image

KARIN SEETHALER

Die Kraft der Kontemplation

In der Stille Heilung finden

KARIN SEETHALER

Die Kraft der Kontemplation

In der Stille Heilung finden

Mit einem Vorwort von Franz Jalics

image

© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de

Umschlag: Peter Hellmund (Foto: plainpicture)
Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de)
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN
978-3-429-03638-6 (Print)
978-3-429-04730-6 (PDF)
978-3-429-06144-9 (ePub)

Inhalt

Vorwort

Annäherung an das Thema

I.Grundlagen

1.Begrifflichkeiten

1.1Kontemplation

1.2Christliche Meditation

1.3Gegenwart

1.4Wahrnehmen

2.Ursprünge

3.Was die Meditation trägt

II.Meditationspraxis

1.Die äußeren Gegebenheiten

2.Die Wahrnehmung der Hände

2.1Mögliche Missverständnisse

3.Meditieren mit einem Wort: Das „Ja“

3.1Mögliche Missverständnisse

4.Der Name Mariens

4.1Mögliche Missverständnisse

5.Der Name Jesu Christi

5.1Mögliche Missverständnisse

III.Kontemplative Haltungen und ihre heilenden Auswirkungen

1.Achtsame Haltung: Aufmerksam sein für das, was ist

1.1Die konkreten Schritte, die in eine achtsame Haltung führen

1.2Ein Beispiel

1.3Die Gefahr, sich von einem beständigen Zeit- und Leistungsdruck bestimmen zu lassen

1.4Mögliche Missverständnisse

1.5Heilende Auswirkungen

2.Zugewandte Haltung: Ausrichtung auf Gott

2.1Die konkreten Schritte, die in die Ausrichtung auf Gott führen

2.2Ein Beispiel

2.3Die Gefahr, beständig nur um sich selbst zu kreisen

2.4Die zwischenmenschlichen Beziehungen als Spiegelbild für meine Beziehung zu Gott

2.5Mögliche Missverständnisse

2.6Heilende Auswirkungen

3.Vergebende Haltung: Bereit sein für Versöhnung

3.1Wem muss ich verzeihen?

3.2Die konkreten Schritte des Versöhnungsweges

3.3Ein Beispiel

3.4Was die Bereitschaft zur Versöhnung blockieren kann

3.5Mögliche Missverständnisse

3.6Heilende Auswirkungen

4.Leidensbereite Haltung: Leidvollem begegnen und es tragen

4.1Der entscheidende Unterschied

4.2Was bedeutet „mein Kreuz tragen“ konkret in der Meditation?

4.3Was geschieht während der Meditation?

4.4Wie ich dem Leidvollen in der Meditation begegne, damit Wandlung geschehen kann

4.5Ein Beispiel

4.6Was den Heilungsweg blockieren kann

4.7Mögliche Missverständnisse

4.8Heilende Auswirkungen

IV.Was die kontemplative Lebensweise stärkt

Schlussbemerkung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Heute wird das Leben immer schneller und wir leben immer hektischer. Die Kirche steht vor der Aufgabe, die Menschen in ihrer Sehnsucht ernst zu nehmen und heilsame Wege aufzuzeigen, wie sie in der Zerrissenheit der äußeren Welt zu sich selbst und zu ihrem Schöpfer finden können.

Der kontemplative Weg kann uns immer wieder zu unserer Mitte führen, wo Einfachheit wohnt, wo Friede herrscht und die Liebe entspringt. Er ist ein Verwandlungsweg, der den Menschen zu seiner eigenen Tiefe führt. Es geht um die Begegnung mit sich selbst und die Begegnung mit dem Geheimnis, dass Gott den Menschen liebt, so wie er ist.

Karin Seethaler beschreibt diesen schlichten Weg der Kontemplation in einer leicht verständlichen Sprache. Die Missverständnisse, die auftreten können, werden beleuchtet und die segensreichen Auswirkungen veranschaulicht. Sie führt sehr passend viele Weisheiten von großen Menschen der Weltliteratur an. Es ist ein empfehlenswertes Buch für Menschen, die den kontemplativen Weg gehen, und für jene, die auf der Suche sind.

Franz Jalics

Annäherung an das Thema

Uns traf mehr als ein gewöhnlicher Verlust: „Wir verloren unseren Weg.“

(T. S. Eliot)

Dieser Satz berührt mich auf eigentümliche Weise. Wahrscheinlich weil er meine Erfahrung auf der Suche nach dem richtigen Weg so schlicht und doch so treffend zum Ausdruck bringt. Mit dem Verlust des Weges meine ich hier keinen äußeren, sichtbaren Weg, sondern vielmehr den inneren Weg. Viele Jahre ging ich mit einer inneren Orientierungslosigkeit durchs Leben, auch wenn äußerlich alles in Ordnung zu sein schien. Trotz meiner Bemühungen, im Glauben Halt zu finden, war ich von einer inneren Unrast getrieben. Widersprüchliche und schwankende Gefühle machten mir zu schaffen. Es fehlte mir der innere Kompass, der mir zu zeigen vermochte, wie ich den Schwierigkeiten des Lebens begegnen könnte. Mein guter Wille sowie meine guten Vorsätze, christlich zu leben, wurden durch Konflikte und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Freundeskreis schnell erschüttert und brachten den Boden unter meinen Füßen immer wieder ins Wanken. Da ich davon ausging, dass religiöse Gefühle der Gradmesser eines lebendigen Glaubens seien, überkamen mich Glaubenszweifel und eine gewisse Resignation, als mich z. B. religiöse Texte nicht mehr wirklich berührten. Ich schlitterte in eine Glaubenskrise.

Die Wende kam mit meinen ersten kontemplativen Exerzitien. Hier lernte ich die christliche Meditation kennen, die mich durch ihre Einfachheit und Unmittelbarkeit faszinierte. Ganz herzlich möchte ich an dieser Stelle Pater Franz Jalics SJ dafür danken, dass er mir diesen inneren Weg gezeigt und mich auf ihm begleitet hat. Inzwischen sind mehr als 25 Jahre vergangen und seit vielen Jahren begleite ich nun selbst Menschen auf dem kontemplativen Weg. Es gibt meinem Leben einen tiefen Sinn, die Gebetsweise, die mir im eigenen Leben Halt und Orientierung ist, weiterzugeben und dabei immer wieder neu zu erfahren, wie Gott in der Stille heilend wirkt.

Viele Menschen sind heute auf der Suche nach spirituellen Erfahrungen. Jedoch sind es nicht mehr Traditionen und Belehrungen, die die Menschen an eine Religion binden, sondern persönliche Erfahrungen, die überzeugen. Der große Theologe Karl Rahner gab folgende Prognose für die Christen ab: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Um Erfahrungen machen zu können, die überzeugen, braucht es eine Orientierung – das Aufzeigen eines konkreten Weges, der heute im Alltag der Menschen zeitgemäß gelebt werden kann. Kirchennahe wie Kirchenferne suchen diese Anleitungen oft in den östlichen Religionen. Der Schatz der kontemplativen Tradition des Christentums bleibt hingegen oft unerkannt. Mit diesem Buch möchte ich ihn und seine in ihm liegende heilende Kraft ans Licht heben.

In meinen Ausführungen werde ich zunächst auf Begrifflichkeiten eingehen, die Ursprünge der christlichen Meditationsweise aufzeigen und schließlich auf die konkrete Meditationspraxis eingehen. Unser Lebensgefühl ist heute oftmals von der Tendenz geprägt, möglichst schnell und zügig voranzukommen. In den Meditationskursen mache ich die Erfahrung, dass sich dieses Bestreben auch in der Meditation zeigt. Hier kann und muss der Mensch jedoch nichts beschleunigen. Im Gegenteil, überspringt man hier kleine, aber wesentliche Schritte, um möglichst schnell zum „Eigentlichen“ zu kommen, gerät der meditative Weg ins Stocken. Es ist mir deshalb ein Anliegen, in kleinen konkreten Schritten zu beschreiben, wie man in die Grundhaltungen der Kontemplation hineinfinden kann. Mit diesen eingenommenen Haltungen öffnet sich der Mensch für die Kraft der Kontemplation. Die heilenden Auswirkungen beschreibe ich abschließend zu jedem Kapitel. Die Grundhaltungen sind jedoch nicht isoliert voneinander zu sehen. Sie bauen aufeinander auf, greifen ineinander über und ergänzen sich.

In der Begleitung vieler Menschen bin ich aber auch hellhörig für verdeckte Schwierigkeiten geworden, die die Kraft der Meditation blockieren können. Was in der Stille geschieht und wie sich der Mensch innerlich während der Meditation verhält, ist äußerlich nicht ersichtlich. Die Gefahr ist gegeben, dass man sich während der Meditation im Gestrüpp von Gedanken, Vorstellungen und inneren Bildern verliert und dass man letztlich nur um sich selbst kreist. Die beschriebenen Missverständnisse mögen dazu beitragen, diese Stolpersteine auf dem meditativen Weg zu erkennen, sie zu umgehen und so zu einer klaren Orientierung zu finden. Abschließend gebe ich Hinweise, was für die kontemplative Lebensweise stärkend wirkt.

I.Grundlagen

1.Begrifflichkeiten

1.1Kontemplation

Kontemplation ist ja nichts anderes als ein geheimes, friedliches und liebendes Einströmen Gottes.

(Johannes vom Kreuz)

Kontemplation ist die Bezeichnung für den christlichmystischen Weg. Unter Mystik ist die angestrebte Vereinigung mit dem göttlichen Sein („unio mystica“) gemeint, die sich auf diesem Weg nicht über verstandesmäßige Erkenntnisse, sondern über innere Erfahrungen und das unmittelbare Erleben erschließt. Kontemplation wird als ein Geschenk Gottes betrachtet, über das der Mensch weder bestimmen noch verfügen kann. In einer Haltung des Geschehen-Lassens und des Auf-sich-wirken-Lassens nimmt er auf, was ist, und lässt dabei Wille, Verstand und Gefühl zur Ruhe kommen. Viele schließen daraus, dass die Kontemplation etwas Passives sei. Tatsächlich nimmt man aber keine passive, sondern eine aufnahmebereite Haltung ein, bei der man hellwach, mit lebendigem Interesse und ununterbrochen dabeibleibt und aufnimmt, was im Hier und Jetzt geschieht.1 Die achtsame, Gott zugewandte, versöhnungs- und leidensbereite Haltung ebnet den Weg der Kontemplation.

Das aus dem Lateinischen stammende Wort „Kontemplation“ setzt sich aus den Silben „con“ (mit, zusammen) und „templum“ (ein umgrenzter heiliger Bezirk) zusammen. In der Kontemplation geht es darum, selbst zu diesem heiligen Bezirk, zur Wohnung Gottes, zu werden. Die Existenz dieses heiligen Bezirks wird von vielen Heiligen bezeugt und mit unterschiedlichen Begriffen benannt. So spricht Paulus vom „Geist Gottes, der in uns wohnt“ (1 Kor 3,16), Teresa von Avila von der „Seelenburg“, Meister Eckhart vom „Seelenfunken“. Auf diesen Seelenfunken, auf den Geist Gottes, der im Menschen wohnt, richtet sich der Meditierende aus.

Die Bezeichnungen für die kontemplative Gebetsweise sind unterschiedlich: das kontemplative Gebet, das Jesusgebet, das Herzensgebet, das immerwährende Gebet, das Gebet der Sammlung, das Gebet der Ruhe oder auch das sogenannte einfache Gebet. Jede Bezeichnung hebt einen ganz bestimmten Aspekt in den Vordergrund. Das „Jesusgebet“ stellt den Namen Jesus Christus ins Zentrum. Der Betende versucht seine Aufmerksamkeit in Verbindung mit dem Atem auf den Namen Jesus Christus zu richten. Das „Herzensgebet“ der Ostkirche leitet sich von einer weitergehenden Anweisung einiger Mönchsväter ab, die empfohlen haben, während des Jesusgebetes die Aufmerksamkeit zusammen mit dem Atem zum Herzen zu lenken bzw. den Namen beständig in seinem Herzen zu bewegen. Teresa von Avila fasste einen Teil ihrer Gebetsanweisungen unter der Bezeichnung „innerliches Gebet“ oder auch „Gebet der Sammlung“ zusammen. Durch die Bezeichnung „immerwährendes Gebet“ (abgeleitet von 1 Thess 5,17: „Betet ohne Unterlass“) soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich diese Gebetsweise nicht auf einzelne Gebetszeiten beschränkt, sondern dass der Mensch mit seiner inneren Aufmerksamkeit stets mit Jesus Christus verbunden ist.

Allen Begriffen gemeinsam ist, dass der Betende hier seine Aufmerksamkeit nicht auf seine Gedanken, auf Texte oder Bilder richtet, sondern sich in Verbindung mit einem Wort der Gegenwart zuwendet, in der Gott erfahrbar ist. Visionen und Ähnliches sind dabei unwesentlich.

1.2Christliche Meditation

Heute ist es üblich, von Meditation zu sprechen. So benütze auch ich ganz selbstverständlich diesen Begriff und meine damit das kontemplative Gebet. Ich bitte um Verständnis, wenn ich die präzise Unterscheidung in diesem Buch nicht mache, sondern beide Begriffe synonym gebrauche. Es ist mir ein Anliegen, die Sprache von heute aufzunehmen und dadurch den Zugang zur christlichen Meditationsweise zu erleichtern. Ich möchte jedoch nicht auf das Wort Gebet verzichten, da es für mich Ausdruck der persönlichen Beziehung zu Gott ist. Meditation hingegen muss nicht einmal religiös gebunden sein. Man versteht heute darunter fast jede Art von Besinnung und Sammlung. Die Bezeichnung „christliche Meditation“ soll deshalb den christlichen Bezug hervorheben.

Die Motivationen für die christliche Meditation haben sich im Laufe der Geschichte verändert. Anfang des 4. Jahrhunderts suchten Mönche mit dieser schlichten Gebetsweise die Reinheit des Herzens zu erlangen und darin die Vereinigung mit Gott. Unsere Zeit, die sich in tausend Möglichkeiten aufzulösen scheint und den Menschen mit Reizen überflutet, die kaum mehr verarbeitbar sind, lässt die Sehnsucht wachsen nach einem einfachen Dasein vor Gott, in dem man ohne erneuten Leistungsanspruch zur Ruhe kommen darf und sein Leben in tieferen Dimensionen des Seins zu verankern vermag.

1.3Gegenwart

Eine Teilnehmerin der „Tage der Stille“ fragte mich einmal unvermittelt: „Was meinst du eigentlich mit ‚in der Gegenwart sein‘?“ Damals war ich über diese Frage irritiert, die vordergründig doch jeder beantworten könnte. Es wurde mir aber bewusst, dass dieser Begriff in der Umgangssprache nicht geläufig ist. Als ersten Impuls hatte ich damals geantwortet: „Gegenwart ist das, was im Augenblick da ist.“ Diese Kurzdefinition, die vor allem den zeitlichen Aspekt ins Zentrum rückt, wird jedoch seiner spirituellen Dimension nicht gerecht. Martin Buber stellt fest: „Gegenwart […], die wirkliche und erfüllte, gibt es nur insofern, als es Gegenwärtigkeit, Begegnung, Beziehung gibt. Nur dadurch, dass das Du gegenwärtig wird, entsteht Gegenwart.“2

Gegenwart ist also nicht nur ein Zeitbegriff, sondern ein Beziehungsbegriff. In Bezug auf die Meditation bedeutet er, dass Gegenwart für den Meditierenden entsteht, indem er sich auf eine Beziehung mit sich selbst einlässt und damit auch auf den Geist Gottes, der in ihm wohnt (1 Kor 3,16).

Gott, der sich als „Ich bin der ‚Ich bin da‘“ (Ex 3,14) offenbart hat, gibt sich klar als ein Gott der Gegenwart zu erkennen. Folglich ist Gott in der Gegenwart erfahrbar. Da es nur eine Gegenwart gibt, ist die Hinwendung zur Gegenwart stets eine Hinwendung zur göttlichen Gegenwart, auch wenn der Mensch sie nicht als solche erfassen kann. Es existiert also nicht eine Gegenwart mit Gott und eine Gegenwart ohne Gott.

Begegnung mit der Gegenwart ist möglich, wenn der Mensch selbst auch „da“ ist und bereit, sich einzulassen auf das, was ist. Von jemandem, der zwar physisch „da“ ist, jedoch in seinen Gedanken versunken, sagt man, dass er abwesend sei. Er ist „irgendwo anders“ und wird die anderen Anwesenden entsprechend reduziert wahrnehmen. Ebenso wird der Meditierende die göttliche Gegenwart entsprechend reduziert wahrnehmen, wenn seine Aufmerksamkeit „woanders“ ist.

1.4Wahrnehmen3

Im Wesentlichen geht es in der Meditation um die Wahrnehmung. Aus diesem Grund ist Wahrnehmung ein zentraler Begriff für den spirituellen Weg. Wahrnehmung geschieht über die Sinnesorgane: Haut, Augen, Ohren, Mund und Nase, und ist nur im Hier und Jetzt möglich. Sie bindet die Aufmerksamkeit des Meditierenden an die Gegenwart und macht sie dadurch für ihn erst erfahrbar. Was der Mensch wahrnimmt, dessen ist er sich auch bewusst. Eine Frau erzählte mir einmal, ihr sei gar nicht bewusst, dass es bereits Frühling ist. Sie fuhr im Dunkeln zur Arbeit und abends, wenn es bereits wieder dunkel war, nach Hause. Da sie die Veränderungen in der Natur nicht wahrnahm, war ihr auch die veränderte Jahreszeit nicht bewusst. Hier wird deutlich: „Wahrnehmen, Bewusst-sein, Dasein und in der Gegenwart sein sind praktisch Synonyme.“4

Nach der Wahrnehmung folgt das Denken über das Wahrgenommene und schließlich, entsprechend den Gedanken, die Handlung. Das Ökonomisieren unserer Zeit („Zeit ist Geld“) bringt es mit sich, danach zu trachten, die Arbeitskraft voll auszulasten und nach Möglichkeit auch aus der Freizeit das Optimale herauszuholen. Immer mehr, immer besser, immer schneller, immer billiger, immer effektiver, lautet die Devise. Die Folge ist eine beständige Betriebsamkeit. Kaum hat der Mensch etwas wahrgenommen, schon ist er im Denken, Urteilen, Analysieren, Kalkulieren, Planen und in der Aktion. Er nimmt nur noch kurz, flüchtig und oberflächlich wahr – auch sich selbst. Doch ist es die Wahrnehmung, die ihm den Zugang zu Gott öffnet. Die Meditation kann als eine Schule der Wahrnehmung bezeichnet werden, in der das Denken und das Tun nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

Auf dem Weg zu Gott muss man nicht einen scharfen Verstand und große Leistungen vorweisen. Jesus preist den Vater, der sich nicht den Weisen und Klugen offenbart hat, sondern den Unmündigen (Mt 11,25). Es sind besonders die Unmündigen, kleine Kinder, die wach und aufmerksam wahrnehmen können. Sie sind es, die empfänglich sind für die göttliche Gegenwart. Mit den Kleinen und Unmündigen setzt Jesus ein Beispiel: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Mt 18,3). Er fordert den Menschen auf, nicht ausschließlich im Denken und Handeln zu leben, sondern der schlichten vorbehaltslosen Wahrnehmung Raum zu geben.

2.Ursprünge

Die Wurzeln der christlichen Meditation sind in den Anfängen des christlichen Mönchstums im 3. bis 4. Jahrhundert in der Wüste Ägyptens und Syriens zu finden. Im Kampf gegen seine Leidenschaften und Laster wiederholte der Mönch beständig einen bestimmten Vers aus der Heiligen Schrift oder ein Psalmwort. Diese Repetition sollte einer beständigen Herzensruhe („Hesychia“) und somit der Reinheit des Herzens dienen.

Der hl. Antonius der Große († 356) zählt zu den berühmtesten Wüstenvätern. Der Mönch Evagrius Ponticus († 399), ebenfalls einer der großen Meister der ägyptischen Wüste, beschreibt eine Lehre vom „reinen Gebet“, das heißt vom gedanken- und bildfreien Beten, das in das „wortlose Geheimnis Gottes“ führt (Isaak von Ninive, † ca. 700). Der Mönch entleert im Gebet den innersten Raum in sich, damit Gott selbst ihn füllen kann. Ziel des monastischen Lebens ist die Vereinigung des Geistes mit Gott.

Johannes Cassian († 435), der als großer Vermittler zwischen dem ägyptischen Mönchtum und dem Westen galt, brachte den Hesychasmus, das Gebet der Ruhe, ins Abendland. Von ihm dürfte die Weisung kommen, den Psalmvers „O Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile mir zu helfen“ (Ps 70,2) als Gebetsformel stets zu wiederholen. Der Mönch sollte dadurch seine Aufmerksamkeit beständig auf Gott richten und Gott vor allem auch in Situationen der Schwäche nicht aus den Augen verlieren. Das berühmteste an Jesus Christus gerichtete Wiederholungsgebet, in dem der Jesusname aber nicht vorkommt, ist das „Kyrie eleison“ (griech. „Herr, erbarme dich“). Zu den bekanntesten Stoßgebeten zählen das Zöllnergebet: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13) und das Gebet des Blinden am Weg: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner“ (Lk 18,38). Aus diesen Kurzgebeten leiteten sich längere Formulierungen ab, wie z. B. „Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner“. Durch eine jahrhundertelange Entwicklung entstand aus diesen Gebeten und der Verehrung des Namens Jesu das „Jesusgebet“.

Dem Mönch Symeon, der Neue Theologe († 1022), wird ein Buch über die „Methode des heiligen Gebetes und der Aufmerksamkeit“ zugesprochen, in dem er klare Anweisungen über die Gebetspraxis gibt. Noch zu seinen Lebzeiten verlor das Jesusgebet jedoch an Bedeutung. Durch das Lebenszeugnis und die Schriften von Gregor der Sinaite († 1346), die schon früh, wahrscheinlich bereits während seines Lebens, in mehrere slawische Sprachen übersetzt wurden, gelangte das Jesusgebet auf dem Berg Athos wieder zu neuer Blüte. Von dort verbreitete es sich rasch.

Weltweit bekannt wurde das Jesusgebet insbesondere durch die Philokalie5 (Tugendliebe), eine Sammlung von Texten über das Jesusgebet von mehr als 30 Schriftstellern des christlichen Ostens aus dem 3. bis 15. Jahrhundert. In Russland waren und sind es besonders die „Starzen“, geistliche Lehrer und spirituelle Begleiter, die Suchende bis heute in das Jesusgebet einweihen. Im Westen sorgte das Buch „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“6 für eine rasche Anerkennung und Verbreitung des Jesusgebets. Hier wird beschrieben, wie ein unbekannter Christ aus Russland Mitte des 19. Jahrhunderts die Aufforderung des hl. Paulus zu unablässigem Gebet zu erfüllen sucht (1 Thess 5,17). Er bekommt dabei Hilfe und Orientierung durch einen Eremiten, der ihn in das Geheimnis des Jesusgebets einweiht. Dieser rät dem Suchenden die beständige Wiederholung des Satzes: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.“ Bei beharrlicher Wiederholung vereine sich dieser Satz mit seinem Herzschlag und seinem Atem und es beginne schließlich in ihm von selbst „ohne Unterlass“ zu beten. Bei der Schilderung der Erfahrungen des russischen Pilgers wird dem Leser deutlich, dass sich das Jesusgebet in seiner tiefen Dimension nicht durch theoretisches Wissen erschließt, sondern nur durch eine beharrliche und treue Gebetspraxis.

Die Weitergabe des Jesusgebets an die jeweils nächste Generation ist seit dem 4. Jahrhundert nicht abgebrochen. In unserer Zeit hat im deutschsprachigen Raum besonders das Buch von Franz Jalics7 zu seiner Verbreitung beigetragen. Im englischsprachigen Raum möchte ich die Benediktinermönche John Main und Laurence Freeman sowie die Trappistenmönche Thomas Keating und Thomas Merton nennen. Mit ihren Büchern haben sie vielen Menschen einen neuen Zugang zur Kontemplation eröffnet.

3.Was die Meditation trägt

Alles beginnt mit der Sehnsucht.

(Nelly Sachs)

Aufgrund eines gestressten Alltags sehnen sich heute viele Menschen nach Entspannung. Viele beginnen zu meditieren in der Erwartung, dass es ihnen guttut und sie durch eine bestimmte Technik in einen entspannten Zustand kommen. Das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung reicht jedoch nicht aus, um auch in schwierigen Phasen der Meditation dabeizubleiben. Sucht der Mensch in erster Linie Ruhe und Entspannung, ist es nachvollziehbar, wenn er zu meditieren aufhört, falls die erhoffte Ruhe ausbleibt oder sich Schwierigkeiten zeigen.

Der tragende Grund für den meditativen Weg, der Höhen und Tiefen mit sich bringt, ist eine Sehnsucht, dem Göttlichen in seinem Leben Raum zu geben. Mit ihr beginnt der Weg, sogar dann, wenn sie nicht unmittelbar spürbar ist. Davon erzählt die Geschichte eines jungen Mannes. Als ihn ein Rabbi nach seiner Sehnsucht nach Gott fragt, wird er traurig und muss zugeben, dass er meistens so viel zu tun hat, dass die Sehnsucht im Alltag untergeht. Als er jedoch die Frage hört, ob er Sehnsucht danach hat, Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben, hellt sich sein Gesicht wieder auf, da er dies bejahen kann. Die Geschichte endet mit der Aussage des Rabbis: „Das genügt. Du bist auf dem Weg.“ Diese Sehnsucht, und sei es die Sehnsucht nach der Sehnsucht, ist die Kraft, die bewirkt, in der Meditation dabeizubleiben, auch wenn sich Schwierigkeiten zeigen.

Die Sehnsucht nach Gott kann nur gestillt werden, wenn der Mensch bereit ist, sich selbst zu begegnen. Die großen Meister aller spirituellen Traditionen wissen um den Zusammenhang von Selbst- und Gotteserfahrung. Es sind zwei Seiten einer Medaille, die untrennbar zueinandergehören und einander vertiefen. Im Mönchtum wird der Weg zu Gott seit jeher über die Selbstbegegnung gewiesen. Stille Zeiten sind hierbei eine große Hilfe. Bereits im 4. Jahrhundert bringt der Wüstenvater Evagrius Ponticus dies kurz und bündig auf den Punkt: „Willst du Gott erkennen, lerne vorher dich selber kennen.“ Jede wahre Selbstbegegnung ist somit auch ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Gott. Ist die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen, jedoch nicht gegeben, besteht die Gefahr des „spiritual bypassing“. Es ist der Versuch, der eigenen Wirklichkeit auszuweichen, Illusionen aufrechtzuerhalten und persönliche Herausforderungen mit Hilfe der Meditation zu umgehen. Dies verhindert die eigene Entwicklung und blockiert den Weg zu Gott.

Therapien unterstützen den Menschen darin, sich aufrichtig selbst zu begegnen. Im direkten Kontakt kann der Therapeut z. B. behutsam auf innere Blockaden der Persönlichkeitsentwicklung eingehen, abgespaltene Gefühle wieder ins Bewusstsein bringen und damit die Ich-Identität stärken. In der Meditation hingegen geht es nicht darum, das eigene Ich zu stärken, sondern es loszulassen, um der göttlichen Dimension in sich Raum zu geben. Bevor man jedoch sein eigenes Ich in der Meditation loslassen kann, muss man es erst einmal entwickelt haben. Ebenso kann man Gefühle erst dann loslassen, wenn man sie zugelassen hat. Die Meditation, obwohl sie auch therapeutisch wirkt, ist also kein Therapieersatz. Man würde zudem die Meditation verzwecken, für die jedoch ein absichtsloses Dasein in der Gegenwart Gottes kennzeichnend ist. Therapien können den Zugang zum meditativen Weg ebnen, falls er sonst verschlossen bliebe. Bei mangelndem Realitätssinn, fehlender Selbstdistanz oder bei schweren, nicht therapeutisch aufgearbeiteten Traumatisierungen ist von dieser Form der Meditation abzuraten, ebenso wenn eine akute Krise vorliegt. Hier ist menschliche Zuwendung vonnöten und professionelle psychologische Unterstützung zu empfehlen. Die langen Zeiten der Stille und das „Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein“ könnten dazu führen, dass sich schwierige innere Zustände sogar noch verstärken.

II.Meditationspraxis

Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen. Unvermittelt kehrt es bei den Menschen ein und braucht doch ein langes Gedeihen. Im Unscheinbaren des immer Selben verbirgt es seinen Segen.8

(Martin Heidegger)

Im Laufe der Geschichte haben große Heilige, Mystiker und Mystikerinnen in der konkreten Meditationspraxis, wie bereits erwähnt, oft unterschiedliche Gesichtspunkte hervorgehoben und mitunter recht unterschiedliche Anweisungen gegeben. Dies bedeutet, dass es nicht die