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Philipp Elhaus, Christian Hennecke, Dirk Stelter,
Dagmar Stoltmann-Lukas (Hg.)

Kirche2
Eine ökumenische Vision

Philipp Elhaus, Christian Hennecke, Dirk Stelter, Dagmar Stoltmann-Lukas (Hg.)

Kirche2

Eine ökumenische Vision

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de)

Druck und Bindung: CPI, Clausen & Bosse, Leck

ISBN

978-3-429-03548-8 (Print Echter Verlag)

978-3-7859-1136-5 (Print Lutherisches Verlagshaus)

978-3-429-04708-5 (E-Book PDF)

978-3-429-06122-7 (e Pub)

Inhalt

Wort zum Geleit

Kirche2 – eine Idee und ihre Geschichte

Inspirationen

Graham Cray: Kirche ganz frisch

Hans-Hermann Pompe: Im Westen was Neues? Ein Kommentar

Gisèle Bulteau: Die Ortskirche von Poitiers

Eric Boone: Eine Kirche der Nähe

Estela Padilla: „Ohne Vision verkümmert das Volk“

Aufbruch in die Lebenswelten

Heinzpeter Hempelmann: Milieugrenzen überschreiten! Das Evangelium milieusensibel und lebensrelevant kommunizieren

Matthias Krieg: Lebenswelten – terra incognita im eigenen Land

Matthias Sellmann: Glauben, oder: Vom Unterschied zwischen Teebeuteln und Piranhas

Christina Brudereck: Kirche hoch 2

Harald Schroeter-Wittke: Musik und Milieus – grundlegende Überlegungen

Gerhard Wegner: Sozialräume sind Kraftfelder Gottes. Kirche, Diakonie und die Erneuerung der Sozialität in Stadtteilen und Dörfern

Wandel gestalten

Valentin Dessoy: Rückbau – Umbau – Neubau? Eckpunkte einer systemisch fundierten und strategisch ausgerichteten Kultur des Lernens in der Kirche

Damian Feeney: Missionale Leitung

Burghard Krause: Spiritual/Missional Leadership. Geistliche Leitung in missionarischem Horizont

Hans-Hermann Pompe, Hubertus Schönemann: Was heißt – bitte schön – Mission?

Carsten Hokema: Wir gehen hin

Markus Weimer: Das Fresh-X-Netzwerk – Kirche. erfrischend. vielfältig

Michael Herbst: Wie finden Erwachsene zum Glauben?

Klemens Armbruster: Wieso verlieren Erwachsene den Glauben?

Christian Hennecke: Wandel hoch zwei – zehn Wegmarken ins Neuland

Kirchliche Orte und Kontexte

Thomas Söding: Auf hoher See. Kirchenschiffe im Neuen Testament

Jochen Arnold: Schmecket und sehet! Praktisch-theologische Überlegungen zur Feier menschenfreundlicher Gottesdienste

Stephan Winter: „Man trifft sich dann im Gottesdienst!?“ Gottesdienste in größeren Seelsorgeeinheiten als eine zentrale Herausforderung der Pastoral im pluralistischen Umfeld

Paulus Terwitte, Fabian Vogt: Leidenschaftlich predigen. Verkündigung im 21. Jahrhundert

Hans Jürgen Marcus: „Ein starkes Stück Kirche“. Die Caritas und ihre Rolle für die Zukunftsfähigkeit der Kirche

Michael Hochschild: Im Fluss fließt die Quelle. Zur Rolle der Orden und Bewegungen für die Kirche von morgen

Martin Alex, Thomas Schlegel: Von ländlicher Idylle und schrumpfender Peripherie – Hintergründe und Ausblicke

Philipp Elhaus: Kirche in der Stadt

Martin Wrasmann: Kirche als Mehrwert – lokale Kirchenentwicklung als ein konsequenter Schritt für das Ankommen im „Jetzt und Morgen“

Klaus Grünwaldt: Glaube am Montag

Maria Herrmann: (Nicht nur) Social media und der Kongress

Ausblick

Michael Herbst: Wir2 – „Wohl denen, die da wandeln“

Nicholas Baines: „Anfangen, wo die Menschen sind“ – Sendungswort

Dirk Stelter, Dagmar Stoltmann-Lukas: „… so sende ich euch“. Eine Ökumene der Sendung

Philipp Elhaus, Christian Hennecke: Kirche2 – eine ökumenische Vision

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Wort zum Geleit

Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und das Bistum Hildesheim sehen es als gemeinsame Aufgabe, den Menschen das Evangelium zu verkünden und die Nähe des Reiches Gottes zu bezeugen.

Auf der Suche nach neuen Formen einer zeitgemäßen und authentischen Verkündigung und nach neuen Gemeinschafts- und Gemeindeformen haben Menschen aus Bistum und Landeskirche miteinander dieselben geistlichen Wurzeln entdeckt. So wuchsen im Suchen, Ausprobieren und Finden ein gemeinsamer Weg, wechselseitiges Vertrauen und die Idee, einen Kongress Kirche2 zu veranstalten. Er wurde zu einem Sammelpunkt vieler Akteure, Protagonisten und Interessierter in unseren Kirchen, denen das Evangelium und der Aufbruch der Kirche am Herzen liegen.

Es ging und geht nicht darum, Gemeinden und Kirchenleitungen zu höheren Leistungen anzustacheln. Wir sehen das Ziel der beeindruckenden Themenvielfalt des Kongresses, die sich in den anregenden Beiträgen dieses Buches niederschlägt, vor allem darin, rückwärtsgewandte Verlustangst einzudämmen und mit Gottvertrauen den Blick nach vorne zu richten. Wir sind eine starke Gemeinschaft, und das sollten wir sowohl in neuen als auch in wiederentdeckten alten Ausdrucksformen christlichen Glaubens und Lebens selbstbewusst zeigen!

„Kirche hoch zwei“ zeigt an, dass wir tatsächlich von einer Trendwende kirchlichen Lebens sprechen können: Die Diskussionen um neue Strukturen, um Geld und Mitgliedschaft treten immer mehr in den Hintergrund und machen kreativen neuen und bewährten alten Gedanken Platz. Im Zusammenspiel von Innovation und Tradition, Spiritualität und Theologie wird Neues gewagt. Wir verstehen Kirche2 als ein gemeinsames Aufbruchssignal für unsere beiden Kirchen. Die Bereitschaft, voneinander und von anderen Bewegungen zu lernen, wächst. Deshalb waren Vertreter der englischen „Fresh Expressions of Church“ zu Gast, ebenso Christinnen und Christen aus den USA, den Philippinen, Frankreich und der Schweiz. Sie alle haben neue geistliche Ausdrucksformen erprobt und ihre Erfahrungen mit uns geteilt.

Die Resonanz auf diesen Kongress war überaus positiv und sie hält an. Wo häufig von ökumenischer Eiszeit gesprochen wird, ist hier ein echter ökumenischer Klimawandel zu erahnen. Mit Begeisterung und ökumenischem Vertrauen ist diese Zusammenkunft vorbereitet und durchgeführt worden. Wir wünschen uns, dass dieser Funke überspringt und in vielen Menschen Ermutigung, Hoffnung und kreative Energie entzündet, um die Zukunft unserer Kirchen so mitzugestalten, dass wir mit dem, was wir tun, zugleich nah bei Gott und nah bei den Menschen sind.

Für uns Christinnen und Christen ist diese Aufbruchserfahrung wichtig. Und die Gesellschaft erwartet von der Kirche ein gemeinsames und überzeugendes Zeugnis für die Fülle des Lebens, die Christus schenken will.

Wir sind sicher, dass der Kongress und die daraus entstandene Bewegung Kirche2 weite geistliche Räume eröffnen und Hoffnungsbilder in Köpfe und Herzen pflanzen können. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese dann in die verschiedenen Orte kirchlichen Lebens zu übersetzen. Einen wichtigen Beitrag dafür leistet dieses Buch. Der Herausgeberin und den Herausgebern danken wir dafür herzlich.

Landesbischof Ralf Meister,

Bischof Norbert Trelle,

Hannover

Hildesheim

KIRCHE2 – eine Idee und Ihre Geschichte

Drei Monate vor Beginn ausgebucht, breites Medienecho, begeisterte Reaktionen – das war der ökumenische Kongress Kirche2 vom 14. bis 16. 2. 2013 in Hannover. Über 1350 Menschen teilten Ideen, Visionen und Erfahrungen und verwandelten ein Messezentrum in ein ökumenisches Laboratorium für die Zukunft der Kirche. Andere beteiligten sich per Twitter oder schauten im Livestream vorbei. Fünf große Plenarveranstaltungen, 23 Foren, 69 Workshops und 50 Stände machten den Kongress zu einem großen Forum der Begegnung und Inspiration.

Der ökumenische Kongress, den die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und das Bistum Hildesheim in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Niedersachsen organisierten, bewegte sich im produktiven Spannungsfeld von Mission und Ökumene. „Kirche hoch zwei“ steht für Begegnung. Und was sich da beim Kongress begegnete, blockierte sich nicht oder kürzte sich gar weg, sondern potenzierte sich: Deutsche Fragehorizonte trafen auf englische Lebenswelten und Strategien. Evangelische Kirche und katholische Kirche entdeckten ihre gemeinsame Situation, ihre gemeinsame Sendung und erlebten die Dynamik, die sich entfaltet, wenn sie ihre Gaben zusammenbringen. Diese Dynamik ließ Kirche in einer neuen Dimension erfahren: traditionell verwurzelt und offen für Experimente, lokal verankert mit globalem Horizont, gottoffen und strategisch im eigenen Handeln, bei Christus zuhause und mit ihm unterwegs zu den Menschen. Deutlich wurde: Glaubwürdige Mission heißt, nah bei Gott und nah bei den Menschen zu sein. Bewährte und innovative Formen, Kirche zu sein, gehören im Sinne einer „mixed economy“ zusammen. Erfahrung vor Ort und internationale Inspirationen brauchen einander. Reale und virtuelle Kommunikation beflügeln sich wechselseitig.

Der Schwung des „hoch zwei“ wurzelte in tiefem Vertrauen: einem Vertrauen auf Gott, dass er unserer Gegenwart nicht ferner ist als einer womöglich idealisierten Vergangenheit. Und ein Vertrauen in die Teilnehmenden: dass sie keine Rezepte verordnet bekommen wollten, sondern einen Raum suchten, in dem sie im Sinne der oben genannten Begegnungspaare sich über ihre Träume und Erfahrungen austauschen, miteinander vor Gott feiern und gemeinsam Schritte in die Zukunft setzen konnten.

Der Kongress entstand nicht am grünen Tisch noch wurde er von Kirchenleitungen dekretiert. Er war kein Event ohne Bodenhaftung, sondern wuchs aus konkreten ökumenischen Begegnungen. So verkörperte er bereits in seiner Vorgeschichte das, was er initiiert hat: eine gemeinsame Suche nach einem Bild für die Kirche der Zukunft, das jetzt schon in vielen kleinen Miniaturen aufleuchtet.1

Am Anfang stand der thematische Austausch von Fachreferentinnen und -referenten aus Bistum und Landeskirche aus den Arbeitsbereichen Ökumene und Missionarische Dienste bzw. Seelsorge. Wir entdeckten Parallelen in der Wahrnehmung der Situation in unseren Kirchen. Wir teilten die Hoffnung, dass sich die schwebenden Pleitegeier über unseren Kirchenlandschaften in Hoffnungstauben des Geistes verwandeln können, der uns in schmerzhaften Umbrüchen und der herausfordernden Gestaltung des Rückbaus auf neue Wege lockt. Wir merkten, wie uns der beginnende Dialog bereicherte und wir im Spiegel der Wahrnehmung des anderen neue Facetten der eigenen kirchlichen Wirklichkeit entdeckten. Dabei öffnete sich uns sowohl biografisch als auch in der theologischen Reflexion ein neuer und vertiefter Einblick in den Ursprung der einen Kirche, die zugleich ihre Gegenwart ausmacht und ihre Zukunft eröffnet: die Sendung durch den Auferstandenen, in der sich seine Sendung durch Gott fortsetzt (Joh 20,21). Diese Dynamik verwehrt die typischen Depressionsschleifen angesichts der diversen kirchlichen Verlustszenarien und lässt ebenso neugierig und erwartungsvoll in die Zukunft blicken.

Lernen am dritten Ort – Inspiration aus England

Die Leidenschaft für eine Ökumene der Sendung führte uns an einen dritten Ort: in die anglikanische Kirche nach England. Dort konnten wir an beeindruckenden Beispielen sehen, wie eine Großkirche einen Aufbruch erlebt. In der Church of England wurden in den letzten zehn Jahren über 1000 „fresh expressions of church“ gegründet, vielfältige und kreative Gemeindeformen jenseits der bewährten Ortsgemeinde. Die beiden Erzbischöfe, Bischöfe und Kirchenleitung unterstützen dies intensiv. „Fresh expressions“ sind für die englischen Kirchen inmitten von finanziellen Abbrüchen und Mitgliederschwund ein unübersehbares Hoffnungszeichen. Ob Café-Gemeinden, „Überraschungskirche“ für junge Familien, Gemeinden für jungen Erwachsene oder diakonische Gemeindeformen in sozialen Brennpunkten – für bisher wenig erreichte Zielgruppen wird Kirche durch solche frischen Formen wieder relevant. Sie verstehen sich als Ergänzung zu vorhandenen Ortsgemeinden und wollen die bisherige Form von Kirche bereichern, nicht ersetzen. Für diese Zusammenarbeit von bewährten und neuen gemeindlichen Formen mit einer gemeinsamen missionarischen Ausrichtung – treffend mit „mission-shaped church“2 beschrieben – haben die Anglikaner den Begriff der „mixed economy“ geprägt. Die jeweiligen Stärken sind offensichtlich. Ortsgemeinden haben eine geografische Nähe mit gewachsenen volkskirchlichen Chancen und Kontaktbrücken. „Fresh expressions“, deren Sozialformen weniger vorgegeben und durch ihre jeweiligen Trägerkreise geformt werden, haben ihre Stärken eher in kirchenfernen Milieus und setzen auf Beziehungsnetzwerke und ganzheitlich gelebte Gemeinschaft. Ihr Ansatz lässt sich so zusammenfassen: Früher haben wir Menschen zu unseren Veranstaltungen in die Kirche eingeladen (Komm-Struktur). Danach sind wir zu den Menschen gegangen, um sie an ihren Lebensorten zu uns einzuladen (Geh-Struktur). Nun bleiben wir bei den Menschen, um mit ihnen in ihren Lebenswelten neue gemeindliche Formen zu entwickeln.3

Während der intensiven Reflexionsphasen auf drei ökumenischen Studienreisen nach London zwischen 2009 und 2011 und auf flankierenden Studientagen entwickelte sich nicht nur ein wachsendes ökumenisches Netzwerk in Landeskirche und Bistum, sondern auch eine vertrauensvolle Weggemeinschaft untereinander. Das Lernen am dritten Ort ermöglichte uns, jenseits von konfessioneller Trennschärfe gemeinsame Entdeckungen zu teilen und die Konsequenzen unserer Erfahrungen für unsere jeweilige Kirchenlandschaft zu bedenken.4 Unser Miteinander entwickelte sich zu einem lebendigen Kommentar der ersten vier Artikel der Charta Oecumenica5: Gemeinsam im Glauben zur Einheit der Kirche berufen, gehen wir aufeinander zu und handeln gemeinsam mit dem Ziel, das Evangelium zu verkünden.

Als im Frühjahr 2011 in Filderstadt bei Stuttgart der Kongress Gemeinde 2.0 mit dem Transfer von anglikanischen Erfahrungen in süddeutsche kirchliche Kontexte nach extrem kurzer Werbephase über 800 Menschen anlockte,6 lag der Gedanke auf der Hand: Wir möchten den uns herausfordernden Horizont einer Kirchenentwicklung in ökumenischer Weite noch weiteren Menschen mit Leidenschaft für ihre Kirche im norddeutschen Raum bzw. darüber hinaus zugänglich machen. Neben den inspirierenden fresh expressions of church in England wollen wir auch andere weltkirchliche Impulse (u. a. aus dem Bistum Poitiers7, den Philippinen sowie den USA8) und vor allem die Dynamik der vielen kleinen Aufbrüche in unseren Kirchen wahrnehmen.

Das „energetische“ Anliegen – der Horizont des Aufbruchs

Zwei Hypothesen lagen der inhaltlichen Kongressplanung zugrunde:

1. Wenn die Kirche in Zukunft nah bei den Menschen bleiben bzw. überhaupt wieder in die lebensweltliche Nähe der Menschen rücken möchte, gelingt dies nur über Netzwerke von unterschiedlichen kirchlichen Orten mit gemeinsamer, missionarischer Ausstrahlungskraft und neuen pastoralen Strukturen. Basis für diesen Ansatz bildet die gemeinsame Berufung aus der Taufe. Die unterschiedliche Differenzlogik der Konfessionen, die zwischen Laien und Klerus, Geistlichen und „Nicht-Theologen“, Ehrenamtlichen und beruflich Tätigen unterscheidet, entfaltet die verschiedenen Charismen, die mit der einen Taufe gegeben sind. Kirche baut sich von den Getauften her auf, lokal, an unterschiedlichen Orten, in verschiedenen Formen. Für diese ekklesiologische Wende muss ein bislang dominierendes Kirchenbild, das sich auf die Ortsgemeinde als die Sozialform und den Priester bzw. Pastor als die religiöse Repräsentanz von Kirche konzentriert, verflüssigt und das allgemeine Priestertum der Getauften als Ausgangspunkt von kirchlicher Entwicklung entdeckt werden. Die Frage nach einer neuen Kultur des Kircheseins, nicht nach der Struktur, wird zur Schlüsselfrage der Zukunft. Diese Frage lässt sich nicht an den konkreten Menschen als den Subjekten von Kirche vorbei beantworten – und auch nicht vorbei an jener ebenso unberechenbaren wie notwendigen Inspiration des Geistes Gottes. Wie Kirche zu gestalten ist, wird zur Frage aller, nicht nur von Expertinnen und Experten. Rückblickend formuliert eine Teilnehmerin: „Dieser Kongress hat mich beflügelt. Viele Ideen habe ich mitgenommen und einiges von dem, was uns Hauptamtliche erzählen, kann ich jetzt besser verstehen und einordnen. Vorher hatte ich oft das Gefühl, dass wir Ehrenamtlichen als Lückenbüßer, die nichts kosten, verheizt werden sollen. Nun sehe ich, dass wir gestalten können und sollen und dass wir ernst genommen werden. Hoffentlich bewahrheitet sich das auch bei uns.“

2. Der Wandel der Kirchenbilder und die Entdeckung der eigenen Berufung aus der Taufe heraus kann gewollt, aber nicht gemacht werden. Als geistlicher wie als Bildungsprozess ist er unverfügbar. Dazu braucht es einen Mentalitätswechsel, der weder angeordnet noch geplant werden kann. Es gibt jedoch ästhetische wie inhaltliche Faktoren, die eine disponierende Wirkung für diese an sich unverfügbaren Prozesse haben. Überzeugende und inspirierende kirchliche Beispiele können deutlich machen, dass Kirche noch ganz anders aussehen kann, als ich sie bisher erlebt habe. Menschen mit Passion können mir den Weg zu den Quellen weisen, die das eigene kirchliche Engagement nähren. Visionäre und prophetische Blicke können mir die Gegenwart neu deuten und Horizonte öffnen, die ich bislang nicht wahrgenommen habe – und all dies in ökumenischer Weite. Vervielfä ltigung der Wahrnehmungsperspektiven aber eröffnet die Erfahrung von Freiheit und den Zuwachs von Handlungsmöglichkeiten. Wo hier noch Begeisterung einzieht, kann ich mich neu auf den Weg machen – vom Gipfel eines Kongresserlebnisses hinab in die Niederungen meines kirchlichen Alltages, der für mich neu zum Land der Verheißung geworden ist.

Für das Konzept des Kongresses bedeutete dieser primär „energetische“ Ansatz: Wir verteilen keine fertigen Rezepte, sondern erzählen Geschichten. Wir bieten primär Anschauungsbeispiele von Lebensorten und -formen des Glaubens und weniger programmatische Soll-Abstraktionen. Wir versuchen den verhängnisvollen Konjunktiv zu vermeiden, der vielstimmig tönt, wie Kirche zu sein hätte, was sie alles noch machen müsse etc., um dann doch nur das Überforderungsgefühl zu steigern. Wir orientieren uns in der Dramaturgie des Kongresses nicht am Proporz im Blick auf die veranstaltenden Kirchen, sondern am Interesse der Teilnehmenden. Wir nehmen in den Blick, was sich in den unterschiedlichen Erfahrungen, Initiativen und Aufbrüchen als gemeinsames Bild für eine Kirche der Zukunft abzeichnet. Wir schaffen Raum für Partizipation und informelle Begegnungen, wir vernetzen – bereits im Vorfeld – über Social Media und natürlich auch auf dem Kongress. Ein Sechstel der Angebote im Bereich der Workshops und im Networkingbereich konnten wir über ein offenes Mitwirkungsportal auf der Web-site generieren. Wir bieten eine „mixed economy“ an Frömmigkeits- und Milieustilen. Und wir feiern in den liturgischen Teilen, die sich durch die Plenarveranstaltungen ziehen, dass die Geschichte der einen, allgemeinen Kirche mit einem verheißungsvollen Indikativ beginnt – „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,13). Damit wurden die liturgischen Teile nicht zum frommen Sahnehäubchen, sondern zum selbstverständlichen Ausdruck des geteilten Lebens während der Kongresstage. Treffend formulierte es ein Teilnehmer: „Der spirituellste Raum war die ‚selbstverständliche‘ Ökumene, die über dem ganzen Kongress schwebte.“

Inspiration und Interaktion – die Struktur des Kongresses9

Die Struktur des Kongresses bestand aus den vierstündigen Vorkonferenzen am 14. 2. und den beiden Kongresstagen am 15. und 16. 2. 2013. Die Vorkonferenzen griffen unterschiedliche Themen auf und vertieften sie mit Impulsen, Praxisbeispielen und interaktiven Formen sowie Beratungsangeboten. Hier trafen sich Experten, Expertinnen und Interessierte für ein Themenfeld. Die Themenpalette reichte von ökumenischen Werkstätten zu lokaler Kirchen- und Gemeindeentwicklung, zu Glaubenskursen und Fundraising über „Mission-shaped church“ mit englischen Gästen, kreativen Gemeindeformen „out of the box“ bis hin zu Kirche mit jungen Menschen, Impulsen aus der Weltkirche sowie einer Vorkonferenz für Theologiestudierende. Die Plenarveranstaltungen erzählten und bebilderten das Anliegen des Kongresses. Sie nahmen die Teilnehmenden mit auf die ökumenische Spurensuche nach Gemeinden für morgen und erzählten von Glaubensgeschichten und neuen Aufbrüchen in England, Frankreich und den USA. Sie zeigten, wie Wandel in einer großen Kirche wie in England möglich ist und was sich an neuen kirchlichen Erfahrungen bei uns formiert. Sie benannten die Schlüsselfaktoren für Veränderung und ermutigten für nächste Schritte.10 Die 23 Foren boten mit namhaften Referenten und Referentinnen eine ökumenisch besetzte Mischung aus Impulsen, Beispielen und Interaktion zu jeweils einem Themenschwerpunkt: z. B. Musik oder Gottesdienst, ländliche Räume oder Kirche in der Stadt, Weltkirche und geistliche Gemeinschaften, Lebensweltforschung und Kirchenentwicklung, Konversion und Glaubensweitergabe, traditionelle Verkündigungsformen und Social Media, Evangelisierung und Gemeinwesenarbeit. Die 69 Workshops öffneten Einblicke in die Praxis: Beratungs- und Gesprächsangebote, Modelle der Hoffnung, Handwerkszeug für Gemeindeentwicklung, Tipps für Haupt- und Ehrenamtliche, Bedeutung von Räumen, Fundraising und vieles mehr. Sie waren in fünf Themenrubriken geordnet, die das inhaltliche Portfolio des Kongresses deutlich machten: Kirchenentwicklung, Leitung, Lebenswelt und Kirche, Glauben entdecken und neue gemeindliche Formen.11 Im Networkingbereich begegneten sich Menschen aus unterschiedlichen Initiativen und Projekten; hier fanden sich interessante Gesprächspartner und tauschten Erfahrungen aus. Geistliche Räume setzten einen Kontrapunkt zu Kommunikation und Interaktion und luden zu einer Atempause ein.12 Ein Teilnehmer kommentiert das Veranstaltungsdesign im Rückblick so: „Das Format ist perfekt: Menschen in Verantwortung für ihre Gemeinden und Kirchen treffen sich in bunter Mischung – evangelisch und katholisch; freiwillig und beruflich; aus Nord und Süd; alt und jung; kritisch und konventionell etc. – und arbeiten an den anstehenden Fragen. Dazu helfen ihnen vielfältige Impulse, deren Auswahlkriterium Innovation und Inspiration sind.“

Die Vielfalt von Formaten und Orten verband sich mit der Architektur des Tagungsortes zu einer besonderen Momentaufnahme für die Kirche der Zukunft: „Das futuristisch anmutende Tagungszentrum, wie ein Raumschiff oder ein großes Zelt auf dem ‚Messe‘-Gelände (Missa), stellte seinerseits geeignete Räumlichkeit und Symbolik für eine Kirche dar, die sich nicht in der Sakristei verstecken will, sondern sich mit ihrem Gotteszeugnis auf die Areopage der Gesellschaft wagt, die sich so verletzlich und angreifbar macht und gerade damit ihrer Sendung (Mission) Gestalt gibt.“13

Die 1350 Teilnehmenden verteilten sich hälftig auf katholische und evangelische Kirchen. Schwerpunktmäßig kamen sie aus Niedersachsen, doch strahlte der Kongress in alle Bundesländer und bis in die Schweiz und nach Österreich aus. Neben den Angehörigen der Landeskirchen waren auch Vertreterinnen und Vertreter aus evangelischen Freikirchen angereist und wirkten bei Veranstaltungen mit.

Zum Aufbau des Buches

Die Beiträge im Buch nehmen einzelne Facetten der Dynamik des Kongresses auf, ohne seine Gesamtatmosphäre widerspiegeln zu können. Abgedruckt sind ein Großteil der Plenarbeiträge sowie ausgewählte Beiträge aus den Foren und einzelnen Workshops. Fünf große Themenblöcke zeichnen die innere Logik des Kongresses nach. Inspirationen aus der Weltkirche durchbrechen die Fixierung auf die bundesdeutsche kirchliche Situation, relativieren die eigenen Problemlagen und zeigen Möglichkeiten kirchlicher Formatierungen in anderen Kontexten und Kulturen auf. Hier wird in Ansätzen das Potenzial einer weltweiten Kirche als Lerngemeinschaft sichtbar, die aufmerksam aufeinander hört und voneinander lernt und damit das paulinische Bild der Kirche als Leib Christi anschaulich macht. Ob Berichte über die fresh expressions of church aus England mit einem deutschen Kommentar, Einblicke in den Umbau der Pastoral und der Initiative der örtlichen Gemeinden in der französischen Diözese Poitiers oder Impressionen aus der Kirchenentwicklung im asiatischen Raum – alle Beiträge bieten Momentaufnahmen aus spannenden, lokalen Prozessen. Eine Konvergenz sei vorab bemerkt: Das ereignishafte Moment von Kirche tritt in den Vordergrund. Mit Graham Cray gesprochen: „Kirche ist ein Verb“.

Die Herausforderung, das Evangelium mit jeder Generation wieder neu zu entdecken, führt zu einer neuen Aufmerksamkeit für das Lokale und Lebensweltliche sowie einer diakonalen Kontextbezogenheit. Der „Aufbruch in die Lebenswelten“ beginnt zunächst als nüchterne Wahrnehmung der Kommunikationshürden der Kirche im Blick auf die unterschiedlichen Milieus und Lebenswelten, die Heinzpeter Hempelmann und Matthias Krieg aus verschiedenen Perspektiven beschreiben. Für eine „milieuübergreifende Kommunikation des Evangeliums“ (Hempelmann) gilt es, das „kulturelle und das religiöse Kapital der Lebenswelten“ (Krieg) wahr- und aufzunehmen. Diese Herausforderung wird nicht vorschnell operationalisiert, sondern durch eine fundamentale Besinnung auf den Glaubensbegriff und eine kreative Neubestimmung des Evangeliums als „Botschaft vom Guten“ geistreich unterbrochen (Matthias Sellmann). Es ist dieses Evangelium selbst, das uns aus der „Verkirchlichungsfalle“ herausführt, mit Menschen unterschiedlicher Lebenswelten verbindet und uns an der Seite Jesu zur Kirche macht. Christina Brudereck bebildert mit ihrer poetisch erzählten Geschichte einer Gemeindeneugründung in Essen diesen Perspektivenwechsel eindrücklich. Harald Schroeter-Wittke buchstabiert am Thema Musik die „ästhetische Millimeterarbeit“ zwischen milieubezogenen und milieuverengten Ansätzen heraus. Gerhard Wegner fragt nach Gottes Gegenwart im sozialen Raum, um diesen nicht nur als Objekt kirchlicher Sendung, sondern als Ort begreifen zu können, in dem Gott bereits wirkt.

Wo sich die Kirche auf die pluralen Lebenswelten einlässt und sich damit in ihren Formen verflüssigt, stellt sich die Frage, wie sich im Rahmen der überkommenen institutionellen Gestalt der Kirche die neuen Räume für Innovation und Experimente einstellen. Wie lässt sich Wandel gestalten? Aus organisationssoziologischer Sicht beantwortete Valentin Dessoy diese Frage mit einem Plädoyer für den Umbau: „Kirche muss die Tradition wahren und systematisch Innovation vorantreiben, ausgehend vom Bestehenden unbekanntes Terrain erkunden, Trampelpfade verlassen und neue Wege gehen.“ Die von ihm angemahnten Konsequenzen für ein grundlegend gewandeltes Verständnis von Führung und Leitung beleuchten die Beiträge von Damian Feeney und Burghard Krause unter dem Stichwort der missionalen bzw. geistlichen Leitung. Der ökumenische Beitrag von Hans-Hermann Pompe und Hubertus Schönemann befragt den Missionsbegriff nach seinen Ressourcen für den kirchlichen Umbau und bezieht ihn zurück auf die gemeindlichen Wirklichkeiten. Mission setzt in Bewegung und lockt die Kirche auf ungewohnte Pfade. An diese Perspektive knüpft Carsten Hokema an, indem er unter dem Motto „Wir gehen hin“ einen Einblick in die missionarische Praxis im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland gibt. Die Verbindung von lebensweltlicher Orientierung und missionarischer Dynamik steht im Mittelpunkt des Beitrages von Markus Weimer. Er berichtet vom Transfer der anglikanischen Bewegung „Fresh Expressions of church“ in deutschsprachige Kirchenlandschaften. Michael Herbst und Klemens Armbruster fokussieren das Thema Wandel biografisch, indem sie unterschiedliche Konversionsprozesse bei Erwachsenen untersuchen und Konsequenzen für kirchliches Handeln aufzeigen. Ihre Ausführungen unter den Überschriften „Wie finden Erwachsene zum Glauben“ – „Wieso verlieren Erwachsene ihren Glauben?“ führen zu keinem Widerspruch, sondern zu einer notwendigen Ergänzung. Das Finden und Verlieren des Glaubens kann zwar Anfangs- oder auch Enddaten in einer religiösen Biografie bezeichnen, ist aber in der Regel kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess. Glaube ist weder fixiertes Datum noch Besitz, sondern Ausdruck einer lebendigen Beziehung und daher auch als lebenslanges Lernen beschreibbar. Kirche wird damit zur Lerngemeinschaft der immer wieder neu anfänglich Glaubenden. Die hiermit implizierten ekklesiologischen Konsequenzen resümiert Christian Hennecke unter „Wandel2“ und bietet mit seinen „zehn Wegmarken ins Neuland“ eine ebenso pointierte wie wegweisende Zusammenfassung: Kirche als eine Vielfalt lokaler Ausdruckformen, die in der Bezogenheit auf ihre Mitte, Christus, ihre Einheit findet.

Diese bunte Vielfalt beschreiben die Beiträge im nächsten Kapitel, das unterschiedliche kirchliche Orte und Kontexte zum Thema hat. Der grundlegende Rückblick des Neutestamentlers Thomas Söding weist unter dem Motto „Auf hoher See“ anhand von ausgewählten biblischen Episoden der Kirche einen besonderen liquiden Ort zu. Wie sich diese Liquidität zwischen grundlegendem Auftrag und vielfältigen Formen im Gottesdienst und der Eucharistie als Grundvollzüge der Kirche ausdrückt und ihren Weg zwischen Vielfalt und Einheit findet, beleuchten aus evangelischer und katholischer Perspektive Jochen Arnold und Stephan Winter. Unter dem Motto „Leidenschaftlich predigen“ ermutigen Fabian Vogt und Br. Paulus Terwitte den Prediger und die Predigerin, persönlich Gesicht zu zeigen und sich im Gespräch zwischen Gott und der aktuellen Predigtgemeinde zu riskieren. Als Kontrapunkt stellt Jürgen Marcus mit der Caritas bzw. der Diakonie einen ebenfalls riskanten kirchlichen Ort vor. Denn hier wird das extrovertierte Evangelium ohne liturgischen Schutzraum wirksam in existenziellen Fragen und Inhalten: in Krankheiten und Krisen, in Trauer und Angst, in Ausweglosigkeit und Exklusion. Die damit verbundenen Herausforderungen für ein neues Miteinander von Gemeinde und Caritas/Diakonie werden provokant formuliert. Einen anderen kirchlichen Ort nimmt der Pariser Soziologe Michael Hochschild mit den geistlichen Gemeinschaften und Orden aus katholischer Perspektive in den Blick. Sein Titel „Im Fluss fließt die Quelle“ signalisiert, dass Orden und Bewegungen der Kirche nicht statisch gegenüberstehen, sondern sich ebenfalls in Wandlungsprozessen befinden. Ergänzend soll darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Bedeutung und Ausstrahlung dieser verdichteten geistlichen Erfahrungsräume für die Gesamtkirche natürlich um ein ökumenisches Phänomen handelt. Die besondere Situation der ländlichen Räume rücken Thomas Schlegel und Martin Alex als entscheidendes Experimentierfeld für die kirchliche Zukunft in den Fokus und wagen dabei auch katholische Seitenblicke. Philipp Elhaus beschreibt mit den Stichworten „Türen öffnen, Vielfalt gestalten, Experimente wagen“ Herausforderungen für eine Kirche in der Stadt. Die abschließenden Beiträge summieren unterschiedliche Aspekte und fügen einzelne Mosaiksteine zu einem Gesamtbild. Während Martin Wrasmann dem „Mehrwert“ von Kirche als einem Netzwerk unterschiedlicher kirchlicher Orte nachgeht, würdigt Klaus Grünwaldt diese als jeweils konkrete Konfigurationen von Kirche in Zeit und Raum. Wie sich diese Konkretionen verflüssigen und dabei neue Konturen bilden können, macht Maria Herrmann deutlich, indem sie die Bedeutung der Social Media auf dem Kongress reflektiert und als Ort für die Erfahrung von Kirche profiliert.

Ein vierfacher Ausblick beschließt das Buch. Die Beiträge von Michael Herbst und Nicholas Baines präsentieren noch einmal Originaltöne des Kongresses. Der Greifswalder Theologe ermutigt zu kirchlicher Vielfalt in der Mission Jesu. Der anglikanische Bischof stellt in seinem Sendungswort als Aufgabe der Kirche heraus, „einen Raum zu schaffen, in dem Menschen herausfinden können, dass Gott sie schon gefunden hat“.

Das Herausgeberquartett schließt den thematischen Spannungsbogen. Die Ausführungen zu einer Ökumene der Sendung von Dagmar Stoltmann-Lukas und Dirk Stelter zeigen programmatisch, in welchem Kraftfeld sich die Dynamik des Kongresses entwickelt hat und welches ökumenische Potenzial hier für die Praxis und das theologische Begreifen der Kirche zu heben ist. Der Schlussbeitrag von Christian Hennecke und Philipp Elhaus zeichnet die Vision nach, die im Kongress sichtbar und erfahrbar wurde, und öffnet Zukunftshorizonte. Diese verbinden sich mit der Hoffnung, dass sich dieser Aufbruch einer missionarischen Ökumene weit über das „norddeutsche Pfingsten“ im Februar 2013 in Hannover hinaus verbreitet.

Die bunte Vielfalt der Beiträge macht das Buch zu einem Vielstimmenbuch mit sowohl stilistischen als auch inhaltlichen Unterschieden. Auf dem Kongress flossen diese vielen Stimmen zu einer gemeinsamen Melodie zusammen, die das Abenteuer des Geistes intonierte: Kirche mit und bei den Menschen an vielen Orten und in vielen Formen zu entdecken. Eine beschwingte Melodie, die ohne Verlustängste mit Neugier in die Zukunft blicken lässt. Ob sich bei der Lektüre ein entsprechender Eindruck einstellt, bleibt dem Urteil der Leserin und des Lesers überlassen.

Für die Veröffentlichung haben wir den mündlichen Charakter der Beiträge beibehalten, die daher weitgehend ohne ausführliche Anmerkungen und Bezüge auf die Fachliteratur auskommen. Eine eingehendere theologische Reflexion steht noch aus. Die Tatsache, dass unmittelbar vor und nach dem Kongress sowohl in einschlägigen Zeitschriften als auch in Büchern zentrale Themen des Kongresses bedacht wurden,14 weist nicht nur auf die Aktualität der ekklesiologischen Fragestellungen hin, sondern lässt auch darauf hoffen, dass sich hier ein neuer ökumenischer Diskurs abzeichnet. Ein Diskurs, der jenseits der alten konfessionellen Trennlinien erfolgt und mit überraschenden Seitenwechseln und Konvergenzen aufwartet, die einer Ökumene der Sendung neue Impulse verleihen.

Wir danken allen Autoren und Autorinnen, dass sie uns ihre Beiträge so zeitnah zur Verfügung gestellt haben, sowie Wiebke Alex für die umsichtige Redaktion. Ein besonderer Dank gilt auch allen Einrichtungen, die uns den Kongress und damit die Realisierung dieses Buches durch ihre Unterstützung ermöglicht haben. Allen voran die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und das Bistum Hildesheim, die die ökumenische Experimentierfreude ihrer Fachreferenten und -referentinnen in vielfacher Weise ermutigt haben und unterstützen.

Philipp Elhaus, Christian Hennecke, Dirk Stelter und
Dagmar Stoltmann-Lukas

1. Vgl. ausführlich zur Vorgeschichte: Philipp Elhaus, Kirche2 – eine Vision wird Wirklichkeit, in: Lebendige Seelsorge 1/2013. Fresh expressions of church, 25–30.

2 Vgl. den gleichnamigen Buchtitel „Mission bringt Gemeinde in Form“, deutsche Übersetzung von „Missionshaped church. Church planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Context (2004), hg. v. Michael Herbst, Neukirchen-Vluyn, BEG Praxis, 3. Aufl. 2008.

3 Vgl. umfassend Michael Moynagh, Church for every context. An introduction to theology and practice, London 2012.

4 Philipp Elhaus, Christian Hennecke (Hg.), Gottes Sehnsucht in der Stadt. Auf der Suche nach Gemeinden von Morgen, Würzburg 2011.

5 Die Charta Oecumenica wurde am 22. April 2001 in der Straßburger Kirche Saint Thomas vom Vorsitzenden der Konferenz Europäischer Kirchen und vom Präsidenten des Rates Europäischer Bischofskonferenzen unterzeichnet und damit von den Kirchen Europas angenommen. Wortlaut der Charta Oecumenica: www.oekumene-ack.de/Charta-Oecumenica.179.0.html.

6 Heinzpeter Hempelmann, Michael Herbst, Markus Weimer (Hg.), Gemeinde 2.0. Frische Formen für die Kirche von heute, Neukirchen-Vluyn 2011.

7 Reinhard Feiter, Hadwig Müller (Hg.), Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof. Ermutigende Erfahrungen der Gemeindebildungen in Poitiers, Ostfildern 5. Auflage 2012.

8 Matthias Sellmann, Katholische Kirche in den USA: Was wir von ihr lernen können, Freiburg 2011.

9 Einen schönen Überblick zum Kongress bietet der Beitrag von Hubertus Schönemann, Mut zum Experiment. Ein ökumenischer Kongress sucht neue Wege des Kircheseins, Herder Korrespondenz (67) 4/2013, 187–191.

10 Die Vorträge sind als Videoclips eingestellt und können unter http://www.youtube.com/kirchehoch2 eingesehen werden.

11 Vgl. zum Programm die ausführlichen Informationen auf http://kirchehochzwei.hkdh.de/cms/content/programm.

12 Lesenswerte Einblicke in einzelne Veranstaltungen und den Marktbereich bietet der Medienpool unter www.kirchehochzwei.hkdh.de/cms/mediapool. Als „Storify“ lässt sich der Kongress über Twitter-Tweeds nacherleben: www.kirchehochzwei.hkdh.de/cms/blog/social-und-media.

13 Hubertus Schönemann, ebd. 188.

14 Vgl. Lebendige Seelsorge, 1/2013, Fresh expressions of church, mit katholischen und evangelischen Beiträgen; Praktische Theologie, 1/2013, Neue Formen von Gemeinde; Matthias Sellmann (Hg.), Gemeinde ohne Zukunft? Theologische Debatte und praktische Modelle, Freiburg 2013; Eberhard Hauschildt, Uta Pohl-Patalong, Kirche. Lehrbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2013.

Inspirationen

Graham Cray

Kirche ganz frisch1

1. Mission-shaped Church

Der Arbeitszweig „fresh expressions“ (neue Ausdrucksformen von Kirche) in der Kirche von England begann mit der Publikation des Berichts „Mission-shaped Church“ (Mission bringt Gemeinde in Form) über „Gemeindepflanzungen und neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in einem sich wandelnden Kontext“, den die Generalsynode im Februar 2004 verabschiedet hat.2

Damals waren in der Kirche von England bereits 30 Jahre lang neue Gemeinden gepflanzt worden. Der Bericht wertete diese Entwicklungen aus, führte den Begriff „fresh expressions of church“ ein und gab Empfehlungen aus. In jeder Diözese sollte es eine Strategie zur Förderung und Ausstattung von Gemeindepflanzungen und „fresh expressions of church“ geben, die der netzwerkorientierten und nachbarschaftlich geprägten Realität der Gesellschaft und der Missionssituation entspricht. Diese Strategie sollte in ökumenischer Zusammenarbeit entwickelt werden.

In den ersten acht Jahren nach der Veröffentlichung von „Mission-shaped church“ geschah Folgendes:

– die Einsetzung eines nationalen „Fresh-Expressions-Teams“ in Zusammenarbeit mit mehreren Konfessionen; die Methodistische Kirche war von Anfang an als Partner dabei.

– Anglikanische Missionsorganisationen (Church Mission Society und Church Army) machten dies zum Schwerpunkt ihrer Arbeit in Großbritannien. Die 24/7-Gebetsbewegung schloss sich der Partnerschaft an.

– Ein neuer Berufszweig innerhalb des ordinierten Gemeindedienstes wurde eingerichtet. 136 Kandidaten wurden in sieben Jahren für den Ausbildungsgang zum Ordinierten Pionierpastoren (Ordained Pioneer Ministers) empfohlen.

– Ein neuer kirchenrechtlicher Rahmen für Netzwerkgemeindepflanzungen, eine bischöfliche Missionsordnung (Bishop’s Mission Order), wurde geschaffen.

– Die Generalsynode bestätigte diese Strategie einstimmig nach sechs Jahren und dann noch einmal 2012 durch einen Bericht des Ausschusses für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order Report).

– 2010 gab es bereits 2000 neue „fresh expressions of church“, je 1000 in der Kirche von England und in der Methodistischen Kirche.

– 60 000 Menschen zählten sich zu diesen neuen gemeindlichen Ausdrucksformen.

Nationale Strategie

Die Kirche von England setzt sich für die Teilnahme an Gottes Mission durch die Entwicklung einer Mischwirtschaft („mixed economy“) von neuen Ausdrucksformen von Kirche neben traditionellen Parochialgemeinden ein. Der Begriff der Mischwirtschaft ist von Erzbischof Rowan Williams eingeführt worden, um auszudrücken, dass wir uns sowohl dem traditionellen Gemeindedienst als auch den neuen Ausdrucksformen verpflichtet sehen. Es geht nicht um eine Entscheidung für die traditionellen oder für die neuen Formen, sondern um ein Sowohl-als-auch. „[Heute sind die neuen Ausdrucksformen] nicht mehr eine Art Randerscheinung oder Freizeitbeschäftigung der Kirche von England. In den vergangenen Jahren sind sie immer mehr zu einem selbstverständlichen Teil unserer Entwicklung und unseres Wachstums als Leib Christi geworden“ (Rowan Williams).

2. Was sind „fresh expressions“?

Wir verstehen die neuen Ausdrucksformen von Kirche als eine Kirchenform für unsere sich wandelnde Kultur, die zuallererst für jene Menschen geschaffen werden, die noch nicht Mitglieder einer Gemeinde sind.

Man beachte, dass die Kirche von England keine formale Kirchenmitgliedschaft kennt, so dass der Ausdruck „die keine Mitglieder sind“ solche Menschen meint, die nicht am Gottesdienst teilnehmen und die die Relevanz des Evangeliums für ihr Leben noch nicht entdeckt haben.

Die neuen Ausdrucksformen von Kirche können verschiedene Gestalt haben. Neuere Untersuchungen haben 17 verschiedene Modelle in einer Diözese gefunden. Es gab Zellgruppengemeinde, Café-Kirche, Jugendkirche, Überraschungskirche, Netzwerkgemeinde, neue monastische Gemeinschaften und vieles mehr.

Wie auch immer dieses jeweilige Modell konkret aussieht, eine „fresh expression“ ist durch vier Charakteristika gekennzeichnet:

– missional

Sie will für Menschen da sein, die sonst nicht zur Kirche gehen.

–kontextbezogen

Sie will in den Kontext passen, in dem sie ihren Ort hat.

– gestaltungsorientiert

Sie will ein Leben in der Nachfolge Jesu fördern.

– kirchlich

Sie will Kirche werden, eine eigenständige Gemeinde sein, nicht Brücke zu einer bereits bestehenden Gemeinde.

Diese Arbeit stellt sich einer dreifachen Herausforderung: Dem Rückzug des Christentums angesichts des veränderten Verhältnisses zwischen Kirche und Gesellschaft, massiven kulturellen Veränderungen im Westen und dem zahlenmäßigen Rückgang sowie alternden Gemeinden.

Sie ist aber auch zentralen anglikanischen Werten verpflichtet und knüpft damit an die Tradition an:

– Sorge für die Seelen (Cura Animarum): Wenn ein Priester in eine Gemeinde eingesetzt wird, erklärt der Bischof: „Empfange die Sorge für die Seelen, die du und ich gemeinsam tragen; im Namen des Vaters, und des Sohnes, und des Heiligen Geistes. Amen.“ Anglikanische Priester sind nicht nur Prediger mit Zuständigkeit nur für ihre Gottesdienstgemeinden, sondern sie sind zur Verantwortung für das geistliche Wohl (die Sorge für die Seelen) aller in der Parochie berufen. Allerdings haben in England 34 % aller Erwachsenen keine Verbindung zu einer Kirche in ihrer Lebenszeit, und bei weiteren 31 % hat einmal eine Verbindung bestanden, die aber verloren gegangen ist.

– Erklärung der Einwilligung („declaration of assent“), die jeder Priester bei der Ordination und Beauftragung mit jedem neuen Amt leistet: „Die Kirche von England … bekennt den Glauben, wie er einmalig in den Heiligen Schriften offenbart und in den katholischen Bekenntnissen ausgelegt wurde, den Glauben, den die Kirche neu („afresh“) in jeder Generation zu verkünden berufen ist, um damit dieser Generation die Gnade und Wahrheit Christi zu bringen.“ Dieser Wille, das Evangelium neu zu verkünden, ist der Grund für die Begriffsprägung „fresh expression of church“.

3. Theologische Grundlagen

Es gibt weitere theologische Grundlagen dieser Arbeit:

– Die Kirche ist eine Gemeinschaft, die Jesus begegnet.

In seinem Vorwort zum Bericht „Mission-shaped Church“ schrieb Erzbischof Rowan: „Wenn ‚Kirche‘ dort Gestalt bekommt, wo Menschen dem auferstandenen Jesus begegnen und ihr Leben darauf ausrichten, diese Begegnung in der Begegnung miteinander fortzuführen und zu vertiefen, dann gibt es theologisch gesehen genügend Raum für eine Vielfalt bei Rhythmus und Stil.“3

– Die Kirche nimmt an der Mission Gottes teil.

Der zur Kirche von Schottland gehörende Theologe James Torrance schrieb: „Die Mission der Kirche ist das Geschenk der Teilnahme durch den Heiligen Geist an der Mission des Sohnes, die vom Vater ausgehend in die Welt führt.“ Dies ist nach den Worten Jesu in Joh 20,21 f formuliert: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch … Nehmt hin den Heiligen Geist!“

– Dies ist eine inkarnatorische Mission.

Die Teilnahme der Kirche an der Mission Gottes ist inkarnatorisch. Es kann nicht nur darum gehen, Menschen an bereits bestehende Formen von Kirche heranzuführen. „Wenn wir sowohl das Was als auch das Wie von Mission inkarnatorisch auslegen, dann müssen wir unbedingt immer betonen, dass die Inkarnation das einmalige Ereignis ist, das dem Zeugnis der Kirche Grund und Form gibt. … Das Ereignis bestimmt, wie es zur Gestalt gebracht und damit kommuniziert werden muss“ (Professor Darrell Guder, Princeton Theological Seminary).

Kirche ist ein Verb, sie ereignet sich. Insofern gilt: „Christlicher Glaube ist Gestalt gewordener Glaube; Christus nimmt Fleisch an inmitten derer, die ihm im Glauben begegnen. Allerdings gibt es nicht die Menschheit im Allgemeinen; Inkarnation muss immer kulturspezifisch sein“ (Andrew Walls). Mit anderen Worten: Unsere Christologie formt unsere Missiologie, die wiederum unsere Ekklesiologie formt.

– Diese Mission folgt der Leitung des Heiligen Geistes, der die Kirche erschafft als Vorgeschmack auf das Reich Gottes.

All dies erfordert in jedem Kontext neu Unterscheidungsvermögen und ein gehorsames Folgen des missionarischen Geistes. Ich zitiere den anglikanischen Missiologen Bischof John V. Taylor: „Der Hauptakteur bei der Mission der christlichen Kirche durch die Geschichte ist der Heilige Geist. Er ist der Direktor des gesamten Unternehmens. Mission besteht aus dem, was er in der Welt tut. In besonderer Weise besteht sie aus dem Licht, das er auf Jesus Christus konzentriert.“ All dies erfordert Treue gegenüber dem Evangelium, wie es uns überliefert ist, und missionarisches Sich-Einlassen auf eine veränderte und sich verändernde Welt. Dies hat besonders gut Jürgen Moltmann zum Ausdruck gebracht: „In Hinsicht auf die Rückverbindung zu den Aposteln wird die geschichtliche Kirche nach Kontinuität fragen und auf Kontinuität drängen. In Hinsicht aber auf die Zukunft, der ihr Apostolat dient, wird sie für Sprünge und überraschend Neues offen sein.“4

4. Praxis

Im Licht dieser Überzeugungen haben wir eine Praxis für die Pflanzung von neuen Ausdrucksformen von Kirche entwickelt. „Die meisten neuen Ausdrucksformen von Kirche fangen klein an mit den ausgesandten Teams, die damit beginnen, Kirche zu sein“ (George Lings). Die Form der neuen Gemeinde kann ganz verschieden sein. Die Verschiedenartigkeit der Kontexte erfordert verschiedenartige neue Ausdrucksformen von Kirche. Obwohl es eine dominante westliche Kultur gibt, liegt der Schlüssel zur Pflanzung einer neuen Ausdrucksform von Kirche im lokalen Kontext, der sehr unterschiedlich sein kann. Welche Kräfte prägen eine Lokalität? Ist es eine Nachbarschaft oder ein Netzwerk, oder eine Kombination von beiden? Gemeindepflanzen macht ein Studieren des lokalen Kontextes nötig.