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Hermann Pius Siller

Letzte Erfahrungen

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Für

Michael Raske

Inhalt

Vorwort

A   Erfahrung von Providenz

1. John Henry Newmans Providenzerfahrungen

Die nationale Religion EnglandsBiographische RealisierungenDie akademische WegstreckeDie Zeit der anglikanischen ReformbewegungDie katholische ZeitDankbarkeit und Selbstachtung

2. Die Rede von der Providenz und ihre Kontexte

Naturgesetze und ProvidenzSelbstbestimmung und ProvidenzFunktionale Wirklichkeit und ProvidenzFunktionale Religion und ProvidenzProvidenz und AlteritätVirtuelle Vorsehung und befreiende Providenz

3. Providenz – eine Rede von der Wirklichkeit

Ungeselligkeit und GeselligkeitMenschenrechte und staatliche BürgerrechteZum VölkerrechtSchicksal und VorsehungSchleiermacherDu, o Gott, siehst michDer uns teilnehmend behütetIm Walten der Naturkräfte und im Lauf der GeschichteDie keinen Sinn ihres Daseins finden können

4. Lebensstile unter der Providenz

Erbe seinZugehörigkeitenBekehrungDankbarkeit

5. Zwei Essays Newmans zum Begriff der Erfahrung

Proof of TheismAn Essay in Aid of a Grammar of AssentErfahrung

B   Erfahrung der Unbegreiflichkeit

6. Karl Rahners Ursprungserfahrung

7. Phänomenologie und Hermeneutik

Der transzendentale BereichVerstehenDie Alten und die Anderen verstehen

8. Die Tiefe der Unbegreiflichkeit

Das unbegreifliche GeheimnisDas unverfügbare GeheimnisTranszendenz und SelbstmitteilungDie rechtfertigende Gnade und die beseligende SchauDie MenschwerdungKreuz und Auferstehung – Erlösung und BefreiungTrinitätErfahrungen von Gottes Selbstmitteilung

9. Karl Rahners transzendentale Erfahrung

ProblemzusammenhängeEine theologisch wenig beachtete ÜberlieferungTranszendentale ErfahrungenGratuitätserfahrungenErfahrungen von Gottes SelbstmitteilungErfahrungen des Heiligen GeistesDas Kategoriale als Faktor der transzendentalen ErfahrungJesus Christus und sein ZeugnisSakramentalität und Transzendentalität

C   Erfahrung von Gratuität

10. Jesus erfahren

Im VorbeigehenVollmachtGleichnisseTaten

11. Erfahrungen des Paulus

Den Auferstandenen erfahrenGratuität erfahren

12. Bekenntnis einer johanneischen Erfahrung

Eine biblische SituationDie Antwort der johanneischen GemeindeEin geschichtlicher MomentDie Liebeserklärung

D   Begriffliche Annäherungen
an letzte Erfahrungen

13. Erfahrung: Phrase oder Funktion?

Newman und RahnerAktualität des ProblemsKonkrete Erfahrung

14. Elemente eines phänomenologischen Begriffs

BewusstseinGegebenesErfassenErfahrenseinZusammenhängeHorizonteErfahrungen „radikaler Endlichkeit“Erfahrung des Transzendierens

15. Jenseits der Horizonte

JenseitsTranszendenz der Liebe

16. Lebensweltliche Erfahrung und Glaubenserfahrung

LebensweltlichGeschichtlichErscheinen des Absoluten

17. Das Sakramentale

Eine VergewisserungDas PropositionaleDie Kirche erfahren

18. Nach 2000 Jahren

Pluralität der PerspektivenHistorische und dialektische ErfahrungHermeneutische ErfahrungDer Sprechakt des „Überlieferns“In der Überlieferung Jesus Christus erfahren

19. Zeitlichkeit von Erfahrung

Erinnerung und ErfahrungPsychische und kulturelle AmnesieGedächtnis der Leidenden und CompassioMemoria passionis – eine theologische ErfahrungGott erfahren in der Zeit

20. Ein Anhang: In Erfahrung einweisen

AllgemeinbildungReziproke BeziehungErfahrung in der reziproken BeziehungKonventionalität von BeziehungenBibel und Liturgie

Autorenregister

Vorwort

Sich wundern über das Vertrauen, das in den Krisen des eigenen Lebens trägt, sich einer schnellen Tröstung über das unaussprechliche Leiden und Sterben der Kreatur enthalten, sich erschrecken über das Risiko, das im Versprechen von Treue zu einem ebenso endlichen und hinfälligen Menschen liegt, immer wieder über gesellschaftliche Entwicklungen besorgt, von politischen Entscheidungen irritiert oder enttäuscht sein, das ist schon immer, doch in der Gegenwart in gesteigerten Maß, für Christen ein Grund, über ihr Christsein nachzudenken. Wie kommt denn in überhaupt in dieser Zeit das noch in die Gänge, was man christlich „Glauben“ nennt, diese merkwürdige Selbstbegrenzung der Vernunft und der Selbstbestimmung, diese Selbstauslieferung und Selbstdistanzierung, diese Lebensführung am Rande des eigenen Vermögens? Sich mit seinem Glauben und ausdrücklich mit Theologie zu befassen, hat doch wohl auch etwas mit dieser Befremdlichkeit zu tun, die darin liegt, sein Leben auf eine andere Wirklichkeit zu setzen als auf die, deren wir uns begreifend und verfügend sicher zu sein wähnen. Wie komme ich zu einer solchen Lebensform? Das Hörensagen, das Gerücht, die Lehre, die Predigt oder auch das vor meinen Augen gelebte Zeugnis anderer allein bringen mich nicht dahin, eine so anspruchsvolle Lebensform auf sich zu nehmen. Das Wort, das Aussprechen einer Einladung oder eines Versprechens, ist das Eine. Es ist zwar unabdingbar, denn das Wort spricht mich auf meine Lebensführung an. Etwas anderes aber ist, ob ich überhaupt darauf ansprechbar bin, also mein angespanntes Hinhörenkönnen, meine Bereitschaft auf die Einladung einzugehen, das Eingeständnis meiner Bedürftigkeit, die mir ein so weitgehendes Versprechen erwünschbar erscheinen lässt. Nicht nur das Wort, auch das vorausgehende Interesse daran verlangt eine Aufmerksamkeit und eine vernünftige Reflexion.

Wann, wo, vor allem aber in welcher Disposition bin ich ansprechbar? Was ist dem Ankommen des Wortes in meinem Leben schon vorausgegangen? Und was passiert bei diesem Ankommen? Sicher lassen sich nicht alle konkreten Voraussetzungen, ein Gesagtes akzeptabel zu finden, a priori vollständig aufzählen, aber braucht man es deshalb bei einer transzendentalen Offenheit schlechthin, beim „Hörer des Wortes“ oder beim „letzten Wort“ zu belassen? Die Antwort auf die Frage, unter welchen lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ich mich auf ein an mich gerichtetes Wort einlasse, es verstehe und für mich gelten lasse, ist höchst komplex. Die Voraussetzungen verändern sich mit dem gesellschaftlichen Wandel von „Konstruktionen der Wirklichkeit“, im Laufe eines Lebensweges und sogar im Gang kritischer Selbstprüfung und theologischer Reflexion. Solche Fragen verlassen auch den Theologen selbst dann nicht, wenn sie sich hinter der sachbezogenen Aufmerksamkeit auf theologische Forschung zu verbergen scheinen.

Um die Voraussetzungen der Akzeptanz eines Gesagten für jemanden konkreter beschreiben zu können, verwende ich den Begriff „Erfahrung“. Mit dem „Erfahrensein“ eines Subjekts wird der bisher gewonnene, also der lebensgeschichtliche „Status“ des Hörers beschrieben. Allerdings wird das Wort „Erfahrung“ in vielen Bedeutungen gebraucht. Es suggeriert unter Umständen Erwartungen, die von der Sache der Theologie her nicht zu rechtfertigen sind. Aber in einer verständlichen und glaubwürdigen Rede von Gott ist die Beachtung der Lebenserfahrung des Gesprächspartners unverzichtbar. Und für das, was das Wort Gott in meinen Gebrauch benennen soll, muss ich immer auch eine bestimmte Erfahrung benennen können. Allerdings muss dann der Begriff der Erfahrung sowohl in seiner Bedeutung als auch in seiner Verwendung ausgewiesen werden. Freilich wurde in der Theologie nicht ohne Grund der Begriff „Erfahrung“ mit einem gewissen Misstrauen behandelt oder gar gemieden: in der evangelischen dialektischen Theologie und um dem Verdacht des Pietismus zu entkommen, im katholischen Supranaturalismus, im konfessionalistischen Ekklesiozentrismus der Gegenreformation und im Antimodernismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Dadurch wurden dogmatische Entstellungen und Ungleichgewichte in den Grundlagen der systematischen Theologie unvermeidbar, mit Folgen für das Verhältnis zur Aufklärung, für die Praktische Theologie und die pastorale Praxis.

Um das flache Gerede von Erfahrung zu vermeiden, die ein jeder für sich beanspruchen kann, und die so gebraucht jede intersubjektive Verständigung eher blockiert, habe ich meine Fragestellung von vornherein auf „letzte Erfahrungen“ zugespitzt. Damit hoffe ich, dem theologischen Begriff Erfahrung und seiner Verwendung eine zureichende Härte und Genauigkeit abzufordern. Diese Zuspitzung wird ihm nichts von der Weite seiner Anwendbarkeit in den verschiedenen theologischen Traktaten und in den vielfältigen Situationen des Lebens nehmen. Der so gefasste Begriff hat, was sich vielleicht zu allererst aufdrängt, in der Tat auch etwas mit der Erfahrung „radikaler Endlichkeit“, mit Sterblichkeit und mit dem Vorlaufen zum Tod zu tun. Damit wird er paradigmatisch für die im Dasein und in der Lebensführung, also im „Existieren“ gemachten Grunderfahrungen. Denn erst angesichts des Todes wird der Mensch überhaupt „vernünftig“, erst aus der Erfahrung seiner Endlichkeit bezieht er seine weisheitliche Vernunft.

Wie aktuell die Frage nach den „letzten Erfahrungen“ als Voraussetzung der Rede von Gott ist, zeigt sich in der Debatte um den Zusammenhang von „Gotteskrise“ und „Kirchenkrise“. Der Begriff „Gotteskrise“ wurde von Johann Baptist Metz geprägt, um die von Friedrich Nietzsche diagnostizierte fehlende Glaubwürdigkeit der Rede von Gott in der gegenwärtigen westlichen Kultur zu benennen. Walter Kasper hat ihn in die Debatte geworfen, um die Aufmerksamkeit von der Kirchenreform abzulenken. Wenn aber „Kirchenkrise“ die fehlende Glaubwürdigkeit der kirchlichen Rede von Gott benennen soll und der Ruf nach einer Kirchenreform ein Ruf nach Wiedergewinnung der öffentlichen Glaubwürdigkeit dieser Rede von Gott meint, dann ist der Bedingungszusammenhang der Begriffe „Gotteskrise“ und „Kirchenkrise“ offensichtlich.

Mit den Worten „Providenz“, „Unbegreiflichkeit“ und „Gratuität“ werden drei elementare, sich in einer Lebensgeschichte anbietende theologische Zugänge zu „letzten Erfahrungen“ benannt. Sie lassen sich nicht streng und einander ausschließend aus dem, was ich „letzte Erfahrungen“ nenne, ableiten. Sie wurden eher „aufgelesen“. Auch andere Zugänge wären denkbar. Ich gehe damit in den ersten beiden Abschnitten des Buches von den theologischen und persönlichen Profilen zweier bedeutender Theologen aus, die sich der Moderne theologisch und spirituell gestellt und sie in Ihrer Theologie verarbeitet haben, bei gleichzeitiger Kirchenkritik und dem „Mut, der modernen Welt ein Ärgernis zu sein“. Mit „Providenz“ und „Unbegreiflichkeit“ werden letzte Erfahrungen benannt, wie sie im Leben von John Henry Newman und Karl Rahner gemacht wurden. Newman spricht mit „Providenz“ die in seinem Gewissen vernommene führende Kraft des nahen Gottes an. Karl Rahner spricht mit dem unbegreiflichen und unverfügbaren Mysterium die Erfahrung radikaler Endlichkeit an. Im dritten Teil wird, den Ertrag der historisch-kritischen Forschung des Neuen Testaments voraussetzend, versucht die grundlegenden Erfahrungen einiger biblischer Autoren, insbesondere die des Paulus von Tarsus zu beschreiben. Diese drei Erfahrungszugänge schließen sich gegenseitig nicht aus. Sie bezeichnen einige unter den vielen verschiedenen Gesichtern, die letzte Erfahrungen zeigen, drei exemplarische und theologisch schon durchdachte Weisen. Die Providenz bei Newman bezeichnet sein im Gewissen leuchtendes und so führendes, weil selbst sehendes „Licht“ in einem an Wandlungen, Brüchen und Wegscheidungen reichen Leben. Unbegreiflichkeit bezeichnet bei Karl Rahner die wissenschaftlich verantwortete und meditative Durchdringung von Glaubenssätzen bis in ihre letzten geschichtlichen und weisheitlichen Ursprünge und die Lebenserfahrungen eines großen Beters, Denkers, Ordensmannes und normalen katholischen Christenmenschen bis in ihren gnadenhaften Grund. Paulus erfuhr bei seiner Berufung zum Apostel der Nichtjuden einen ungeheuren Bruch in seiner Lebensgeschichte. Die Erfahrung der dabei sich durchsetzenden universalen gnadenhaften Zuwendung Gottes hat er in einer anspruchsvollen Theologie durchdacht, für die ich den von Derrida entlehnten Begriff der bedingungslosen, reinen Gabe, ihrer Gratuität entlehne.

Mit diesen exemplarischen Zugängen suche ich theologisch an „letzte Erfahrungen“ heranzukommen. Der Eindruck einer gewissen Willkürlichkeit der Auswahl ist dabei nicht völlig unbegründet. Aber eine solche Mehrzahl eher phänomenologischer Zugänge enthebt mich der Last, einen „point de départ“, einen philosophischen Ansatzpunkt zu finden, der alles erklärt. Von den Erfahrungen dieser außerordentlichen christlichen Denker herkommend kann ich weiterarbeiten mit dem, was mir selber im Lauf meines Lebens zugespielt wurde von meinen Lehr- und Lebemeister, und was mir selber hilfreich erschien, um in diesen hier vorliegenden Reflexionen meinen eigenen Erfahrungen auf die Spur zu kommen.1 Es ist ein lebensweltlicher Erfahrungsbegriff, den ich – klassisch existentialontologisch – in die Worte fasse, das „eigene Unvermögen vermögen“. Dieser phänomenologische Begriff erweist sich meines Erachtens als zureichend, um auf Phänomene wie „Jenseits“, „Transzendenz“ und sogar „Auferstehung“ hinzuweisen. Nach Newman, Rahner und den biblischen Erfahrenden gehe ich also meinen eigenen Reflexionen darüber nach.

Ein anderer Aspekt war mir während der Arbeit an dem Thema ständig präsent: die Notwendigkeit in der Theologie einen weiterführenden Schritt zu machen. Zu dem Erbe, das Karl Rahner der Theologie hinterlassen hat, gehört das Problem der Erfahrbarkeit sowohl der Glaubensinhalte als auch des Glaubensaktes. Er hat dazu viele Gesichtpunkte beigesteuert. Aber er war sich auch bewusst, dass das eine Aufgabe für Generationen ist. Ein Teil der sich daran knüpfenden Probleme kommen von dem inflationär gebrauchten, deshalb auch undeutlichen und missverständlichen Gebrauch des Wortes „Erfahrung“. Deshalb wäre ein Beitrag zu einem strengeren Erfahrungsbegriff für Fundamentaltheologie und Dogmatik ebenso nützlich wie für Predigt, Katechese und Frömmigkeit. Gerne möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten, um die Debatte darüber noch einmal ins Rollen zu bringen. Vielleicht könnte eine solche sogar ein Beitrag zur Verlebendigung eines verständigen Glaubens sein. Damit – so hoffe ich – komme ich auch einem breiten Bedürfnis nach spiritueller Erfahrung und nach einem Glauben, der in die persönliche Erfahrung eingeht, entgegen.

Unter den vielen, denen ich Dank schulde, hebe ich Roman Siebenrock hervor. Er hat sich der mühevollen Arbeit unterzogen, die vielen Rahnerzitate innerhalb der „Sämtlichen Werke“ zu verifizieren. Adalbert Hepp, Freund, Agnostiker und professioneller Leser, hat es nicht unterlassen, mich immer wieder herauszufordern und das Skript einer Korrektur zu unterziehen. Gotthard Fuchs, Paul Petzel und andere Freunde haben mich unerlässlich ermuntert und veranlasst, zu meinen, dass dieses Unternehmen sinnvoll ist. Thomas Schreijäck ist für manche Hilfestellung zu danken. Michael Raske sei es zum fünfundsiebzigsten Geburtstag gewidmet.

Erzhausen Sommer 2011

Hermann Pius Siller

1   Hermann Pius Siller, Existentielle Bürgschaft und Trauma, in: Benjamin Eli Bardé (Hg.), Festschrift für Peter Kutter, im Erscheinen begriffen.

A   Erfahrung von Providenz

1.   John Henry Newmans biographische Erfahrungen2

Die nationale Religion Englands

Im ersten Teil seiner Zustimmungsgrammatik beschrieb John Henry Newman die „Religion Englands“ kritisch als eine Religion bloß begrifflicher Zustimmung (Z 37–40).3 Damit meinte er, dass die Leute den Sätzen einer Religion ihre Zustimmung so geben, wie sie am Anfang des Lebens den durch ihre Erziehung vermittelten Prinzipien, Werten, Normen und Lebensauffassungen überhaupt zustimmen, indem sie vorhandenes Wissen, Allgemeinbildung und Weltanschauungen zunächst einfach übernehmen. „Bloß begrifflich“ nannte Newman diese angelernte Religion, weil ihre Zustimmung meist nur den angelernten Begriffen gilt. Sie umfasst selten auch die damit gemeinte Wirklichkeitsbehauptung, wie es die Dogmen und die sakramentalen Riten tun. Diesen liegt eine reale und nicht nur eine begriffliche Zustimmung zugrunde, eine Zustimmung also, die auf eine Wirklichkeit vorzugreifen, eine Wirklichkeitserfahrung zu realisieren sucht. Das Subjekt stimmt, sich persönlich bestimmend, zu. Weil die nationale Religion Englands in diesem Sinne sich also selten und nur schwach auf Wirklichkeit beziehe, deshalb bleibe sie zumeist im Begrifflichen oder im subjektiven Gefühl befangen.

Die Schwäche und Stärke dieser nationalen Religion bestehe auch darin, dass sie „Bibelreligion“ bleibe. Die Bibel wird in der Kirche, in der Familie und privat gelesen. Sie habe den Geist des Volkes auf religiöse Gedanken gestimmt, ihm einen sittlichen Maßstab gegeben, ihn zu großen Werten inspiriert. Weil sie Bibelreligion sei, darum sei sie auch „nicht eine Religion von … Glaubensakten und unmittelbarer Andacht, sondern von heiligen Szenen und frommen Gefühlen. Sie ist verhältnismäßig sorglos dem Bekenntnis und dem Katechismus gegenüber, und hat infolgedessen wenig Sinn gezeigt für die notwendige Übereinstimmung ihrer Lehrgegenstände miteinander.“ (Z 40) Aber eine Ausnahme sieht Newman: „Was die Schrift besonders darlegt von ihrer ersten Seite bis zur letzten, ist Gottes Providenz, und das ist nahezu die einzige Lehre, die von der Masse religiöser Engländer mit einer realen Zustimmung gehalten wird.“ Newman ist also der Ansicht, wohl aus seiner persönlichen Anschauung und Erfahrung, dass in dieser englischen „Leutereligion“ und in ihrer Bibelpraxis wenigstens zu einem kirchlichen Glaubenssatz eine reale Zustimmung vollzogen wird: nämlich zu Gottes Providenz.

Wen zählt Newman zu dieser „nationalen Religion Englands“? Nicht nur den calvinistischen Puritanismus, nicht allein die Evangelikalen (Low Church), nicht nur die anglikanische High Church. Das seien nur einzelne Schulen und Parteiungen. Im Auge hat Newman dabei die Masse fromm gesinnter und rechtschaffen lebender Leute aller Stände, also die gesamten unterschiedlichen Erscheinungsformen der Religion des englischen Volkes. Von dieser behauptet Newman, bei aller sonstigen Kritik, voll Anerkennung, dass sie in einem Punkt lebendig sei, voll realer Zustimmung: in der Lehre von der Providenz. In der Religion, in die er selber hineingeboren und hineinerzogen wurde, gab es mit ihrem Glauben an die Providenz einen lebendigen Pulsschlag.4

Biographische Realisierungen

Newmans Sicht der Religion Englands bleibt nicht in einer distanzierten soziologischen oder religionswissenschaftlichen Beobachterperspektive. Von realer Zustimmung, die eben auch in der „Leutereligion“ möglich ist, lässt sich adäquat nur aus einer Teilnehmerperspektive sprechen. So legt sich dem Historiker nahe, nach dem Ort Newmans früher Begegnung mit der Religion Englands zu suchen. Vermutlich ist dies das Haus seiner Großmutter Elisabeth Good-Newman in Fulham. Dort verbrachte er frühe Kindheitsjahre und Ferien. Dort bekam er die Bibel und den Katechismus in die Hand. „Was immer an Gutem in mir ist, schulde ich, nächst der Gnade, der Zeit, die ich in jenem Hause … verbracht habe. Ich vergesse nicht ihre (der Großmutter H.P.S.) Bibel und die Bilder darin“ (AM II, 448). Hier also wird Newman mit der Religion der Engländer und deshalb auch mit „Providenz“ vertraut. Wie eine Bestätigung dieser Annahme liest sich ein Segenswunsch der Großmutter an ihren Enkel: „dass der allmächtige Gott mit dir sein möge, wie er mit Josef (von Ägypten) war“ (LD I, 19). Die biblische Josefserzählung ist ja bekanntlich eine Geschichte göttlicher Führungen und Fügungen in einem Leben voller Anschläge und Intrigen.5

Eine einmalige Entscheidung genügt allerdings nicht, um die begriffliche Zustimmung zu der Lehre von der Providenz in eine reale Zustimmung zu überführen. Die Realisierung solcher Glaubenssätze muss in der Lebensgeschichte in immer neuen Schüben und in unterschiedlichen Situationen geschehen, wie auch die Dogmen in der Lebensgeschichte je neuer Realisation bedürfen (DP III, 127–142). So reklamiert die Rede von der Providenz Gottes Gegenwart im Leben. Der religiöse Mensch hat das Walten der Providenz in seinem Leben jeweils zu realisieren (DP IX, 380–385). Eine besondere Art, die reale Zustimmung zu der in seiner Lebensgeschichte wirkenden Providenz zu vollziehen, ist Newmans autobiographisches Werk. Im Schreiben seiner Tagebücher und autobiographischen „Bekenntnisse“ realisiert er existentiell, nicht nur theoretisch, die in seinem Leben tragenden Providenzerfahrungen: Dogma im Lebensvollzug. Die Predigt von 1837 zum Thema „Gottes Führung im Rückblick auf unser Leben“ (DP IV, 289) ist vor diesem Hintergrund zu lesen. Newman kann im Rückblick auf sein Leben die religiösen Impulse, die er bekam, die theologischen Herausforderungen an sein Denken, Wahrnehmen und Handeln, die umwerfenden Zumutungen an seine Lebenskonzeptionen als providentiell „realisieren“.

Die akademische Wegstrecke

Das Jahr 1816 war für Newman ein ereignisreiches Jahr: der wirtschaftliche Zusammenbruch der väterlichen Bank, eine Krankheit, die in den autobiographischen Schriften nur angedeutet wird, die an seiner Schule in Ealing verbrachten Sommerferien, der in dieser Zeit durch seinen Lehrer Mayers ausgeübte evangelikale Einfluss, den er als „Bekehrung zu Gott“ erlebt und beschrieben hat, und damit verbunden, die Aufnahme dogmatischer Eindrücke, „die durch Gottes Güte niemals ausgelöscht und getrübt wurden“ (A 22). Im Dezember des Jahres 1816, brachte ihn sein Vater nach Oxford, um ihn im Trinity-College immatrikulieren zu lassen. Ein Jahr später bewarb er sich dort um ein Stipendium. In seinem Tagebuch betete er: „Gott, lass nicht zu, dass ich durch diese Erwartung (den erwarteten Erfolg dieser Bewerbung H.P.S.) von Dir getrennt werde. Gewähre, meinen Geist so in Zucht zu halten, dass ich nicht enttäuscht bin, wenn es schlecht ausgeht; sondern deinen Namen lobe und preise, weil du besser weißt, was für mich gut ist“ (SB 204). Damit wird ein Konflikt angesprochen, der für die folgenden Jahre kennzeichnend blieb: der Konflikt zwischen Eigenwille, Eigensinn, Ehrgeiz, zu wenig Selbstverleugnung, zu viel Freude am Erfolg einerseits und Gottvertrauen, Frieden des Herzens, Geborgenheit im Willen Gottes, Glaube an Gottes Providenz andererseits. Sein persönliches Gegenbild wurde das selbstgerechte Verhalten Sauls (SB 219; DP III, 39–54). Vor dem dann für ihn selber doch nicht zufriedenstellend gelungenen Abschlußexamen schrieb er: „Ich will nicht um den Erfolg beten, sondern um das Gute“ (SB 54f.). Und in einem Tagebucheintrag: „Ich bitte nicht um Erfolg, sondern um den Frieden des Herzens“ (SB 208). Vor der Prüfung bei der Bewerbung um eine Fellowstelle am Oriel-College betete er an seinem Geburtstag: „Du siehst, wie versessen und, ich fürchte, abgöttisch meine Sehnsucht danach ist, im Oriel-College Erfolg zu haben. Nimm all meine Hoffnung weg, warte keinen Augenblick, o mein Gott, wenn ich dabei deinen Geist gewinne“ (SB 237). Aus der Zeit vor seiner Diakon- und Priesterweihe gibt es ähnliche Äußerungen.

Dieser spirituelle und asketische Konflikt war für eine Religiosität insbesondere des vergangenen 19. und 20. Jahrhunderts oder für ein Bildungsverständnis, das sich als Selbstverwirklichung versteht, unschwer nachvollziehbar. Hier stand die Providenz dem Interesse an sich selber wie eine fremde Macht gegenüber. Aber inzwischen ist uns, den Menschen im einundzwanzigsten Jahrhundert, das so völlig fremd vielleicht auch nicht mehr. Das abgeschlossene, souveräne Subjekt, das allein Herr im eigenen Haus ist, wurde unter anderem durch Sigmund Freuds und George Herbert Meads Identitätsverständnis nachhaltig desillusioniert. Das schlägt inzwischen auch im Lebensgefühl – manchmal vielleicht schon zu stark – durch. Jeder von uns trägt – das wissen wir – auch Fremdbestimmendes in sich, mit dem er sich ständig auseinander zu setzen hat. In die Identität gehört neben der Selbstbestimmung auch das Fremdbestimmende.6 Wer einer sein kann und sein will, muss er erst in konkreten Situationen herausbekommen. Insofern ist uns Newmans Konflikt Selbstbestimmung versus Providenz so völlig fremd nicht.

Die Zeit der anglikanischen Reformbewegung und ihres Scheiterns

Die akademische Karriere war gut auf den Weg gebracht, als sich schon wieder ihr Ende, aber langsam auch ein neuer vielversprechender Horizont abzeichnete. Die Zeit um das Jahr 1827 war im Leben Newmans so etwas wie eine Achsenzeit. Seine ehrenvolle Bestellung als Examinator an der Universität musste er wieder zurückgeben, weil er einen physischen Zusammenbruch erlitt. Die von Newman und den befreundeten Fellows am Oriel-College beim neuen Vorsteher eingeforderte Studienreform in Gestalt eines reformierten Tutorats wurde effektiv zum Scheitern gebracht. Zeitlich parallel betraf ihn eine schwere wirtschaftliche Belastung und vor allem der Tod seiner jüngsten Schwester Mary. Der theologische Liberalismus, dem er durch seinen Lehrer Whately am Oriel nahe gekommen war, schien all dem nicht gewachsen gewesen zu sein. Dazu kam als positive Herausforderung das intensive Studium der Kirchenväter und die Freundschaft mit Richard Hurrell Froude. Mit Froude eröffnet sich für Newman ein neuer Horizont auf, in dem sich eine kritischere Distanz zu den reformatorischen Kirchen, eine Bewunderung der römischen Kirche, Distanz zum politischen und theologischen Liberalismus und eine asketische, vom Breviergebet bewegte Spiritualität abzeichneten. Dazu kam vor allem, dass Froude eine freundschaftliche Nähe zwischen John Keble und Newman vermittelte. Aus der Perspektive einer akademischen Studienreform entwickelte sich langsam die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kirchenreform. 1830 gab Newman in einer Predigt seiner Ahnung Ausdruck, was ihm bevorstehen könnte: „Abraham gehorchte dem Ruf und machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, wohin. So werden auch wir, wenn wir der Stimme Gottes folgen, Schritt für Schritt in eine neue Welt geführt, von der wir vorher keine Ahnung gehabt haben. Sein gütiges Walten über uns geschieht so: Er gibt in Weisheit nicht alles auf einmal, sondern nach Maß und Zeit … Wir müssen von vorn beginnen“ (DP VIII, 198f.).

Von dem kranken Hurrell Froude und seinem Vater eingeladen unternahm Newman mit diesen zusammen 1832/33 eine Mittelmeerreise. Als Hurrell und sein Vater nach England zurückkehrten, konnte sich Newman noch nicht von Süditalien und Sizilien trennen. Beim Ausbruch einer Epidemie wurde er lebensgefährlich krank. Da spürte er in einer auch für ihn bedrohlichen Situation, in der „rings um ihn die Leute starben“, eine unerledigte Aufgabe, die in England auf ihn wartete. Oft berichtete er später: „Ich glaubte, Gott habe noch ein Werk für mich zu tun“ (SB 153; LD III, 314). An der Dringlichkeit der sich abzeichnenden Aufgabe erlebte er eine deutliche Berufung. Die Reform seiner Kirche wartete auf ihn. Aus dieser Sicht nimmt sich sein einsamer Ausreißer in Sizilien als Eigenwilligkeit aus, als „Kampf gegen Gott“, als eine Verweigerungshaltung vergleichbar dem Verhalten Sauls (SB 152; CK 314–318).7 In zahlreichen Briefen und Berichten kam Newman auf dieses Schwellenerlebnis zurück.8 Es bezeichnete für ihn einen biographischen Einschnitt und einen kirchenreformerischen Ausgangspunkt, dessen er sich bis ins Alter hinein immer wieder versichern musste. Die Providenz, das innere Motiv seiner Lebensgeschichte, gewann dabei einen neuen Akzent und eine Konkretion über die innerseelische Auseinandersetzung zwischen Eigenwille und Hingabe an den göttlichen Willen hinaus. Providenz heißt nun vor allem Führung in eine unabsehbare Zukunft. Das literarische Zeugnis, das er auf der Heimreise verfasste und mit dem er sich paradoxerweise in die anglikanische Frömmigkeitsgeschichte einschrieb, beginnt:

„Führ liebes Licht, im Ring der Dunkelheit
führ du mich an …
du führ an
den Weg zu schauen, zu wählen war mir Lust
doch nun: führ du mich an.“9

Hochsensibilisiert zuhause angekommen und am folgenden Sonntag von John Kebles Predigt entzündet bekam das Werk, das auf ihn wartete, Umrisse. Eine Lawine der „Tracts for the Times“ rollt los. In einem seiner Vorträge reflektierte er seinen spirituellen Zustand in Hinsicht auf die providentielle Führung und fragte sich: „Wie viel muss man auf Vertrauen hin annehmen, um etwas zu erreichen! Wie wenig kann man verwirklichen, außer mit Anstrengung des Willens; wie viel Freude kommt dadurch, dass man sich fügen kann, zustande!“ (Proph. Off. 400)

Vor allem in den Predigten dieser Zeit suchte er seine Providenzerfahrung für sich und seine Hörer aufzuarbeiten. Eine seiner wunderbaren Predigten zum Thema „Gott führt jeden“ knüpft an Gen 16,13: „Darum rief Hagar, als ihr der Engel in der Wüste erschien, zum Herrn: ‚Du, o Gott, siehst mich‘“ (DP III, 127–141). Newmans Providenzerfahrung war eine Erfahrung Aug in Auge. Davon soll noch die Rede sein. Providenz und Berufung stehen in engem Zusammenhang. Dies meditiert er an 1 Sam 3,10: „Der Herr kam und stand vor ihm und rief: ‚Samuel Samuel!‘ Da antwortete dieser: ‚Rede, Herr, dein Diener hört.‘“ Dementsprechend suchte Newman die Berufungsgeschichten der Evangelien konkret im Leben seiner Hörer zu festzumachen: „Jene, die ein frommes Leben führen, erfahren, wie ihnen dann und wann Wahrheiten mit Macht vor Augen treten, die sie vorher nicht erkannten oder deren Erwägung sie nicht für notwendig erachteten“ (DP VIII, 23–38). Berufung und Providenz sind für Newman nicht weltenthoben und geschichtslos. Gott stößt einen sozusagen mit der Nase auf etwas, was man zuvor in seinem Leben übersehen hat.

Nachdem sich die Anglikanische Kirche in ihrer Gebundenheit an den englischen Staat bewegungsunwillig oder -unfähig gezeigt hat, nachdem auch ein Teil der Oxfordbewegung dem Tract 90 nicht mehr folgen wollte, nachdem für Newman die „Via media“ als nicht gangbar und unter kirchengeschichtlicher Perspektive als falsch einsichtig geworden war und er schließlich die Katholizität und Apostolizität nur noch in der römischen Kirche finden konnte, spitzte sich für Newman die persönliche Situation zu. „Am Schluss habe ich mich feierlich Gott hingegeben, dass er über mich verfüge, wie er will, dass er aus mir mache, was er will, dass er mir auferlege, was er will“ (SB 288f.). Zu den Freunden entstand Distanz. Vielleicht am ungeschütztesten und vertrauensvollsten hatte er bis zuletzt im Briefverkehr mit Keble sein Erschrecken geäußert, sein Erschrecken vor den verborgenen Wegen der Providenz, sein Erschrecken vor der Ungeborgenheit, in die diese Providenz ihn geführt hatte (CK 225, 301, 315, 317; ähnlich an Faber ebd. 253; vgl. sein Gebet um Klärung CK 314–318). Er erklärte sich zu allem bereit, was die Providenz zeigt (AM II, 343).

Die katholische Zeit

Was der Übertritt in eine andere Glaubensgemeinschaft im Zeitalter konfessionalistischer Milieus für einen Konvertiten bedeutete, davon kann man sich vom Standort eines pluralistischen Individualismus aus kaum eine zureichende Vorstellung machen. Für Newman war der Abbruch mancher Freundschaft besonders schmerzhaft. Selbst das Gespräch mit John Keble versiegte. Newman fand sich in einer anderen Welt; er hatte sich an andere Erwartungen, an andere Umgangsformen, an andere Instanzen zu gewöhnen. Auch die kirchlichen Probleme stellten sich in der katholischen Binnensicht anders dar als vorher in der anglikanischen Außensicht. Schmerzhaft war für Newman, dass sich gerade diejenigen, die den gleichen Weg gegangen waren, nun in der katholischen Kirche auf dem ultramontanen Flügel eingeordnet hatten und nun seine Gegner geworden waren.

Newman nahm sich Zeit für eine Neuorientierung. Zwar stellte er fest: „dass man mir noch nicht gerecht geworden ist. Aber ich muss all das ihm überlassen, der weiß, was tun mit mir“ (LD XII, 32).10 Seine Weggefährten suchte er zu überzeugen: „Wir sind gewiss in die Kirche Gottes zu etwas berufen worden und nicht für nichts. Lasst uns abwarten und fröhlich sein und sicher, dass für uns etwas Gutes bestimmt ist und dass wir zu etwas nützlich sein sollen“ (LD XI, 96).11 Um den richtigen Ort zu finden, ging er nach Rom und unterzog sich so demütigenden Prozeduren wie einem theologischen Examen. Nach der Rückkehr zeichneten sich in England indes Aufgaben ab, die ihm durchaus angemessen erschienen. So die Aufgabe, in Irland eine katholische Universität zu gründen. Das kam seinen elementaren Interessen entgegen. Bei den irischen Bischöfen allerdings fand er mit seinen Vorstellungen von einer weltoffenen katholischen Universität wenig Verständnis.12 Die Entwicklung der Universität wurde blockiert, bis Newman erschöpft vom Rektorat zurücktrat. Seine Ernennung zum Bischof wurde in Rom hintertrieben. Obgleich er zum Vorsteher aller Oratorianer in England ernannt war, bildete sich im Londoner Oratorium eine „Fraktion“ und suchte sich, dank römischer Kontakte erfolgreich, unabhängig zu machen. Das Projekt einer englischen Bibelübersetzung wurde Newman anvertraut. Aber die englische Bischofskonferenz ließ es wieder fallen. Den „Rambler“, eine Zeitschrift selbstbewusster katholischer Laien, suchte Newman als Herausgeber im Konflikt mit den Bischöfen zu retten; doch er wurde von einem Bischof an der römischen Kurie der Häresie verdächtigt. In der katholischen Kirche schienen sich alle Möglichkeiten verschlossen zu haben. Hatte Gottes Providenz ihm keine Aufgabe mehr zugedacht? „Ist es nicht merkwürdig“, so wunderten sich selbst seine Gegner, „dass Father Newman in keiner seiner Unternehmungen Erfolg hat?“ (LD XVII, 559) Newmans Herz hing an dem Plan, in Oxford ein Oratorium zu gründen, „dem einzigen Platz, wo ich der katholischen Sache einen Dienst erweisen könnte“ (SB 347). Auch dieser Plan wurde im letzten Moment von Rom aus verhindert. Newman sollte von Oxford ferngehalten werden. Er sei Englands „gefährlichster Mann“13. Die Ungleichzeitigkeit zwischen dem katholischen Milieu und den vorgreifenden Einsichten Newmans, die systemisch entstellten Umgangsformen, die bestellten Interventionen aus Rom, die „Wolke des Verdachts“14 über ihm und persönliche Unzulänglichkeiten ließen es kalt und einsam werden um ihn. Im Tagebuch schrieb er: „Seit ich katholisch bin, habe ich mich stets angestrengt, habe gearbeitet und mich abgemüht, letzten Endes, wie ich glaube, nicht für irgendeinen Menschen auf Erden, sondern für Gott im Himmel, aber doch mit einem lebhaften Wunsch, denen zu gefallen, die mich an die Arbeit setzten. Nächst dem souveränen Urteil Gottes, habe ich, wenn auch in einer anderen Ordnung, ihr Lob gewünscht. Und doch habe ich es nicht nur nicht erlangt, sondern bin auf verschiedene Weise immer nur geringschätzig und unfreundlich behandelt worden. Weil ich mich nicht vorgedrängt habe, weil es mir nicht im Traum eingefallen ist, zu sagen: ‚Seht da, was ich tue und getan habe‘ – weil ich leeres Geschwätz nicht weiter erzählt, den Großen nicht geschmeichelt und mich nicht zu dieser oder jener Partei bekannt habe, bin ich eine Null. Ich habe keinen Freund in Rom, und in England habe ich nur gearbeitet, um missdeutet, verleumdet und verhöhnt zu werden. Ich habe in Irland gearbeitet und immer wieder wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Anscheinend war vieles ein Fehlschlag, und, was ich gut mache, wurde nicht verstanden.“ (SB 326)

Früher war Newman sich gewiss, dass Gott „jeden an eine bestimmte Stelle mit bestimmten Aufgaben gestellt hat“ (BG 42–46). Jetzt sah er sich auf ein „Nichtstuerleben“ abgestellt, ein Leben ohne Aufgabe, ohne erkennbare Berufung (SB 339). Die Providenz schien mit ihm nichts mehr vor zu haben. „Otium cum indignitate“, Müßiggang in Würdelosigkeit nennt er das (SB 343). „Heute morgen beim Aufwachen überfiel mich die Empfindung, nur den Platz zu versperren, so stark, dass ich mich nicht dazu bringen konnte, unter meine Dusche zu gehen. Ich sagte mir, was nützt es denn, seine Kraft zu erhalten oder zu vermehren, wenn nichts dabei herauskommt. Wozu für nichts leben? … Was tue ich eigentlich für irgendein religiöses Ziel?“ (SB 329f.) „Vanitas vanitatum“, völlige Sinnleere (SB 342). Er selber zitiert hier Kohelet. Das Leben lässt keine Providenz mehr erfahrbar werden. Die Rede davon versiegt in diesen Jahren. Er trifft eine merkwürdige Unterscheidung: „Wie war doch mein Leben einsam und grämlich, seit ich katholisch geworden bin. Hier war der Gegensatz – als Protestant empfand ich meine Religion grämlich, aber nicht mein Leben, und nun, als Katholik, ist mein Leben grämlich, aber nicht meine Religion.“ (SB 330) Die schonungslose, desillusionierte Offenheit eines Konvertiten und eines Theologen, der sein Leben unauflöslich an Religion und Kirche gebunden hatte.

Die ungeheure Energie, mit der Newman zu seiner „Apologia pro vita sua“ ausholte, war nicht nur gegen die Polemik Kingsley gerichtet. Er hatte seine Selbstachtung wiederzugewinnen. Es war nach der Wucht des Falls der Rückprall am Tiefpunkt (SB 338). Die Apologie war der „Wendepunkt“. Die wiedergewonnene Gunst der Protestanten und die Zustimmung des katholischen Klerus gab ihm den Mut, aufs Neue nach Aufgaben auszuschauen (SB 338f.), obgleich die maßgeblichen Leute innerhalb der katholischen Kirche weiterhin von seinen Talenten keinen Gebrauch zu machen wussten.15 Der Akzent, den er seiner Rede von der Providenz nun unterlegt, ist allerdings ein anderer geworden: ein anderer als in der Zeit, in der er seine akademische Karriere im Auge hatte, ein anderer als in der Zeit, in der ihn die Kirchenreform auf ungangbare Wege führte. Er sieht nun (1869) schärfer das Paradox, das in der Behauptung von Gottes Providenz für sein Leben liegt. „Die Vorsehung Gottes war mein ganzes Leben hindurch wunderbar über mir. Da ist etwas, was mir heute morgen als ein Widerspruch aufgefallen ist, den ich schon oft in seinen Einzelheiten durchdacht hatte, ohne den Kontrast zu bemerken, in dem diese Einzelheiten zueinander stehen. Ich meine, dass meine Leiden immer von denen kamen, denen ich geholfen hatte, und meine Erfolge von meinen Gegnern.“ (SB 346f.) Und er bemerkt, dass es seine Krankheiten waren, aus denen schließlich Gutes geworden war (SB 348).

In seiner „Zustimmungslehre“ kommt Newman gelegentlich des Illative-sense auf Providenz zu sprechen. Er ist, wenn man von der festgefügten Ordnung der Dinge ausgeht, bestürzt, dass Gottes „Oberaufsicht über die lebendige Welt eine so indirekte, und sein Handeln ein so verborgenes ist“ (Z 278). Und dann: „Was dem Geist so stark und so peinlich auffällt, ist seine Abwesenheit (wenn ich so sagen darf) von seiner eigenen Welt. Es ist ein Schweigen, das redet. Es ist, wie wenn andere von seinem Werk Besitz ergriffen hätten.“ (Ebd.) Mit diesen Worten Newmans ist das Prekäre auch unserer Lage getroffen, wenn wir heute im 21. Jahrhundert das Wort Providenz im Mund führen. Es ist auch unsere Peinlichkeit, die er spürt: „Warum ist es ohne Absurdität möglich, seinen (Gottes H.P.S.) Willen, seine Attribute, seine Existenz zu leugnen?“ (Z 279) Und ebendort: „Er aber ist im Gegenteil in ganz besonderer Weise ‚ein verborgener Gott‘ (Jes 45, 15).“ Die Schöpfung ist in einen so entfernten Selbstand, in eine solche Autonomie entlassen, dass eine Entsprechung von Leben und Religion, von Wirklichkeit und theologischem Begriff kaum mehr sichtbar ist. Im Leben, auch im Leben der Kirche, ist kaum mehr ein Ort auszumachen, wo das noch greift, wovon mit dem Wort Providenz die Rede ist. Diese Entfernung leuchtet herein in seine Erfahrung, die er nun mit der Katholischen Kirche macht. Er musste lernen, für die Rede von der Providenz in ihrer Zerbrechlichkeit und Bezweifelbarkeit auf neue Weise die richtige Sprache zu finden.

Dankbarkeit und Selbstachtung

In Newmans späten Jahren gewinnt sein Glaube an Gottes Providenz nochmals einen anderen Ton. In einem Tagebucheintrag vom 30. Oktober 1867 erinnert er sich an ein Gespräch mit Kardinal Barnebò, dem Präfekten der vatikanischen Propagandakongregation. Mit ihm lag er unter anderem wegen der Gründung des Oratoriums in Oxford im Konflikt. Die Tagebuchnotiz lautet: „Ich habe zu Kardinal Barnebò gesagt: ‚Viderit Deus‘, Gott habe ich meine Sache anheim gestellt … und wie der allmächtige Gott 1864, nach Ablauf von 20 Jahren, in den Augen der Protestanten mein Verhalten gerechtfertigt hat (durch die Apologia H.P.S.), so wird es am Ende auch mit meinem katholischen Lebensweg ergehen, wenn ich nicht mehr da bin, Deus viderit! Diese Worte gebrauchte ich nicht leichthin, wenn sie sich auch anscheinend im Geist Kardinals Barnebòs sehr ungünstig festgesetzt zu haben scheinen – ich denke auch im Traum nicht daran, sie zu widerrufen. … Ich meine, Vertrauen auf Vorgesetzte irgendwelcher Art kann bei mir niemals mehr erblühen“ (SB 340). „Viderit Deus“: Das tönt aus der souveränen Distanz des Glaubens gegenüber jeglicher menschlichen, auch kirchlichen Instanz. „Viderit Deus“: Das entzieht den obrigkeitlichen Anordnungen ihre vorgebliche Sicherheit. Es klingt in seiner Gelassenheit fast drohend. „Viderit Deus“ meldet aber auch der eigenen Meinung gegenüber denselben Vorbehalt an: „… Aber dann denke ich: Was geht mich das an? Gott wird vorsorgen – er weiß, was das Beste ist. Ist er für die Kirche weniger besorgt, weniger imstande, sie zu verteidigen als ich es bin? Warum soll ich mich darüber grämen? Was bin ich denn? Meine Zeit ist vorüber. Ich bin passé. Ich mag zu meiner Zeit etwas geleistet haben. Aber jetzt kann ich nichts mehr tun. Andere sind an der Reihe. … Für mich genügt es jetzt, mich auf den Tod vorzubereiten, denn auf mich wartet jetzt nichts anderes mehr, nichts anderes ist mehr zu tun. Und er, der mein ganzes Leben lang so wunderbar bei mir gewesen ist, wird mich auch jetzt nicht verlassen“ (SB 351). „Viderit Deus“: Es kann Gott überlassen bleiben.

2   Dieses und das folgende Kapitel basieren auf dem Artikel: Die Rede von der Providenz. Newmans Einweisung ins Unverfügbare für ein Leben in der Moderne, in: Roman A. Siebenrock / Wilhelm Tolksdorf (Hg.), Sorgfalt des Denkens, Internationale Cardinal-Newman-Studien XIX. Folge, Peter Lang Frankfurt 2006, 107–126.

3   Newmans Werke werden zitiert nach den Siglen wie bei Günter Biemer, Die Wahrheit wird stärker sein. Das Leben Kardinal Newmans, Internationale Cardinal-Newman-Studien XVII. Folge, Peter Lang Frankfurt 2000, 12–17:
A: Apologia pro vita sua, Ausgewählte Werke Newmans I, Grünewald Mainz 1951; Z: Entwurf einer Zustimmungslehre, Ausgewählte Werke VII ebd. 1960; SB: Selbstbiographie nach seinen Tagebüchern, Schwabenverlag Stuttgart 1959; AM I–II: Anne Morley (Ed.), Letters and Correspondence of J.H. Newman during his Life in the English church, London 1891; LD: Letters and Diaries of J.H. Newman, London 1961; DP I–XII: Deutsche Predigtausgabe I–XI, Schwabenverlag Stuttgart 1948–1962; CK: Correspondence of J. H. Cardinal Newman with John Keble and others, Birmingham Oratory 1917; Proph Off: Lectures on the prophetical Office of the church, London-Oxford 1838; BG: Betrachtungen und Gebete, Kösel München 1952; Mir: Two Essays on Biblical and Ecclesiastical Miracles, London 1870; PhNb: The Philosphical Notebooks of J.H. Newman, Birmingham Oratory 1970; U: Vom Wesen der Universität, Ausgewählte Werke V, Grünewald Mainz1960; ECH I–II: Essays Critical and Historical, London 1871.

4   Vgl. dazu den Begriff „neodurkheimisch“ in: Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Suhrkamp Frankfurt a. M. 2009, 458f.

5   Dass die spätere, sogenannte „Frühbekehrung“ zum Evangelikalismus von 1816, also mit fünfzehn Jahren keinen allzu großen Bruch bedeutet hat, ist einer Tagebuchnotiz zu entnehmen: Es habe sich eher um eine Rückkehr zu früheren Prinzipien gehandelt (SB 223).

6   Vgl. Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990, insbes. 57–79.

7   Günter Biemer, Die Wahrheit wird stärker sein, Internationale Cardinal-Newman-Studien XVII. Folge, Frankfurt a. M. 2000, 97f.

8   G. Biemer, Die Bedeutsamkeit von Newmans Sizilien-Erfahrung für die Selbstinterpretation der individuellen Heilsgeschichte seines Lebens, in: Rosario La Delfa e Alessandro Magno a cura, Luce Nella Solitudine. Viaggio e crisi di Newman in Sizilia 1833, Palermo 1989, 35–49.

9   G. Biemer, Die Wahrheit wird stärker sein [Fn. 6], 103.

10  Zitiert nach der Übersetzung in G. Biemer, Wahrheit [Fn. 6], 233.

11  Ebd. 221.

12  Ebd. 288.

13  Ebd. 368.

14  Ebd. 324.

15  Biemer, Sizilien [Fn. 7], 44.

2.   Die Rede von der Providenz und im Kontext unserer Zeit

Naturgesetze und die Providenz

Die Frage, ob das, was ein Leben im 19. Jahrhundert umgetrieben hat, im 21. Jahrhundert noch jemanden tangiert, ist bis jetzt offen geblieben. Sie soll nun explizit gestellt werden: Hat die Rede von der Providenz heute irgendeine Chance, verstanden zu werden? In welchem Kontext hat sie eine solche Chance? Und was bringt sie in diesen Kontext ein? Ich nehme an, dass die wesentlichen Fragen, die damals Newman umgetrieben haben, uns immer noch nicht losgelassen haben, sondern sich auch heute noch stellen.

Der Widerspruch zwischen den ausnahmslos gültigen, unverletzlichen Naturgesetzen und den biblischen und kirchlichen Wundern war eines der Argumente, mit denen die neuzeitliche Religionskritik der französischen und englischen Aufklärung und dann in der deutschen Aufklärung mit Reimarus angetreten ist. Dahinter stand von den Erfahrungen der Naturkatastrophen herkommend das Interesse, die Natur beherrschbar zu machen. Newman sieht wohl, dass für die Naturwissenschaften mit der Möglichkeit von Gottes Interventionen, mit seinen Wundern, die Zuverlässigkeit der Naturgesetze aufgehoben zu sein scheint (Mir 4). Ist also die ausnahmslose Geltung der Naturgesetze mit der Providenz zu vereinbaren? Drei typisch analytische Argumente trägt Newman vor. Erstens: Die Ausnahmslosigkeit der Naturgesetze ist eine apriorische Präsumption, die erst noch einer empirischen Verifizierung bedarf. Zweitens: Eine solche Präsumption unterwirft die Natur der Herrschaft menschlicher Vernunft. Deshalb muss einem solchen Gebrauch der Vernunft der Totalitätsanspruch entzogen werden (PhNb 139–149). Drittens: Was in der Sicht der naturwissenschaftlichen Systeme unverträglich erscheint, braucht in einer anderen Sicht, etwa in der Sicht des alltäglichen praktischen Lebens oder der göttlichen Gnadenordnung nicht so unverträglich erscheinen (Mir 4). Das heißt: Die Naturgesetze und die Interventionen Gottes, also seine Vorsehung, brauchen sich so gesehen nicht auszuschließen (Z 82). Sie gehören verschiedenen Aspekten an. Von aktueller Bedeutung scheint mir besonders Newmans Kritik des Totalitätsanspruchs der verfügenden, also „technischen“ oder „instrumentellen“ Vernunft zu sein. Auf sie darf die Wirklichkeit nicht reduziert werden.

Selbstbestimmung und Providenz

Im 18. und 19. Jahrhundert tritt tendenziell die moralische Autonomie mit dem Glauben an die göttliche Providenz in eine zunehmend verschärfte Konkurrenz.16 Die Wirklichkeit im Ganzen hat sich nun vor dem Tribunal der autonomen Vernunft zu rechtfertigen. Das rational nicht durchdringbare Schicksal und in einem damit auch Gottes Providenz können vor dem Richterstuhl des rationalen Bewusstseins nicht mehr bestehen. Anders als noch bei Leibniz lässt sich angesichts des Leidens seiner Kreatur die Gerechtigkeit Gottes und dann seine Existenz überhaupt nicht mehr vor dem Richterstuhl der menschlichen Vernunft rechtfertigen. Sie hat keine Glaubwürdigkeit. Das hat zur Folge, dass Gottes Vorsehung mit ihrer Rolle als Klägerin, als Anwältin und als Richterin des Menschen im Gange der Weltgeschichte nun auch die Rolle der Verantwortlichen und Angeklagten verliert. Gott wird von der Verantwortung für die Naturund Geschichtskatastrophen entlastet, entlastet jedoch zu Lasten des menschlichen Omnipotenzanspruchs. Um es mit Stendhal (Marie-Henri Beyle) zu sagen: Gott wird dadurch entlastet, dass es ihn nicht gibt. So fällt die Verantwortung nun allein auf den Menschen.17 Freiheit und Vernunft beanspruchen, den Raum des logisch Möglichen total ausfüllen zu können. Feuerbach fordert polemisch in seinem Brief an Hegel: „Es wird und muss endlich zu dieser Alleinherrschaft der Vernunft kommen.“18 Ein Raum jenseits dieser Alleinverantwortung des Menschen scheint der Providenz nicht mehr zugestanden werden zu können.