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ROLAND BREITENBACH

Das Evangelium zu Fuß

Wege zu einer Spiritualität der Einfachheit

ROLAND BREITENBACH

Das Evangelium zu Fuß

Wege zu einer Spiritualität der Einfachheit

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Sprung in die Moderne

2. Ein Segen sein

3. Schön und unvollkommen

4. Leben in die Tage bringen

5. Schöpferische Verbundenheit

6. Zaumzeug der Liebe

7. Jeder ist anders

8. Leben nach dem Leben

9. Nur eines zählt

10. Heilung und Heil

11. Neustart

12. Sandalen an den Füßen

Vorwort

Lebt als Gemeinde so,
wie es dem Evangelium Christi entspricht
.
(Phil 1,27)

Die Botschaft Jesu hat nichts mit Thronen und Altären, mit Herren und Herrschaften, mit Titel und Ehrenzeichen zu tun. Das Evangelium geht zu Fuß. Jesus wäre als Letztes auf den Gedanken gekommen, sich mit Prunk und Gold zu umgeben oder Kirchen zu bauen. Die freie Natur oder das gastliche Wohnzimmer waren ihm für die Ansage des Reiches Gottes weit lieber. Er wollte den Menschen nahe sein. Deswegen predigte er am liebsten unterwegs, zu Fuß. Dort, wo die Hungernden lagern, Kranke auf Heilung warten, Ausgeschlossene auf ein heilsames Wort hoffen, Menschen das Leben in Fülle ersehnen.

Überall wo die Kirche als eine solche Gemeinschaft erkannt wird, ist der Geist Jesu und seines Evangeliums lebendig. Dort aber, wo die Institution den Vorrang hat, wird die Kirche für Jesus und seine Frohe Botschaft zur Bedrohung.

Es muss in jeder Generation Christen geben, die gegen die Mauern der Kirche und ihre Schwerfälligkeit aufstehen und gegen ihre Unfähigkeit zur Verwandlung Impulse aus dem Geist des Evangeliums geben. Es geht mehr denn je um Christen, die bereit sind, den ewig neuen Geist Jesu radikal und liebevoll zugleich zu leben. Jetzt, mit Franziskus I., sind die Hoffnungen und Erwartungen größer geworden.

Dafür bietet das Evangelium auch heute das Material. Noch lange ist das Potential Jesu nicht ausgeschöpft, wie in den einzelnen Kapiteln des Buches festzustellen ist. Die Kirche ist allzu oft einem trockenen Boden ähnlich, der weder bearbeitet noch bewässert wird. Wie soll da der Same des Reiches Gottes für unsere Zeit aufgehen? Es ist also höchste Zeit, sich an die lebendigen Quellen zu erinnern. Die Saat des Evangeliums hat noch immer Keimkraft. Man muss seine Samen in die Herzen der Menschen legen, evangelisieren statt moralisieren.

Dazu Papst Franziskus: „Für mich bedeutet apostolischer Mut ein Säen, das Wort säen. Es jenem Mann oder jener Frau vermitteln, für die es gegeben ist. Ihnen die Schönheit des Evangeliums geben, das Staunen der Begegnung mit Jesus … und zulassen, dass der Heilige Geist den Rest macht.“ Deswegen muss es weiterhin Christen geben, die den Konzilien voraus sind. Sie lesen und leben das Evangelium mit dem guten Geist Gottes, ohne sich an die Zeit, die Bilder und die Vorstellungen zu binden, in denen es entstanden ist: das Evangelium zu Fuß.

1. Sprung in die Moderne

Die Dogmatik
ist nicht das Fundament des Glaubens.
Sie gibt dem Glauben, je nach der Zeit,
das passende Kleid
.

Wenn unser Glaube an Jesus real sein soll, dann müssen wir uns auf den gleichen Weg machen wie seine Jüngerinnen und Jünger. Der Weg ist der erste Ort des Evangeliums, nicht die Kanzel, erst recht nicht der Lehrstuhl. Bringen wir es auf den kürzesten Nenner: Die Kirche – als die Gemeinschaft der Jesus-Gläubigen – lebt in einer Welt, die mit der Welt der meisten Menschen immer weniger zu tun hat. Die Kirche nennt das Glaubenskrise. Die Menschen in der Welt, die sich allein gelassen fühlen, nennen das Kirchenkrise. Beide Seiten finden so Schuldige. Für die Kirche ist es „die moderne Welt“. Für die Weltmenschen das sture Festhalten der Kirche an überholten Sätzen. Dazu kommt als weiteres Problem, dass bis in unsere Zeit hinein die Kirche an einer Sprache festhält, die kaum noch jemand versteht. Wir, die Älteren in der Kirche, tun uns noch relativ leicht mit den Formulierungen des Glaubensbekenntnisses, das wir von Kindesbeinen an kennen. Den Jungen können wir Sätze wie diese nicht mehr ohne weiteres auferlegen oder abverlangen, obwohl sie bestimmt auch wieder im Neuen Gotteslob abgedruckt sind:

Aus dem Himmel herabgekommen …

In den Himmel aufgefahren …

Sitzend zur Rechten Gottes …

Von dort wird er kommen …

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Für mich ist die Frohe Botschaft durch Jesus von unschätzbarem Wert. Gerade deswegen muss diese Botschaft in den Worten unserer Zeit verkündigt werden, damit sie von allen, die hören wollen, verstanden werden kann.

Wäre Jesus in unsere Zeit gekommen, hätten wir für ihn aus unseren Erfahrungen andere Bilder verwendet. Also keinesfalls ‚Hoherpriester‘ oder ‚Lamm Gottes‘, nicht einmal ‚Sohn Gottes‘. Diese Bilder sind nicht falsch, aber nicht mehr sinnvoll. Sie sind überholt. Jedenfalls wären ‚Bruder‘, ‚Mitmensch‘ ‚Mensch für uns Menschen‘ viel griffiger, weil auch wir Menschen besser und heiliger werden, je mehr wir Mensch, Mitmensch werden.

Krise der Kirche oder des Glaubens

Die Krise

stellt die Weichen für das Leben.

Bis weit in unsere Zeit hinein hat sich die Kirche als „allein seligmachend“ verstanden. Mittlerweile muss sie sich damit abfinden, dass es eine Fülle von religiösen Erfahrungen und Bewegungen gibt. Einige Bischöfe sehen darin sogar schon Anzeichen für eine Kirchenverfolgung in Europa.

Diese vielfältigen religiösen Erfahrungen sollte man nicht abtun, auch wenn sich viele von denen, die sie machen, von der Kirche abwenden, da sie in ihr zu wenig vom Wort, vom Werk, vom Geist Jesu finden. Die Kirche ist zu oft vom Weg abgekommen und hat sich in ‚Gotteshäuser‘ zurückgezogen. Aber an die Erfahrungen am Rande der Kirche lässt sich, besonders wenn man keine Vorurteile hat, durchaus anknüpfen und darauf aufbauen. Dann vor allem, wenn aus der Kirchenkrise nicht gleich und leichtfertig eine Glaubenskrise konstruiert wird.

Wo wohnt Gott

Nach dem gemeinsamen Abendgebet

saßen die beiden Mönche im Garten

und betrachteten den klaren Sternenhimmel.

Der Ältere erklärte dem Jüngeren einige Sternbilder,

bis dieser fragte:

„Gibt es einen Gott hinter den Sternen?“

Der Ältere schwieg einige Zeit.

Dann fasste er den Jüngeren an der Hand und sagte:

„Wenn du Gott nicht in dir findest,

wirst du ihn hinter den Sternen vergeblich suchen.“

Auch wenn die Kirche immer noch an alten Gottesbildern hängen mag – Gott ist anderswo zu suchen als in einer jenseitigen Welt, von der aus er alles regelt und verordnet, sagten die Mystiker schon vor Zeiten. Gott ist in der Tiefe, also im Menschen selbst. Meister Eckhart wäre wegen dieser Aussage beinahe auf dem Scheiterhaufen gelandet. Gott sei „nicht die Antwort auf ein menschliches Bedürfnis. Gott so verstehen hieße, ihn verkleinern und damit verneinen“, so der Jesuitenpater George Coyne, der noch in unseren Tagen daraufhin seine Aufgabe als Hofastronom des Vatikans quittieren musste.

Der große Theologe Karl Rahner betont, dass Gott mit jedem Menschen seine Geschichte hat. Und, so fügen wir hinzu: Jeder Mensch hat auch seine Geschichte mit Gott. Es braucht viel Freiheit und Mut, sich das zuzugestehen.

Der tschechische Professor Tomas Halik, er wurde in den kommunistischen Zeiten heimlich zum Priester geweiht, sagt: „Viele, die mit Gott kämpfen, sind ihm näher als die Gleichgültigen.“ Menschen spüren es heute deutlicher als früher, wo alles seine vorgeschriebenen religiösen Bahnen ging, dass sie ohne Gottesbeziehung nicht ganz sind. Gott und die Menschen miteinander auf einzigartige Weise zu verbinden, das hat Jesus in unsere Welt gebracht. In dieser Nähe und Intensität lässt sich das außerhalb des Christentums kaum finden.

Zugegeben: Früher war alles viel einfacher, als man noch sagen konnte: Das hat Gott gesagt. Das ist der Wille Gottes. Das hat Gott so und nicht anders gemacht. Heute muss der Glaube die Unsicherheit und die Verborgenheit Gottes ertragen. Wieder Halik: „Glaube und Zweifel sind Geschwister. Sie brauchen einander. Wer sich seines Glaubens allzu sicher ist, kann leicht zum Fanatiker werden. Davon haben die Religionen derzeit mehr als genug.“

Du sollst Gott lieben, wie er ist:

ein Nichtgott, ein Nichtgeist,

eine Nichtperson, ein Nichtbild.

(Meister Eckhart)

Wir müssen uns von allen Äußerlichkeiten befreien. Deswegen ist es nicht mehr so leicht, von Gott zu reden. Früher ist uns dieses Wort zu einfach und zu schnell über die Lippen gekommen.

Für mich und meinen Glauben gilt ein wichtiger Satz: In der Menschlichkeit Jesu begegne ich Gott. In den Leiden wie in den Freuden der Menschen; selbst noch in ihrem Versagen. Gott lässt sich im Gesicht der Mitmenschen erkennen, und ich hoffe, dass auch auf meinem Gesicht das Göttliche erkannt werden kann. In der Gerichtsrede nach Matthäus lässt Jesus Gott in der Gestalt des Königs sagen: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Aber auch: Was ihr ihm verweigert, habt ihr mir verweigert. Das Menschliche wie das Allzumenschliche trifft Gott, so sagt es Jesus.

Das ist die Tür, dessen bin ich sicher, die zu Gott führt. Er wartet hinter dieser Tür. Auf der Tür steht das Wort Liebe nach der kurzen Formel, die uns Jesus gegeben hat: „Gott lieben, den Nächsten lieben und sich selbst“. Ein heiliger Dreiklang, auf den wir hören sollen und den wir anschlagen können, wo immer wir sind, um entschlossen durch diese Tür zu gehen. Allem Krisengerede zum Trotz.

Große Teile der Bibel enthalten Verbrauchtes, bestenfalls etwas, das dringend der Aufarbeitung bedarf. Der Beweis dafür lässt sich leicht auf den 54 eng bedruckten Spalten des Buches Leviticus antreten: Dieses biblische Buch strotzt nur so von fragwürdigen Reinheitsvorschriften, Nahrungsverboten, sexuellen Verurteilungen und Todesstrafen, selbst bei Vergehen, die wir heute als geringfügig oder vernachlässigenswert ansehen.

Dennoch gehört die Bibel zu unserem heiligen „Erbgut“, aber es ist eben ein Erbe, das 2000 bis 3000 Jahre alt ist, niedergeschrieben in der Denk- und Redeweise längst verflossener Generationen und einer überholten Weltanschauung.

Entscheidend für uns jedoch ist: Die Texte der Bibel sind der Niederschlag der Gotteserfahrung, die Menschen ihrer Zeit gemacht haben. In den Evangelien, der Apostelgeschichte, den Briefen ist es die besondere Gotteserfahrung, die durch Jesus Christus ausgelöst wurde und die so für die Menschheit jener Zeit, des ersten und zweiten Jahrhunderts, eine ganz neue, weil andere Bedeutung gewonnen hat. Auf einmal ist Gott für die Menschen da und nicht umgekehrt. Gott thront auch nicht mehr hoch über allen Himmeln; er nimmt unsere Gestalt an. Gott herrscht nicht unnahbar in weiter Ferne über die Welt und die Menschen, er begegnet uns in Menschlichkeit. Mit dem Neuen Testament lernen wir Jesus von Nazareth als den von Gott erfüllten Menschen kennen und lieben. Und zwar auf so nachhaltige Weise, dass wir den Weg, den er zeigt, mitgehen wollen. Denn erst mit der Nachfolge werden Worte auf Papier zum Wort Gottes, zur Weisung, zum Leben.

Deswegen können beispielsweise drei Worte aus dem 1. Johannesbrief – ‚Gott ist Liebe‘ – Menschen zutiefst berühren und sie dazu bewegen, in ihrem Leben die Liebe zu verwirklichen.

Das ist für mich zugleich das Eigentliche an den hl. Schriften: Sie wollen schöpferisch sein, in uns etwas auslösen. Das sagt uns, dass sie insoweit ‚Wort Gottes‘ sind, als sie eine Veränderung des Menschen zum Guten bewirken: Versöhnung schaffen, Gerechtigkeit durchsetzen, Frieden stiften, zur Verantwortung anregen. Wo die gleichen Schriften allerdings zu Gewalt, Terror und Blutvergießen anstiften – Stellen dafür gibt es genug –, haben sie das Prädikat ‚Wort Gottes‘ verwirkt.

Das neue Gottesbild

Man kann Gott totschweigen.

Man kann ihn auch totreden.

(Phil Bosmans)

„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ So wie ihn die Menschen denken oder beschreiben. Ansonsten wäre er in unserer Hand. „Sie schufen sich Gott nach ihrem Bild und Gleichnis“, müsste sonst im ersten Buch der Bibel stehen. Gott ist im Verlauf der Zeiten zu einem ganz Anderen geworden, als er uns in der kirchlichen Tradition überliefert wurde: Aus dem Gott-in-der-Höhe wurde ein Gott-mitten-unter-uns. Einer, der für uns da ist.

Die Vergangenheit hatte für Gott eine Fülle von Bildern zur Verfügung, die je nach „Sachlage“ als Froh- oder Drohbotschaft von den Predigern eingesetzt wurden. Wir Heutigen stellen fest: Es gibt keine Worte und Bilder mehr, die ohne weiteres „passen“. Denn je bunter und einander widersprechender die Vorstellungen von Gott waren, angefangen bei Vater über König, Allmächtiger, Herrscher, Richter und Rächer, umso mehr lenkten sie von dem ab, der letztlich unfassbar und unbeschreiblich ist; machten handsam, was nicht zu fassen und zu begreifen ist.

Gott

Auf Drängen seiner Schüler

erklärte sich der Weise bereit,

alles, was er von Gott wisse,

in einem Buch zusammenzufassen.

Wieder und wieder mussten die Schüler nachfragen,

bis sie endlich das fertige Exemplar in Händen hielten.

Doch die Enttäuschung war groß:

Nichts als leere Seiten.

„Nichts,

das ist alles, was wir von Gott sagen können“,

erklärte der Weise.

Unsere Worte über Gott sind „wie Finger, die auf etwas ganz anderes zeigen“ (Lenaers). Wurde in unseren Gebeten, in seinen Geboten Gott genannt, dann zeigte der Finger immer nach oben, in den Himmel, in eine unbegreifliche Ferne. Doch Gott ist nie draußen. Er ist immer schon drinnen. In uns, sagten die Mystiker schon vor fünf, sechs Jahrhunderten – und das ist auch die wichtigste und schönste Erfahrung, die wir Heutigen machen können: Gott ist der Kern, die Mitte eines jeden kosmischen Prozesses. Er ist auch unsere Mitte. In unserem Verständnis gibt es nur noch eine Welt, in der sich Gott wie ein großes Geheimnis offenbart, das vor Liebe überfließt und an dieser Liebe erkennbar ist. Je größer das Geheimnis unserer Welt wird, sagen nicht wenige anerkannte Wissenschaftler, desto tiefer wird unsere Ahnung von Gott in allem.

Diese Gotteserfahrung hat Konsequenzen für den Glauben, für die Lehre und die Ethik der Kirche wie für unser Beten. Mit dem Namen „Gott“ wird auf den tiefsten Grund unserer Wirklichkeit gezeigt. Die Mystiker ringen darum, wie sich diese Wirklichkeit für uns deuten lässt. Besonders drastisch tat das Meister Eckhart schon im 14. Jahrhundert:

Manche Menschen wollen Gott mit den Augen ansehen,

mit denen sie eine Kuh ansehen.

Sie wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben.

Die Kuh liebt man wegen der Milch,

des Käses, des eigenen Nutzens.

So halten es jene Leute mit Gott.

Sie lieben Gott nicht, sie lieben ihren Eigennutz.“

Fragt man Eckhart, wie man Gott begegnen soll, antwortet er: „Der wahrhaft Liebende liebt Gott in allem und findet Gott in allem.“ Und: „Wenn du Gott bei deiner Arbeit im Stall weniger nahe bist als im Hochamt, dann hast du ihn nicht.“