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RICHARD HARTMANN

Was kommt
nach der
Pfarrgemeinde?

RICHARD HARTMANN

Was kommt
nach der
Pfarrgemeinde?

Chancen und Perspektiven

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Inhalt

1 Das Nachher hat schon begonnen

Die alten Karten führen in die Irre

Die Lotsen haben neue Aufgaben

Die Fahrzeuge müssen gewechselt werden

Und jetzt?

2 Ortsbesichtigungen

Kirchorte

Öffentliche Orte

Biographieorte

Verwaltungsorte

Orts- und Weltkirche

3 Zeiten

Tagzeiten

Wochenzeiten und Kirchenjahrszeiten

Lebenszeiten

4 Wegbegleiter: Hauptamtliche und Ehrenamtliche

Verantwortung aller

Rolle des geweihten Amtes

Rolle der Hauptberuflichen

Ehrenamtliche Mandatsträger

5 Volk Gottes unterwegs – Pastoral als Freigabe

Zu den Quellen und für die Weiterarbeit

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Das Nachher hat schon begonnen

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Wie ist meine Stimmung? Wie ist unsere Stimmung in der Kirche?

Die Volkskirche geht nicht zu Ende, sie ist zu Ende. So lautet inzwischen der Tenor vieler Verantwortlicher, Bischöfe, Theologen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Glieder dieser Kirche. Es ist in unseren Breiten nirgendwo mehr notwendig, Mitglied einer Kirche zu sein, um als Bürger dieser Gesellschaft zu gelten. Ob jemand einer Kirche angehört, ob und wie er dann in dieser Kirche seinen Glauben praktiziert, all das ist inzwischen nicht mehr vorgeschrieben, sondern eine Sache der ganz persönlichen und privaten Entscheidung.

Die Gemeindezentren der 1970er Jahre sollten Mittelpunkt einer lebendigen Gemeinschaft werden. Etliche Gruppen und Kreise trafen sich dort. Der Terminkalender der Pfarrmitteilungen war beredtes Zeugnis der Aktivitäten. Inzwischen ist auch hier der Lack ab. Es ist weniger los, die Ästhetik der Häuser und Räume erinnert an den Glanz vergangener Zeiten. Ob eine Sanierung lohnt?

Die Art der Menschen, ihren Glauben zu leben, ist heute anders geworden.

Weil das so ist, ist die »Pfarrgemeinde« wirklich nicht mehr dieselbe;

weil das so ist, erleben die Gemeinden, dass meist nur bestimmte Menschen an ihrem Leben teilnehmen, nur noch ganz bestimmte »Milieus«;

weil das so ist, scheint die Kirche in einem Schrumpfungsprozess zu sein und scheinen die Menschen aus dem »Kern« nicht selten in eine depressive Grundstimmung zu verfallen;

weil das so ist, sind – vor allem – die Hauptamtlichen immer wieder konfrontiert mit Menschen, die klare Erwartungen an »die Kirche« und somit an sie haben – vor allem zu Taufe, Hochzeit und Beerdigung –, aber keineswegs die Erwartungen der Gemeinde an eine feste Bindung erfüllen wollen.

Muss das so sein? Und muss uns das im so erfahrenen »Kern« der Kirche schrecken?

Ich will keinen weiteren Beitrag leisten, der dem nachtrauert, was früher einmal gewesen sein soll. Ich bin sogar skeptisch gegenüber vielen Idealisierungen früherer Jahrzehnte. Ich will vielmehr Aussichten gewähren und Wege skizzieren, die in eine Zukunft führen, die schon längst die Zukunft Gottes ist. Es ist eine Zukunft, die einen neuen geistlichen Aufbruch schenkt.

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Die alten Karten führen in die Irre

Haben wir die richtigen Karten für die Wege in die Zukunft? Ich erinnere mich an frühere Wanderfahrten und die Fähigkeit, Straßenkarten, Wanderkarten und Messtisch-Blätter zu lesen. Nicht jeder konnte auch mit den richtigen Karten das Ziel schnell erreichen. Mancher Umweg wurde beschritten. Ob das heute anders ist?

Als ich vor kurzem mit Freundinnen unterwegs war und wir den Weg nicht gleich fanden, habe ich selbstverständlich mit meinem Smartphone und GPS Orientierung gesucht – und gefunden. Und wer »Karten lesen« »googelt«, dem werden keine Wanderkarten, aber viele EDV-Speichermedien aufgelistet.

Mit Blick auf die Arbeit unserer Kirchengemeinden habe ich den Eindruck, dass immer noch etliche die gleichen Karten verwenden wie vor 50 Jahren. Eine davon zeigt die »lebendige Gemeinde«: Ein vielfältiges Freizeitprogramm steht neben der Gottesdienst- und Sakramenten-Vorbereitung. Für alle Generationen gibt es entsprechende Wege und Routen, die Verbände sorgen für weitere Maßnahmen. Zugleich wächst die Enttäuschung nach innen hin: »Es sind immer dieselben« und »es sind immer weniger«; »die Kinder und Jugendlichen sind nicht mehr bereit, sich in Gruppen auf Dauer zu engagieren und zu binden«, und die Gottesdienste sind immer leerer. Dazu kommt schon seit längerer Zeit, dass es die »engagierten Kapläne von früher nicht mehr gibt« und dass die Kirche nicht erst durch den Missbrauchsskandal viel Anerkennung verloren hat. Und nun noch: Es gibt weniger Priester und andere Hauptamtliche und darum droht die Pfarrei vor Ort an Profil zu verlieren. Es braucht zentrale Zusammenschlüsse, Finanzkrisen zwingen zum »Downsizing«, also zum Streichen: Nichts bleibt mehr bestehen – und plötzlich stimmen die Karten nicht mehr.

Dabei gab es immer wieder Karten und Planskizzen, die zeigten, wie die Kirche aussehen soll, wohin das Volk Gottes unterwegs ist, welches die Orte sind, wo die Verkündigung des Evangeliums ankommt. An ein paar dieser Karten – sicher ist die Liste nicht vollzählig –, die in unterschiedlicher Praxis sogar noch nebeneinander benutzt werden, will ich erinnern:

imageAm wichtigsten sind die Osterkommunion und die Osterbeichte und die Feier der Sakramente: Wenn das gewährleistet ist, brauchen wir keine Angst zu haben um das Heil der Menschen. Wer daran teilhat, der ist gerettet, wer davon wegbleibt, ist verloren.

imageWir prägen das Milieu und die Gesellschaft: Alles soll »katholisch« sein. Kirche muss sich durchsetzen durch eine totale Durchdringung der ganzen Gesellschaft: Die perfekte Gesellschaft ist die Idee, die alle Minderheiten aufsaugt oder verdrängt. Vereine und Verbände stabilisieren diese gesellschaftliche Bedeutung.

imageWir halten alles aufrecht und zusammen: Im Rahmen des Wiederaufbaus der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kam es der Kirche mit Volksmissionen und Wohnviertelapostolat darauf an, mit hoher Autorität alle zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Tatsächlich war es, was die Feier der Sakramente betrifft, eine der Hoch-Zeiten der Beteiligung.

imageWir gehören zusammen, wir sind ein Herz und eine Seele: Die Idee der Pfarrfamilie, in der sich möglichst alle kennen und füreinander da sind, mit dem Pfarrer als Vaterfigur und seinen vielen Helferinnen und Helfern, steht im Zentrum: Ihre Attraktivität soll ausstrahlen auf viele andere.

imageAls Avantgarde, als kleine Basisgemeinde, versuchen wir uns und die Gesellschaft zu verwandeln. Mit hoher Autonomie in Gottesdienst, Glaubensvertiefung und politischem Engagement sind wir eine Gegengesellschaft gegen den Mainstream von Volkskirche und Gesellschaft. Wir sind die Entschiedenen.

Unser Atlas: Welche dieser Karten kenne ich und kennen wir? Woran lässt sich erkennen, wie wir als Engagierte in der Gemeinde oder Pfarrei oder als hauptberuflich Tätige in der Kirche unsere Dienste ordnen und die Wege bestimmen?

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imageWer sich an Gott bindet, der hat gewonnen. In neuen Frömmigkeitsbewegungen wird eine innere Sicherheit und Glaubensbindung kultiviert, die den Mitgliedern hilft, die kritische und negativ bewertete Gesellschaft in Abgeschlossenheit und Schutz zu überleben.

imageWir sind Kirche auf dem Markt, was angefragt wird, wird entsprechend angeboten, ausprobiert und vermarktet. Wenn wir die richtigen Angebote machen, haben wir bei Events ebenso wie in der individuellen Gestaltung von Sakramentsfeiern und Segensfeiern die richtige Anknüpfung an die Servicegesellschaft.

imageWir beginnen neu als Missionskirche: Offensiv gehen wir in die Öffentlichkeit und versuchen den Mehrwert des Glaubens zu dokumentieren und Menschen für unseren Weg zu gewinnen.

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Die Lotsen haben neue Aufgaben

Wer sich auf den Dienst in der Kirche vorbereitet, sei es als Pfarrer, als Priester oder Diakon, als Religionspädagogin und Theologin, begibt sich auf diesen Weg mit einem bestimmten Vorverständnis. Seine eigenen Erfahrungen in Kirche, Verband, Bewegung haben ihn motiviert, sich auf eine Berufslaufbahn einzulassen, zum Teil mit existentieller Entscheidung in der Bindung und im Lebenswandel (Zölibat, Ordensberufung). Allein, wenn die Wegzeichen, die Pfeile, in entgegengesetzte Richtungen führen, wenn die Fahrtrichtung nicht eindeutig ist, was dann? Wer ist es, der entscheidet, welcher Weg ausprobiert wird? Welche Kriterien helfen weiter: die Erfahrung vor Ort, die amtskirchlichen Vorgaben? Es braucht die Lotsen mit ihrer Erfahrung, ihren Kriterien und dem Mut, das Steuer zu führen.