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ARNOLD ILLHARDTSterbewache

ARNOLD ILLHARDT

Sterbewache

AM TOTENBETT
MEINES VATERS

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Für meine Frau Marion

Vorwort

Im Jahr 2000 starb mein Vater in einem kleinen Krankenhaus im Münsterland. Sein Tod war abzusehen; er starb portionsweise, nachdem ihn seine Alzheimer-Erkrankung mehr und mehr dahinsiechen ließ. Ich verbrachte mit ihm seine letzte Nacht auf dieser Welt an seinem Bett und hielt Sterbewache.

In meinem früheren Beruf als Krankenpfleger habe ich auf professionelle Weise unzählige Menschen in diesen letzten Momenten, aber auch die trauernden Angehörigen begleitet. In meiner späteren Tätigkeit als Psychologe wurde die Trauer um den Tod einer nahestehenden Person und der vielfach unbewältigte seelische Schmerz so manches Mal Thema in den Therapiesitzungen.

Bei dem Tod meines Vaters spielte meine eigene Professionalität keine Rolle mehr. Hier galten andere Maßstäbe. Die Sterbenacht wurde zu einem unvergesslichen Ereignis, das viel in mir bewegte und mein Denken über das Leben und den Tod gewaltig durcheinanderbrachte, letztendlich aber positiv prägte. An diesen Gedanken und Gefühlen möchte ich den Leser in großer Offenheit teilnehmen lassen.

Was zunächst als Tagebuchaufzeichnung gedacht war, wurde mehr und mehr zu einer Art Essay über die letzten Dinge im menschlichen Sein. Mich begann das Thema so sehr zu faszinieren, dass ich mich an die Arbeit machte, in unterschiedlichsten literarischen Quellen zu forschen. Dazu zählten sowohl Blogs und Seiten im Internet als auch viele Bücher beispielsweise aus den Bereichen Theologie, Philosophie, medizinische Ethik, Psychologie sowie der Belletristik. Ich begann mit den Zitaten zu spielen und arbeitete sie in die tatsächlichen und fiktiven Passagen meines Skripts ein. So kommen wie in einem literarischen Crossover verschiedene Stile zusammen. Die Quellen der jeweiligen Anleihen werden im Anhang aufgeführt, sind allerdings für das Verständnis des Textes nicht dringend erforderlich.

Mit meinem kleinen Buch „Sterbewache“ möchte ich abseits von Ratgebern oder spirituellen Abhandlungen Leser ermutigen, sich diesem Thema zu stellen. Die Reaktionen der Menschen auf den Tod einer geliebten Person sind sehr unterschiedlich.

In jedem Fall bedeutet der Abschied von den Sterbenden, das Erleben ihres Todes, eine tiefe Erschütterung. Sie zu ertragen, ihr nicht auszuweichen, dazu gehören Kraft und Mut. Aber noch nie habe ich gehört, jemand habe später bedauert, dabei gewesen zu sein.1

Gerade Männer drücken ihre Trauer oftmals nicht direkt aus, sondern flüchten sich in Verdrängungsprozesse, die ihr Verhalten für ihre Umwelt oftmals nicht nachvollziehbar macht. In einem Interview mit dem Rockmusiker Max Cavalera beschreibt dieser den Hintergrund für die recht extrem und aggressiv ausfallende Musik folgendermaßen: „Ich habe eine aggressive Seite, die daher rührt, dass ich den Tod meines Vaters nie wirklich verarbeitet habe. Da ist ständig die Wut in mir …“2

Ich war bis zu diesem Buch – außer im beruflichen Kontext – selbst ein wahrhafter und geschickter Verdränger von Themen wie Trauer und Tod. Sie waren nicht Gegenstand meiner Lebensphilosophie, die eher von lust-, freud- oder genussvollen Inhalten geprägt war. Die Aufzeichnungen, aber auch viele Gespräche mit Männern und Frauen haben mein Bild maßgeblich beeinflusst.

Wer darüber redet, beginnt, den Tod als Teil des Lebens zu begreifen.3

Genau dies ist meine Absicht.

Telgte, im Juli 2013

Ich beginne zu sprechen vom Tod.

Viele Irrglauben sind verbreitet

Aber wenn man den Wunsch von der Furcht abscheidet kommt uns die erste Ahnung von dem, was uns droht.4

Verachte nicht den Tod, sondern befreunde dich mit ihm, da auch er eines von den Dingen ist, die die Natur will.5

Die Stimme am anderen Ende des Telefons ist energisch, hat etwas von dieser Dringlichkeit, die keinen Aufschub erlaubt und die mich einen Moment erfrieren lässt, erwischt sie mich doch eiskalt mitten in meiner Alltäglichkeit:

Sie sollten sofort kommen. Ihrem Vater geht es sehr schlecht.

Man hatte meinen Vater, der zusammen mit meiner Mutter in einem Seniorenheim lebte, in eine Klinik gebracht. „Ihrem Vater geht es sehr schlecht!“ Ist das nicht gleichbedeutend mit: Es könnte sein, dass er jeden Moment stirbt? Viele Male schon hatte sich dieser Moment in meinem Kopf abgespielt, nicht minder bedrohlich und ernst. Nur weniger wahrhaftig. Denken ist etwas anderes als Erleben! Ich war schweißgebadet aus Träumen erwacht, in denen es um Sterben und Tod ging. Ich sah den Tod meiner Eltern, meiner Frau, guter Freunde. Sah in Gesichter, die vom nahen Tod gezeichnet waren. Ich sah meinen eigenen Tod. Ja, ich sah diese schrecklichen Dinge, allerdings hatte ich eine nähere Auseinandersetzung damit aufgeschoben. Für ein Später, an das ich zu jenem Zeitpunkt nicht denken mochte. Reichte es nicht, daran zu denken, wenn es so weit war?

Nein, ich wollte nicht in den schönsten Phasen meines Lebens über den Tod nachdenken – nicht über meinen und nicht über den irgendeines mir nahestehenden Menschen. Nur dann und wann ein Schatten, der kurz mein Dasein verfinsterte. Sterben fand eh nur jenseits meines Alters statt. Mit Ausnahmen vielleicht, aber weit weg. Ich mied Sterbeanzeigen in der Tageszeitung, machten sie mir doch bewusst, dass der Tod keine Gnade kennt, dass ihm Alter und Geschlecht egal sind.

Aber plötzlich taucht aus dem Schattendasein Realität auf. Träume, Gedanken, all das ließ sich bisher mit dem Erwachen vertreiben oder als Ausgedachtes enttarnen. Doch nun versetzt es mich in einen Zustand, aus dem ich mich am liebsten davonschleichen möchte. Hunderte Male habe ich als Kind zur Nacht gebetet: Lieber Gott, lass meine Eltern lange leben. Nun beginnt die Wirkung dieser kindlichen Stoßgebete zu verblassen. In Ewigkeit. Amen. Es gibt keine Unendlichkeit, sie kam mir immer nur so vor. Ich hatte das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht! Und verzweifelt der Mensch nicht in dem Moment, wo er glaubt, das Ewige und sich selbst verloren zu haben?

Doch die Verzweiflung sollte später kommen. In solchen Momenten muss die Verzweiflung hintanstehen. Eher führt die Verwirrung Regie, das Nicht-wahrhaben-Wollen. Ich taumele, körperlich wie gedanklich. Vielleicht war es nur ein kurzer Traum, der der Wirklichkeit gefährlich nahkam. So etwas gibt es doch. Bewusstseinszustände, die komplett aus jeglicher Realität herausgelöst sind.

Ich sitze wie versteinert an meinem Bürotisch, unfähig zu handeln oder zu entscheiden. Ich starre auf den Bildschirm, ohne auch nur irgendetwas zu erkennen: Schneegestöber. Bildstörung. Soll ich meine angefangene Arbeit erst beenden? … Ich kann doch nicht mittendrin … müsste erst noch den und den verständigen … kann doch nicht einfach wegfahren … Meine Gedanken rasen, hasten hierhin und dorthin auf der Suche nach Erklärungen und Lösungen. Wer gibt mir bitte eine Betriebsanleitung mit den richtigen Schrittvorgaben? Erstens bis letztens! Lange nicht mehr – schon gar nicht als erwachsener Mann – habe ich mir jemanden gewünscht, der mich an die Hand nimmt und mir den richtigen Weg weist. Mir sagt, was ich zu tun habe. Meine Schritte lenkt.

Es gibt kein Wort für den erwachsenen Sohn, die volljährige Tochter; wir bleiben Kinder im Verhältnis zu den Eltern, selbst im Greisenalter noch.6

Ich schalte den Computer aus, stopfe alle Sachen in meine Tasche … lösche das Licht und begebe mich zu meinem Wagen. Eiligen Schrittes, überstürzt oder panisch? Bin ich überhaupt Herr meiner Sinne? Mitten im Leben trifft mich die Nachricht wie ein Pfeil. Ins Herz! Und ganz in der Ferne gibt es eine leise, fürsorgliche Stimme, die mir rät, auf mich zu achten und nicht in Hektik zu verfallen. Ist das deine Stimme, Vater?

Während der Fahrt merke ich, dass ich langsamer fahre als sonst. Ich muss jetzt die Ruhe bewahren, darf nichts überstürzen. Ich denke an die motivationspsychologische Theorie der Vektoren – mein Gott: in dieser Situation! –, an diese unsichtbaren Kräfte, die einen anziehen und fernhalten, wovon auch immer. Natürlich will ich ihm in dem verletzlichsten Moment seines Lebens beistehen, bei ihm sein, wenn er sterben sollte. Eine Selbstverständlichkeit!

Sterben? Der Arzt am Telefon hatte nur von Es geht ihm schlecht gesprochen.

Ist es tatsächlich immer eine Selbstverständlichkeit? In meiner früheren Tätigkeit als Krankenpfleger habe ich viele Söhne und Töchter erlebt, die diese letzte Handlung ihren sterbenden Eltern gegenüber verweigerten. Vielleicht war die Beziehung zerrüttet, vielleicht handelten sie so aus Angst oder aus Gleichgültigkeit. Ich habe es nie verstanden. Bei mir geschieht es aus Liebe. Ich habe meinen Vater geliebt – eine herzliche Vater-Sohn-Beziehung, wenn auch nicht immer ganz einfach. Doch ist sie tatsächlich stärker als meine Angst vor diesem gewaltigen Moment? Manche Lebensmomente haben eine solche Intensität, dass sie das Bewusstsein lähmen, dass sie Menschen in eine Art Trance katapultieren, dass sie unser Tun in einen alle Sinne betäubenden Kokon einhüllen. Ein surrealer Stummfilm. Ein apokalyptisches Szenario, wie von Alfred Kubin gemalt. Es heißt, die Angst vor dem Sterben sei größer als die vor dem Tod. Gilt das für das eigene Sterben oder auch für das Sterben anderer?

Noch immer ist der Tod der blinde Fleck eines Lebens im Betriebssystem der allgemeinen Optimierung, noch immer bleibt er die größte narzisstische Kränkung des auf seine Autonomie pochenden Individuums.7

Dieser Gedanke, verbunden mit Not und Angst, steht plötzlich im Widerspruch zu dem, was man mich zu glauben gelehrt hat: dass mein Glaube mir die Angst vor dem Sterben und dem Tod nimmt. Vielleicht gut gemeint, doch nun spüre ich etwas anderes. Oder hat mein Glaube vielleicht diverse Schwachstellen, die sich jetzt bitter rächen?

Aber wenn man alleine ist, und es ist Nacht und so dunkel und still, dass man nichts hört und nicht sieht als die Gedanken, welche Lebensjahre addieren und subtrahieren, als die lange Reihe jener unangenehmen Tatsachen, welche erbarmungslos beweisen, wie weit der Zeiger der Uhr vorgerückt ist, als das langsame und unaufhaltsame Näherkommen jener schwarzen Wand, welche alles, was ich liebe, wünsche, besitze, hoffe und erstrebe, endgültig verschlingen wird, dann verkriechen sich alle Lebensweisheiten in ein unauffindbares Versteck, und Angst fällt auf den Schlaflosen wie eine erstickende Decke.8