenschaft deutlich herausarbeiten. Der Grand Canyon ist an manchen Stellen an die zwei Kilometer tief. Für die Überquerung braucht es eine solide Brücke, deren Materialien man nicht im Baumarkt erwirbt. Dass die christlichen Theologen bezüglich ›Naturwissenschaft und Spiritualität‹ etwas spröde sind, erklärt sich vielleicht aufgrund folgender Überlegungen:

Stellen wir uns vor, in einer Buchhandlung gäbe es Bücher mit den folgenden Titeln: »Gott und Geld«, »Differentialgleichungen und Spiritualität«, »Jesus und Steuererklärung«, »Handy und Heiliger Geist«. Da würden wir uns sehr verwundern. Wir wären sicher, dass diese Bücher nichts als Unsinn enthalten.

Ganz anders, wenn wir folgende Titel vorfinden würden: »Natur und Spiritualität«, »Geist und sinnliche Präsenz«, »Gott und Kunst«, »Jogging als Meditation«. Warum würden wir diese Titel für sinnvoll halten, warum würden wir von vornherein vermuten, dass es sich um lesenswerte Bücher handelt, während wir bei den zu erst genannten Titeln sicher wären, dass sie nichts Vernünftiges enthalten?

Der Grund liegt m.E. in Folgendem: Der Mensch ist ausgespannt zwischen Aktion und Kontemplation. Es gab zwar Wüstenväter, die überhaupt nichts anderes taten, als zu beten. Aber dieses Ideal steht in der Kirche nicht allein. »Ora et labora« heißt die Devise seit Benedikt von Nursia. Das will besagen: Christlich gesehen ist nicht nur das Gebet, d.h. die Kontemplation, gefordert, sondern genauso gut die stocknüchterne Bewährung im Endlichen, in der Arbeit, im Herrichten, im Denken, in einer rein aufs Diesseits gerichteten Planung. Wer sich hier nicht bewährt, soll nicht glauben, er sei ein vorbildlicher Christ. Ich denke, dass es in dieser Hinsicht einen Stilunterschied gibt zwischen ostasiatischen Formen von Mystik und der christlichen Mystik. Es gibt weise Hindus, die auf Dauer einsam in den Höhlen des Himalaya leben und keine Sozialkontakte haben. Man verehrt sie als große Vorbilder. Der Hindu-Heilige Sri Ramakrishna soll den größten Teil seines Lebens in Ekstase verbracht haben. Ich glaube, dass ihn Ignatius von Loyola nicht im Jesuitenorden geduldet hätte. Die Ideale gehen eben in eine andere Richtung. Es macht einen Unterschied, ob ich die Welt für eine Illusion halte, die es in tiefer Meditation zu überwinden gilt, oder ob ich die Welt als die gute Schöpfung Gottes ansehe. Dann muss ich an ihrer Dynamik tätigen Anteil nehmen und kann mich nicht an ihr vorbeimogeln.

Dieser Gegensatz gilt übrigens nicht nur zwischen Christentum und ostasiatischen Religionen, er besteht auch zwischen Christentum und griechischer Philosophie. Plato und Aristoteles betrachteten das handwerkliche Herrichten als die niedere Arbeit von Sklaven. Der freie Grieche widmete sich der zweckfreien Kontemplation, die abgesondert war von niedriger, aufs Materielle gerichteter Arbeit. Hingegen war der Ziehvater von Jesus Tischler oder Paulus war Zeltmacher und blieb es auch dann noch, als er längst die unbezahlte Gastfreundschaft der Gemeinden in Anspruch hätte nehmen können, bei denen er missionierte.

Dieses christliche Ideal des »ora et labora« hat aber einen hohen Preis. Wer sich ganz in diese Welt hineinbegibt, geht auch leicht in ihr auf. Wer sich auf Weltbewältigung konzentriert, verliert leicht den Überblick über das Ganze und wird zum blinden Organisierer, dem die Sorgen und Freuden dieser Welt den Blick aufs Eigentliche verstellen. Dementsprechend legt christliche Spiritualität großen Wert darauf, dass der Spagat zwischen Kontemplation und Weltbewältigung gelingt, und das geht eben nicht ohne Reibungsverluste. Ich glaube nicht, dass es in diesem Bereich glatte Lösungen gibt. Aber man könnte das Christentum definieren als eine Religion, die uns zeigt, wie man mit einer Welt umgeht, in der es nirgends glatte Lösungen gibt. Die Esoterik bietet uns hingegen solche glatten Lösungen an. Welt, Seele und Gott verschmelzen zur Einheit, Wissenschaft und Weisheit werden vertauschbar und mit der Subjekt-Objekt-Spaltung verschwinden alle Gegensätze, die uns so sehr zu schaffen machen. Das riecht nach Rauschgift. Auch Rauschgifte bringen die Kanten und Ecken der Welt zum Verschwinden, aber nur um den Preis, dass sie sich im nüchternen Zustand beträchtlich verschärfen.

Wenn wir uns, wie wir sollten, ganz in die Weltbewältigung hineinstürzen, unseren Mann oder unsere Frau stehen wollen, dann sind wir in dieser Hinsicht der Transzendenz entfremdet. Daher klingt es so absurd, wenn jemand ein Buch schriebe mit dem Titel »Differentialgleichungen und Spiritualität« oder »Jesus und Steuererklärung«. Die Serie der ersten Titel, die ich erfunden habe, schließen durchweg Weltbewältigung und Kontemplation kurz. Die Serie der zweiten Titel verweist hingegen auf Selbstzwecklichkeit als den Platzhalter des Spirituellen.

Weltbewältigung schreibt sich ein in Zweckrationalität. Zweckrationalität heißt: Wir sind, um unser Leben zu bewältigen, genötigt, gewisse Ziele zu verfolgen. Dazu wählen wir die besten Mittel aus, um erfolgsorientiertes Handeln zu gewährleisten. Im zweckrationalen Zusammenhang gibt es nichts, was für sich selber steht. Alles ist nur um eines anderen willen da. Häufig sind die Zwecke, die wir uns setzen oder die uns gesetzt sind, nur Mittel zu noch höheren Zwecken usw. Mit einem Wort: Weltbewältigung und Zweckrationalität sind nicht der Ort, wo die Dinge als sie selbst in den Blick kommen, sondern immer nur als Funktion von etwas anderem.

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