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Holger Dörnemann

Freundschaft

Die Erlösungslehre
des Thomas von Aquin

Holger Dörnemann

Freundschaft

Die Erlösungslehre
des Thomas von Aquin

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Unveränderte Neuauflage von:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

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Geleitwort

Es kommt nicht oft vor, dass eine Doktorarbeit nach einer Reihe von Jahren in einer Neuauflage erscheint. Es muss sich dann um eine Untersuchung handeln, die aufgrund ihres Themas und der Qualität seiner Bearbeitung über den engsten Kreis der Fachvertreter hinaus irgendwo bahnbrechend für neue Wege des Faches, hier: der systematischen Theologie geworden und so das geworden ist, was man ein „Standardwerk” zum Thema nennt.

Holger Dörnemanns Untersuchung zum Begriff der Freundschaft als zentralem – natürlich analogem – Begriff, das Geschehen der Erlösung durch Jesus Christus zu verstehen, gehört zweifellos zu solchen „Standardwerken”. Das leitende Anliegen des Buches ist, die traditionelle (schultheologische) Trennung zwischen Christologie und Soteriologie zu überwinden. Gemeint ist eine Gliederung der christologischen Thematik, die zuerst Person und Werk Christi – zumeist noch verkürzt auf Tod und Auferstehung – betrachtet, vor allem mit ausführlicher Erläuterung der altkirchlichen Bekenntnisse, und dieses dann in sich selbst als abgeschlossenes Ganzes würdigt, als die „objektive” Erlösung. Erst daran anschließend fragt man nach der „subjektiven” Erlösung, also der „Applikation” des „objektiven” Erlösungswerkes auf die Menschen, soweit sie sich ihr öffnen im Glauben an das „ein für allemal” geschehene Werk Christi. Das leitende Interesse dieser abgrenzenden Unterscheidung zwischen „Christologie” und „Soteriologie” ist gewiss legitim: Christi Heilswerk kann in seiner universalen Gültigkeit und Ausrichtung auf die ganze Menschheit herausgestellt werden – und wenn es auf der Ebene der „Applikation” faktisch nicht allen Menschen zugute kommt, liegt das an diesen und nicht an Christus. Zudem hat sich durch die Bekenntnisgeschichte so viel „Stoff” zur Frage nach der Person Christi angehäuft, dass es auch didaktisch geschickt erscheint, diese Thematik zunächst für sich zu behandeln. Und so meint man sich denn auch in der guten Tradition des Thomas von Aquin, der in seiner Summa Theologiae ganz offenbar aus diesen Gründen die Lehre von der Person Christi einschließlich Mariologie (STh III 1–45) trennt von der Lehre über sein Erlösungswerk (STh III 46–59). Doch seit einiger Zeit wird nicht nur von der Sache her, sondern auch in Bezug auf Thomas die Frage gestellt, ob dieses Nacheinander von Christologie und Soteriologie trotz der scheinbaren didaktischen Eindeutigkeit nicht ein Missverständnis ist. Ob also nicht auch bei Thomas die Christologie von vornherein soteriologisch gewendet ist, will sagen: ob das, was über die Person Jesu und sein „objektives” Heilswerk zu sagen ist, von vornherein nicht nur „subjektiv” ausgerichtet ist, sondern sozusagen in einer Interaktion mit dem empfangenden Subjekt geschieht. Das Heilswerk Christi ist kein Depot der Verdienste Christi, aus dem nun Gnadengaben an das gläubige Subjekt ausgeteilt werden, sondern ist durch sich selbst schon ein Geschehen des Austeilens.

In diese jüngere Tendenz der Thomasforschung ordnet Holger Dörnemann sich ein – und macht in eben diesem Zusammenhang das Thema der „Freundschaft” zwischen Gott und Mensch zum Thema: Gottes Sohn ist aus Liebe zu den Menschen selber Mensch geworden, hat den Tod erlitten und ist zu Gott auferweckt worden. Liebe aber zielt durch sich selbst auf Gegenliebe, also auf Gemeinschaft in Freundschaft. Das „objektive” Heilswerk Christi ist also ohne den Gedanken der Begründung von Freundschaft gar nicht zu denken, es sei denn man müsste dieses Heilswerk erst einmal als ohnmächtige Einladung denken, die warten muss, bis die Antwort der Gegenliebe kommt.

Wer unter diesem Aspekt Thomas befragt, muss natürlich seine „subjektive” Soteriologie untersuchen, also seine Gnadenlehre, die in der Lehre von den theologischen Tugenden kulminiert. So führt Dörnemann die Leserinnen und Leser zunächst durch die thomanische Sicht des Verhältnisses von Gottes Gnade und menschlicher Freiheit hindurch zur Lehre von der Gottesgemeinschaft in Glaube, Hoffnung und Liebe. Und hier geschieht die Überraschung: Wo die Thomasforschung „normalerweise” den Einsatz des Thomas bei der Interpretation der caritas als Freundschaft zwischen Gott und Mensch aufgrund der Mitteilung der Seligkeit Gottes selbst (STh II–II 23,1) rasch übergeht, um sich auf den Tugendcharakter der caritas und dessen Implikationen zu konzentrieren, bleibt Dörnemann hier stehen und interpretiert gerade die Tugend der caritas durch das Freundschaftsparadigma. Er greift dabei strukturierend den Hinweis des Thomas auf das Verständnis von Freundschaft bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik auf und verfolgt von da aus – immer streng bei Thomas – das Freundschaftsparadigma in der Deutung der Heilsgeschichte und ihrer drei Zeiten, in der Verbindung von Gnadenlehre, Tugendlehre und Christologie, in der Lehre vom Gesetz, und schließlich in der Lehre von den Sakramenten.

Aus gutem Grund verzichtet Dörnemann auf eine vorschnelle „Aktualisierung” der Sicht des Thomas – als ob man diesen nur zu zitieren bräuchte, um zu wissen, wie man heute Christologie treiben muss. Aber er verzichtet nicht in einem kurzen Schlussabschnitt auf einige „Leitsätze” für eine systematische Christologie, die sich an den erarbeiteten Perspektiven aus der Christologie des Thomas ergeben könnten. Die Arbeit von Holger Dörnemann ist eine „zünftige” Arbeit zur Thomasforschung. Sie ist keine entspannende „Bettlektüre“, sondern fordert ausdauerndes Mitdenken – und gegebenenfalls Lektüre der zitierten Quellentexte, also mit der STh in greifbarer Nähe. Aber solche Ausdauer wird reich belohnt. Denn die Arbeit Dörnemanns – der inzwischen beruflich den praktisch-theologischen Konsequenzen seiner Untersuchung auf der Spur ist – ist, wenn schon – um große Worte zu vermeiden – kein „Markstein“, so aber ganz gewiss ein wichtiger Kilometerstein auf der unabsehbar weiten Straße der Thomasforschung.

München, 14. September 2011

Am Fest Kreuzerhöhung

Otto Hermann Pesch

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete und zum Teil gekürzte Fassung der Arbeit, die unter gleichem Titel im SS 96 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Inaugural-Dissertation angenommen wurde.

Sie verdankt sich weit mehr Menschen, als in einem Vorwort namentlich genannt werden können: Besonders meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Menke, der die Arbeit von Anbeginn mit Interesse und persönlichem Engagement begleitet hat und an dessen Lehrstuhl für Dogmatik und Theologische Propädeutik ich von 1991 bis Ende 1995 tätig sein konnte. Danken möchte ich ebenfalls Herrn Prof. Dr. Gerd Höver für die Erstellung des Zweitgutachtens und seine Anregungen in Hinblick auf die Veröffentlichung; ebenso wie den Herausgebern der Bonner Dogmatischen Studien, Herrn Prof. Dr. Wilhelm Breuning, Herrn Prof. Dr. Hans Jorissen, Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Menke und Herrn Prof. Dr. Josef Wohlmuth, für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe, Herrn Dr. Bernd Claret für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage, Herrn Dr. Josef Herberg und den Mitarbeiterinnen des Katholischen Bildungswerks Bonn für die menschliche Unterstützung und dem Erzbistum Köln für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses.

Mehr als eine liebevolle Umarmung schließlich meiner Frau, Dipl.-Theol. Sylvia Dörnemann, sodann Herrn Dipl.-Theol. Michael Groß, Herrn Dipl.-Theol. Klaus von Stosch und Herrn Dr. Klaus Wolff für das mehrmalige Korrekturlesen, für die vielen anregenden Gespräche, vor allem aber für ihre Freundschaft, ohne die die Arbeit nie geschrieben worden wäre; …und unserer Tochter Teresa (*23.09.96) für den Ansporn, die Drucklegung nicht zu lange hinauszuzögern.

Ihnen möchte ich diese Arbeit widmen.

Bonn, im Dezember 1996

Holger Dörnemann

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Einführung in die Zielsetzung der Arbeit

Methode und Gang der Untersuchung

Zur Durchführung

ERSTER TEIL: DER WEG DES MENSCHEN ZU GOTT IN FREIHEIT UND GNADE

1. Kapitel: Grundzüge der Theologischen Anthropologie und Ethik der STh des Thomas von Aquin und die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und Gnade zur Erlangung der ‘vollkommenen’ Glückseligkeit

1.1. Das theologische Rahmenprogramm der thomanischen Anthropologie und Ethik in der STh: Der Mensch als ‘Abbild Gottes’ (»imago Dei«) und seine Ausrichtung auf die Glückseligkeit (»beatitudo«)

a) Die Gottebenbildlichkeit des Menschen in Vernunft und Wille und seine prinzipielle Offenheit für die Gnade

b) Die formale Ausrichtung des Menschen auf die Glückseligkeit und die Erlangung der Glückseligkeit durch das Zusammenspiel von menschlicher Freiheit und göttlichem Wirken

1.2. Der Beitrag der menschlichen Seelenvermögen (Vernunft, Wille, Affekte) zur Verwirklichung der Gottebenbildlichkeit und zur Erlangung der Glückseligkeit

a) Die Erlangung der Glückseligkeit durch ‘vernunfthaftes Wollen’ bzw. durch ‘willentliche Akte’

b) Die Rolle der Affekte für das menschliche Handeln

1.3. Habituelle Dispositionen, ‘natürliche’ und ‘eingegossene’ Tugenden und ihre Bedeutung für die Erlangung der Glückseligkeit

a) »Habitus« als spezifisch menschliche Tätigkeitsvorprägungen

b) Tugenden als ‘natürliche’ Vervollkommnungen der Seelenvermögen und als Verwirklichung der ‘natürlichen’ Glückseligkeit

c) Theologische Tugenden und ‘eingegossene’ Tugenden als ‘übernatürlich-gnadenhafte’ Vervollkommnungen der Seelenvermögen und als ‘inchoative’ Teilhabe an der ‘übernatürlichen’ Glückseligkeit

2. Kapitel: Das Verhältnis von Gnade Gottes und menschlicher Freiheit in der Gnaden- und Rechtfertigungslehre der STh

2.1. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Wirken in der Gnadenlehre

a) Die Deutung der Gnade als »habitus infusus« und ihre Bedeutung für die Frage nach dem ‘Beitrag’ des Menschen

b) Voraussetzungen der Erlangung der Gnade: die Vorgängigkeit göttlichen Wirkens und der ‘Beitrag’ des Menschen

2.2. Die Erlangung bzw. Wiedererlangung der Gnade als ‘Rechtfertigung’ des Menschen im Glauben

a) Das Zusammenspiel von göttlichem und menschlichem Wirken in der Rechtfertigungslehre

b) Glaube als Modus der Rechtfertigung bzw. der Erlangung der Gnade und die offene Frage nach den Voraussetzungen für die Erlangung von Glaube, Hoffnung und Liebe

ZWEITER TEIL: DER WEG DES MENSCHEN ZU GOTT IN GLAUBE, HOFFNUNG UND LIEBE

3. Kapitel: Die (heils-) geschichtliche und personale Konzeption der Glaubenslehre und weitere Hinweise für eine christozentrische Interpretation der Erlösungslehre der STh

3.1. Der Gegenstand des Glaubens und das Verhältnis von ‘natürlicher’ Vernunft und ‘übernatürlichem’ Glaube

a) Negative Abgrenzung zwischen natürlicher Verstandeserkenntnis und Glaube - oder: Das ‘Nicht-Wißbare’ als Gegenstand des Glaubens

b) Positive Zuordnung von Verstand und Glaube - oder: Glaube als Ausgangspunkt rationaler Überlegung und Wissen als Voraussetzung des Glaubens

3.2. Die Bedeutung des Willens und der Liebe im Glaubensakt und die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und Gnade in der Glaubenslehre der STh

a) Die Bedeutung des Willens und der Liebe im Glaubensakt

b) Das ‘Voraus’ der Gnade und die Bedeutung der menschlichen Freiheit im Glauben

3.3. Die christozentrische Konzeption des Glaubenstraktates der STh

a) Hinweise auf eine christozentrische Konzeption der thomanischen Glaubenslehre

b) Die Christusbestimmtheit des Glaubens und offene Fragen

4. Kapitel: Die Hoffnung als Tugend einer ‘gegenwärtig-ausstehenden’ Gottesgemeinschaft

4.1. Die Bedeutung von ‘sinnlich-geistiger Wahrnehmung’, ‘fremder Hilfe’ und ‘Liebe’ für den Affekt der Hoffnung

a) ‘Wahrnehmung’, ‘Glaube’ und ‘Erfahrung’ als Voraussetzungen des Affektes der Hoffnung

b) Die Bedeutung von ‘fremder Unterstützung’, ‘Hilfe’ und ‘Liebe’ für den Affekt der Hoffnung

4.2. Die Bedeutung von ‘göttlicher Hilfe’, ‘Glaube’ und ‘Liebe’ für die Theologische Tugend der Hoffnung

a) ‘Göttliche Hilfe’ und ‘Glaube’ als Voraussetzungen der ‘übernatürlichen’ Hoffnung

b) ‘Liebe’ als Ursache und als Wirkung der ‘übernatürlichen’ Hoffnung

5. Kapitel: Gottesliebe als Freundschaft des ‘endlichen’ Menschen mit dem ‘unendlichen’ Gott

5.1. ‘Wahrnehmung’ und ‘Ähnlichkeit’ als Voraussetzungen des Affektes der Liebe

a) Die Bedeutung von ‘Wahrnehmung’ und ‘Erkenntnis’ für den Affekt der Liebe

b) ‘Ähnlichkeit’ als Voraussetzung der gegenstandsbezogenen Liebe (»amor concupiscentiae«) und der personalen Liebe (»amor amicitiae«)

5.2. Die Theologische Tugend der Gottesliebe als Freundschaft des Menschen mit Gott und die zentrale Bedeutung ihres Tugendcharakters

a) Die Theologische Tugend der Gottesliebe als in der ‘Mit-teilung’ der Glückseligkeit gründende Freundschaft des Menschen mit Gott

b) Die Bedeutung der Konzeption der »caritas« als ‘eingegossene’ Tugend und als ‘Form’ aller anderen Tugenden

5.3. Das aristotelische Freundschaftsverständnis und seine Übertragung in die »caritas«-Lehre der STh

a) Das ‘Können’ und die (je individuelle) Liebesintention als ‘Maß’ der Gottesfreundschaft und die Ursachen ihrer ‘Festigung’ und ‘Verminderung’

b) Die Interpretation der »caritas« als Freundschaft und ihre Bedeutung für das Verständnis der Einheit von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe

DRITTER TEIL: DER WEG DES MENSCHEN ZU GOTT IN FREUNDSCHAFT

6. Kapitel: Liebe und Freundschaft in der Nikomachischen Ethik (NE) des Aristoteles bzw. im thomanischen Kommentar zur Nikomachischen Ethik (In Eth.) - ein Exkurs

6.1. Die Freundschaftslehre in der Nikomachischen Ethik bzw. im Kommentar des Thomas

a) Die unterschiedlichen Arten des ‘Liebenswerten’, die ‘Wahrnehmung’ und die ‘wechselseitige, nach außen tretende Liebe’ als Voraussetzungen einer Freundschaft

b) ‘Gleichheit’ als Voraussetzung der Freundschaft und die Möglichkeit einer Freundschaft zwischen ‘Ungleichen’

6.2. Der Zusammenhang von ‘Tugend’, ‘Glück(seligkeit)’, ‘Selbstliebe’ und ‘Freundschaft’ in der Nikomachischen Ethik

a) Die moralischen und intellektiven Tugenden als Verwirklichungen der praktischen und theoretischen Glückseligkeit

b) Der Zusammenhang von ‘Tugendhaftigkeit’, ‘Selbstliebe’ und ‘Freundschaft’ in der Nikomachischen Ethik

6.3. Die Konvenienz von ‘Freundschaft’ und ‘Glückseligkeit’ in der Nikomachischen Ethik bzw. im thomanischen Kommentar

a) Die ‘Notwendigkeit’ der Freundschaft im Leben des Menschen

b) Die ‘Konvenienz’ der Freundschaft zur Erlangung und Erhaltung der Glückseligkeit

7. Kapitel: Die Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu den Bedingungen der drei Heilszeiten (‘vor der Sünde’; ‘nach der Sünde’; ‘durch Christus’) nach der Lehre der STh

7.1. Die ursprüngliche Gemeinschaft des Menschen mit Gott im ‘Urstand’ (‘vor der Sünde’) und die Möglichkeit der Wiedererlangung der verlorenen Gemeinschaft (‘nach der Sünde’)

a) Die Charakteristika der Gemeinschaft des Menschen mit Gott im ‘Urständ’(‘Vor der Sünde’)

b) Die Zerstörung der ursprünglichen Gemeinschaft des Menschen mit Gott durch die Sünde (Erbsünde) und die Möglichkeit ihrer Wiedererlangung

7.2. Die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus und die Suche nach einem adäquaten Erlösungsmodell

a) Die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott duch Jesus Christus und die Grenzen juridisch argumentierender Erlösungsmodelle

b) Das die ‘Effekte’ der Erlösung (Glaube, Hoffnung, Liebe) mit erklärende und umfassendere Verständnis der Erlösung als “Wirksamkeit” und die Grenzen auch dieses Modells

8. Kapitel: Freundschaft als Paradigma der Erlösung - Die Verbindung von Gnadenlehre Tugendlehre und Christologie in der STh

8.1. Die Begrenztheit menschlicher Kräfte und die Möglichkeit ihrer Überschreitung

a) Die Begrenztheit menschlicher Handlungskräfte und die Überschreitung der menschlichen Begrenztheit in der Freundschaft bzw. durch jemanden, mit dem man in der Liebe ‘eins’ ist

b) Die Grenzen menschlicher Handlungskräfte auf dem ‘Weg’ zu Gott (das ‘Ohne-Gnade-Sein’, Schuld) und die Überschreitung der menschlichen Begrenztheit in der Freundschaft mit Gott

8.2. Freundschaft als Paradigma der Erlösung - oder: Der Versuch einer Zusammenschau von Christologie, Gnaden- und Tugendlehre

a) Die Freundschaftskategorie als Paradigma des Erlösungsgeschehens

b) Das ‘Zugleich’ des Erlösungswirkens Christi, der durch Christus vermittelten Liebe Gottes (Gnade) und der menschlichen Freiheit in der Freundschaft - oder: Die Verbindung von Christologie und Gnadenlehre

c) Die ‘Konvenienz’ der (Gottes-) Freundschaft zur Erlangung der ‘unvollkommenen’ und der ‘vollkommenen’ Glückseligkeit - oder: Die Verbindung von Christologie, Gnadenlehre und Tugendlehre in der STh

9. Kapitel: Die Bedeutung des ‘göttlichen Gesetzes’ und der sakramentalen Zeichenhandlungen für die Konstituierung bzw. Erhaltung der Gottesfreundschaft und Leitsätze für eine an der STh orientierte Systematische Theologie

9.1. Die Bedeutung des ‘göttlichen Gesetzes’ (»lex divina«) für die Konstituierung der Gottesfreundschaft und Leitsätze für eine an Thomas orientierte Theologische Ethik

a) Die Sittengebote in ihrer Zuordnung zum thomanischen Tugend- und Gottesfreundschaftsverständnis in der STh

b) Leitsätze zur Theologischen Ethik vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Arbeit

9.2. Die Bedeutung sakramentaler Zeichenhandlungen für die Konstituierung der Gottesfreundschaft und Leitsätze für eine an der Konzeption der STh orientierte Systematische und Praktische Theologie

a) Die Bedeutung sakramentaler Zeichenhandlungen für die Konstituierung der Gottesfreundschaft

b) Leitsätze für eine an der Soteriologie-Konzeption der STh orientierte Systematische und Praktische Theologie

Literaturverzeichnis

Personenverzeichnis

Einleitung

Einführung in die Zielsetzung der Arbeit

G. Greshake vergleicht in einem Aufsatz über den ‘Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte’1 eine ‘griechisch-östliche’ mit einer ‘lateinisch-westlichen’ Erlösungsvorstellung. Die gegenüber der ‘dynamisch-prospektiven’ griechischen Soteriologie eher ‘statisch-retrospektive’ Soteriologie des lateinischen Westens2 sieht er dabei vor allem durch ein zweifaches Interesse gekennzeichnet: “es ist erstens die Frage nach der grundsätzlichen rechtlichen Bereinigung des Verhältnisses Gott-Mensch, dann aber zweitens auch die Frage nach dem Einzelnen, wie denn der Einzelne frei von Schuld und Sünde werde und in seinem konkreten Leben Gott zu dienen vermöge.”3 Dieses Doppelinteresse, das gleichermaßen die Wiederherstellung des zerstörten ‘ordo’ als auch die Freiheit des Menschen akzentuiert, spiegelt sich in einer gewandelten Gnadenkonzeption, in der sich nach Augustinus eine Differenz zwischen subjektiver und objektiver Erlösung wahrnehmen läßt.4 Als eine Folge des sich im Gnadenstreit des Augustinus mit den Pelagianern durchsetzenden Verständnisses der Gnade als ‘nachfolgende subjektiv-innerliche Applikation aus dem objektiven Heilswerk Christi’5 sieht Greshake die Gefahr einer ‘Verselbständigung von Gnadenlehre und Christologie’.6

Mit Greshake bestätigt auch Th. Pröpper den für die westliche Erlösungsauffassung charakteristischen, nur indirekten Zusammenhang von Erlösungswerk Christi und innerer Begnadung7: “Theologisch führte beides, die Verinnerlichung der Gnade und die Theorie der objektiven Versöhnung, zu einer Entzweiung von Christologie und Soteriologie, welche die erste um ihre Relevanz und die zweite um ihre christologische Bestimmtheit brachte”.8 In der Subjektivierung der Gnade, ihrer Bezuglosigkeit zur geschichtlichen Realität und in dem damit einhergehenden Relevanzverlust der Christologie sieht Pröpper zugleich auch schon die neuzeitliche Säkularisierung (und Moralisierung) der Soteriologie vorbereitet, in der “Jesus Christus zwar immer noch als Chiffre für ein bestimmtes Menschsein, aber nicht mehr als dessen Ermöglichung gilt”9.

Vor dem Hintergrund der Tendenz zur Entzweiung von Christologie und Gnadenlehre in der lateinisch-westlichen Tradition drängt sich die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Gnadenlehre und Christologie auf. Wo aber liegt der Vermittlungspunkt zwischen subjektiver und objektiver Erlösungslehre?

In Hinblick auf die soteriologischen Entwürfe und Lösungsversuche der Tradition läßt die Aussage Greshakes aufmerken, daß die oben genannte Tendenz des Auseinanderdriftens von Gnadenlehre und Christologie hinsichtlich der Theologie des Thomas von Aquin nur eine relative Berechtigung zu haben scheint.10 Sosehr diese unter anderem aufgrund der Arbeiten H. Kesslers11 und M. Secklers12 gewonnene Einsicht Greshakes von der Thomas-Literatur bestätigt wird, muß es bei näherem Hinblick auf den Forschungsstand zur Theologie des Thomas verwundern, daß sich zwar zu den genannten Traktaten (Gnaden-, Tugendlehre und Christologie) der Theologie des Aquinaten zahlreiche und ausführliche Einzeluntersuchungen finden, daß jedoch eine eigenständige Untersuchung, die sich um das Verhältnis von Gnaden-, Tugendlehre und Christologie bemüht, noch aussteht.

Wie aber lassen sich z.B. folgende, wohl auch von der bisherigen Thomas-Literatur referierten Zentralaussagen des Thomas verstehen und interpretieren (und zeitgemäß einem an der Theologie interessierten Leserkreis vermitteln), daß ‘alle Gnade immer auch Gnade Christi ist’, daß ‘es Christus ist, durch den die Gnade des dreieinigen Gottes vermittelt ist’13 und daß ‘allein die »fides Christi« die Gnade zu bewirken vermag’14?

Das Fehlen einer sich um diese Fragen bemühenden Studie ist jedoch nicht nur im Blick auf die Soteriologie des Thomas bedauerlich; zum einen, weil sich von einer vergleichenden Untersuchung von Gnadenlehre und Christologie weiterführende Einsichten für die Interpretation der thomanischen Theologie insgesamt ergeben (und ergeben müssen); zum anderen, weil es gerade in der heutigen Zeit immer schwerer wird, die christologische Bestimmtheit der Gnade (und des mit diesem Begriff Gemeinten) und die soteriologische Relevanz der Christologie angemessen zur Sprache zu bringen. Vor diesem Problemhintergrund möchte die vorliegende Studie ihren Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, ob und wie Thomas von Aquin die genannten Engführungen vermeidet; warum und in welcher Weise er Gnadenlehre und Christologie aufeinander bezogen sieht.

Methode und Gang der Untersuchung

Trotz des skizzierten Problemhintergrundes, der Thomas von Aquin als interessanten Gesprächspartner auch und gerade für die heutige Theologie ausweist, versteht sich die vorliegende Arbeit als theologiegeschichtliche Analyse, die es vermeidet, eine der Theologie des Aquinaten fremde Frage von außen an ihn heranzutragen oder in ihn hineinzulesen. Dem Bemühen um eine historische und thomasimmanente Analyse, die die Frage nach dem Verhältnis von Gnadenlehre und Christologie aus den thomanischen Texten selbst entwickeln will, entspricht in den Kap. 1-8 der ebenso grundsätzliche Verzicht auf eine direkte Applizierung und Übertragung thomanischer Aussagen auf die aktuelle theologische Diskussion. Erst in Kap. 9 werden der Gegenwartsbezug und die Aktualität der Ergebnisse der Arbeit reflektiert.

Die methodologische Vorentscheidung, die Frage nach dem Verhältnis von Gnadenlehre und Christologie aus den thomanischen Texten selbst zu erarbeiten, ist zugleich auch der Grund dafür, die Fragestellung nicht durch einen Vergleich der unterschiedlichen Positionen und Lösungsansätze der älteren und jüngeren Thomasforschung anzugehen. Die Befürchtung, durch einen zu unvermittelten Einstieg in die zu lösende Aufgabe die eigentlichen Pointen der thomanischen Argumentation zu verfehlen und der Originalität des thomanischen Entwurfes nicht ansichtig zu werden, legt ein methodisches Vorgehen nahe, das die Theologie des Thomas unter einer grundsätzlicheren Perspektive befragt, die ‘weit’ genug ist, nicht ihrerseits den Lösungsansatz des Thomas zu verpassen, und andererseits hinreichend ‘eng’, sich in der Weite der thomanischen Theologie nicht zu verlieren.

Nicht die direkte Konfrontation von Gnadenlehre und Christologie, sondern die allgemeinere Frage nach den Voraussetzungen für die Erlangung von Gnade und Glückseligkeit bestimmt das methodische Vorgehen der Untersuchung.

Aufgrund der Entscheidung für diese Fragestellung konzentriert sich die Untersuchung auf das theologische Hauptwerk des Thomas, die Summa Theologiae (STh). Entlang ihrer Systematik werden die übrigen theologischen Werke des Thomas subsidiär (zumeist in den Anmerkungen) herangezogen.

Daß die Frage nach der Erlangung von Gnade und Glückseligkeit von der Argumentation der STh her ihre Berechtigung erfährt, wird innerhalb des Ersten Teiles der Arbeit deutlich: Der Weg des Menschen zu Gott in Freiheit und Gnade.

In Kap. 1 werden die Grundzüge der thomanischen Ethik und Anthropologie entfaltet: Indem die Bild-Gottes-Theologie (STh I 93) und die Glückseligkeitslehre (STh I-II 1-5) skizziert werden und auf die Bedeutung der menschlichen Handlungsvermögen (Vernunft; Wille; Affekte) und Handlungsprinzipien (Habitus; Tugenden; Theologische bzw. ‘übernatürliche’ Tugenden) eingegangen wird (STh I-II 6-70), steht gleich im Eingangskapitel die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und der Gnade bei der Erlangung der Glückseligkeit im Mittelpunkt der Untersuchung. Es scheint, als wolle Thomas mit der wechselseitigen Betonung von menschlicher Freiheit und Gnade eher ein Paradox beschreiben als eine abschließende Lösung vorlegen. So bleiben gegen Ende des ersten Kapitels die Fragen offen, was Thomas unter der Gnade Gottes versteht, wie der Mensch ihrer teilhaftig wird und wie sich menschliche Freiheit und Gnade zueinander verhalten.

Diese Fragen werden in Kap. 2 in der Gnadenlehre der STh (STh I-II 106-114) untersucht. Im Blick auf das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Wirken in der Begnadung zeigt sich, daß sich auch in der Gnadenlehre neben Texten, die ausdrücklich die Vorgängigkeit der Gnade Gottes betonen, ebenso zahlreiche Aussagen des Thomas finden, die auf den Beitrag des Menschen zur Erlangung der Gnade Wert legen. Doch auch wenn es nach der Durchsicht weiter Teile der Gnadenlehre zunächst so scheinen mag, als ob mit der wechselseitigen Akzentuierung der Bedeutung des Beitrags des Menschen und der Gnade Gottes die Position des Thomas abschließend bestimmt wäre, stellt sich die Frage nach dem ‘Zueinander’ von göttlichem und menschlichem Wirken dort auf unerwartet neue Weise, wo Thomas auf die Bedeutung des Glaubens für die Erlangung der Gnade eingeht. Die Frage nach Voraussetzungen für die Erlangung der Gnade wandelt sich - so die These am Ende von Kap. 2 - in die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Glaube, Hoffnung und Liebe.

Im Anschluß an die vorausgegangenen Überlegungen stehen im Zweiten Teil der Arbeit die Theologischen Tugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe (STh II-II 1-44), im Mittelpunkt der Untersuchung: Der Weg des Menschen zu Gott in Glaube, Hoffnung und Liebe.

In den in Kap. 3 untersuchten Quästionen über den Glauben (STh II-II 1-16) zeigt sich, daß die Betonung der Gottgewirktheit des Glaubens der Annahme weiterer natürlicher Glaubensvoraussetzungen nicht widerspricht. Mit Blick auf die Bedeutung natürlicher Erkenntnis und personaler Bezeugung, auf das den Glauben kennzeichnende Beieinander von intellektivem Erfassen und willentlicher Zustimmung und auf diejenigen Textpassagen, in denen der Glaube an das Heilsereignis in Jesus Christus zurückgebunden wird, ist gegen Ende von Kap. 3 eine Synthese möglich, die - entgegen dem ersten Augenschein und trotz vieler zunächst noch offen bleibender Fragen - Hinweise auf eine christozentrische Konzeption des Glaubenstraktates gibt.

Auch Kap. 4, in dem die Tugend der Hoffnung (STh II-II 17-22) untersucht wird, bestätigt, daß ‘natürliche’ Voraussetzungen der ‘Übernatürlichkeit’ der Hoffnung nicht widerstreiten. Die enge konzeptionelle Verbindung von Glaube, Hoffnung und Liebe weist zugleich darauf hin, daß die Beantwortung der Frage nach den Voraussetzungen für die Erlangung der Hoffnung erst durch eine Zusammenschau der Konstitutionsbedingungen aller drei Theologischen Tugenden möglich ist.

In Kap. 5 zeigt sich, wie sehr der (auf Aristoteles zurückgehende) Freundschaftsgedanke den Traktat über die Gottesliebe (STh II-II 23-44) bestimmt. Mit der Freundschaftskategorie werden der Tugendcharakter der Gottesliebe, ihre Bedeutung für die anderen Tugenden herausgearbeitet und die Frage nach dem ‘Maß’ der Gottesliebe beantwortbar. Ebenso erschließen sich mit dem Verständnis der Gottesliebe als Freundschaft auch die Gedanken über die gestufte Entfaltung der Gottesliebe und über die Einheit von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe. Die auffallend häufige Bezugnahme auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles ist Anlaß dafür, der eingehenderen Untersuchung der Konstitutionsbedingungen der »caritas« (und der Zusammenschau aller Konstitutionsbedingungen der Theologischen Tugenden) eine zusammenhängende Darstellung der aristotelischen Freundschaftslehre voranzustellen.

Der Dritte Teil der Arbeit fragt nach der Bedeutung der Freundschaftskategorie für das Verständnis der - in Gnaden-, Tugendlehre und Christologie entfalteten - Soteriologie der STh. Der Dritte Teil trägt den Titel: Der Weg des Menschen zu Gott in Freundschaft.

Kap. 6 geht neben der Darstellung der aristotelischen Freundschaftslehre der Nikomachischen Ethik (NE) vor allem auf den Zusammenhang von Freundschaft, Tugendhaftigkeit, Glückseligkeit und Selbstliebe ein.

Daran anschließend weist Kap. 7 vertieft auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der aristotelischen Freundschaftslehre und dem thomanischen Gottesfreundschaftsverständnis hin. Über die Darstellung der - je nach Heilszeit (‘vor der Sünde’; ‘nach der Sünde’; ‘durch Christus’) - wechselnden Bedingungen einer Gemeinschaft des Menschen mit Gott nach der Lehre der STh wird die zentrale Bedeutung des Christusereignisses für die Erlangung von Gnade und Glückseligkeit expliziert, und die unterschiedlichen Erlösungsmodelle (Verdienst, Genugtuung, Opfer, Loskauf, Wirksamkeit) werden in ihrer Interpretationskraft und Leistungsfähigkeit überprüft. Gegen Ende von Kap. 7 stellt sich die Frage, ob sich das in allen Erlösungsmodellen nachweisbare soteriologische Motiv einer ‘zur Liebe befreienden Liebe’ mit der Freundschaftskategorie noch tiefer verstehen läßt.

Diese Frage systematisch zu durchdenken, ist Aufgabe von Kap. 8. Hier werden die Ergebnisse der vorausgegangenen Kapitel zusammengeführt. Aus anthropologischer Perspektive gelingt es, die - in Gnaden-, Tugendlehre und Christologie entfaltete - Soteriologie mit der Freundschaftskategorie zu erschließen. Es wird gezeigt, daß sich mit Hilfe des Freundschaftsparadigmas die Bedeutung der menschlichen Freiheit in der Erlösung explizieren läßt, ohne das ‘Voraus’ des göttlichen Wirkens in Abrede zu stellen.

Kap. 9 dient der Zusammenfassung und Wiederholung der in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Ergebnisse, versucht nun aber auch, die Kernthese dieser Arbeit in verschiedene Richtungen weiterzudenken und den Gegenwartsbezug der thomanischen Theologie zu erschließen.

Zunächst wird auf das Verhältnis des thomanischen Gesetzesbegriffs zu seinem Tugend- und Freundschaftsverständnis in der STh eingegangen (Kap. 9.1.a), um von da aus Leitsätze für eine an Thomas orientierte Theologische Ethik zu formulieren (Kap. 9.1.b; Thesen 1 und 2). Sodann schließt sich die - in Kap. 8 ausgeklammerte - Frage nach der Möglichkeit einer Freundschaft in den beiden anderen noch nicht eingehend untersuchten ‘Heilszeiten’ an, also ‘vor’ bzw. ‘nach’ der sichtbar gewordenen Liebe in Jesus Christus (Kap. 9.2.a). Da sich die Kernthese der Arbeit im Blick auf die ‘drei Heilszeiten’ bewährt, werden mit dem Freundschaftsparadigma Anstöße zu Antworten auf gleich mehrere brennende Fragen der heutigen systematischen Theologie vorgelegt (Kap. 9.2.b): denn das Freundschaftsparadigma ermöglicht nicht nur eine Zusammenschau von Gnadenlehre und Christologie, sondern ist auch dazu geeignet, die Bedeutung der ‘menschlichen Freiheit’ in der Erlösung (These 3) und die geschichtliche Dimension des Christentums zu explizieren (These 4). Im direkten Anschluß daran wird - vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Arbeit, und so z. T. in Absetzung und in Weiterführung von Positionen der bisherigen Thomasforschung - in einem abschließenden letzten Abschnitt die nicht nur im Blick auf die Konzeption der STh interessante Frage nach dem ‘Plan der Summa’ untersucht (These 5).

Zur Durchführung

Das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende der Arbeit gibt dem Leser einen Eindruck von der Masse an Sekundärliteratur, die einem Thomas-Interpreten heute entgegentritt. Die Quantität der allein in den letzten 50 Jahren erschienenen Titel mag man als erfreuliches Indiz für die bleibende Aktualität des Thomas von Aquin und seiner Theologie auch in der heutigen Zeit werten; die Fülle der Sekundärliteratur ist jedoch zugleich immer auch eine Bürde für jeden Thomas-Forscher; ist sie doch nicht selten der Grund dafür, daß den meisten der im Literaturverzeichnis genannten Titeln nur ein sehr begrenzter, überschaubarer Themenbereich und Textbestand zugrundegelegt wird. ‘Breiter’ angelegte Studien haben es demgegenüber grundsätzlich mit dem Problem zu tun, die umfänglichere Textbasis mit der proportional dazu anwachsenden Literatur bewältigen und einbeziehen zu müssen. Sie stehen darüber hinaus ständig in der Gefahr, über die Diskussion der Sekundärliteratur die Textarbeit zu vernachlässigen.

Für die vorliegende Studie, die über die in den einzelnen Kapiteln abgehandelten Themenbereiche ihren Textbestand in allen Teilen der STh aufsuchen muß, legt sich - aus den oben ausgeführten Gründen - eine konsequente Textarbeit nahe: Über die sich von Kapitel zu Kapitel wandelnde Frage nach den Voraussetzungen für die Erlangung der Glückseligkeit wird eine Zusammenschau der unterschiedlichen Traktate und Sachbereiche angestrebt, die darauf abzielt, die Soteriologie der STh insgesamt in einem neuen Licht zu lesen. Ein Preis des skizzierten Vorhabens, eine ‘neue Sicht’ auf die Theologie des Thomas von Aquin zu ermöglichen, ist es sicherlich, daß durch die komprimierte und kurzgefaßte Darstellung der einzelnen Textabschnitte und Themenkreise der Diskussion der Sekundärliteratur ein begrenzterer Platz eingeräumt wird, als dies in den meisten wissenschaftlichen Abhandlungen zur Theologie des Aquinaten gemeinhin üblich ist.15 Jeder der einzelnen Sachbereiche hätte eine ausführlichere Diskussion verdient, als dies vor dem Hintergrund der genannten Fragestellung möglich ist, und fast jeder von diesen könnte je für sich Gegenstand einer eigenen Studie sein - wenn es dem Verfasser auch scheinen will, daß die einzelnen Traktate erst vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit explizierten These wieder für die heutige Zeit zu sprechen beginnen. Der Leser möge nach Lektüre von Kapitel 8 und 9 selbst beurteilen, ob sich der eingeschlagene Weg für die vorliegende Arbeit bewährt hat.

1 G. Greshake, Der Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte, in: Ders., Gottes Heil - Glück des Menschen, 50-79.

2 Vgl. ebd., 64.

3 Ebd., 65.

4 Vgl. ebd., 69.

5 Vgl. ebd., 72.

6 Vgl. ebd., 71.

7 Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, 87, Anm. 146.

8 Ebd., 102.

9 Ebd.

10 G. Greshake, Der Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte, 72.

11 H. Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu, 167-225.

12 M. Seckler, Das Haupt aller Menschen, 107-125.

13 Vgl. z.B.: STh I-II 112,1 ad 2.

14 Vgl. z.B.: STh I-II 106,1.

15 Zu Beginn der einzelnen Kapitel werden in den Anmerkungen vor allem die neueren Forschungsbeiträge genannt. Im Literaturverzeichnis sind darüber hinaus auch einige Titel aufgeführt, die zwar in der Arbeit selbst nicht eigens Erwähnung finden, aber der Vollständigkeit halber aufgenommen worden sind. Als ständige Bezugsgrößen in den jeweiligen Kapiteln seien besonders hervorgehoben: W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin; H. Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu; K.-W. Merks, Theologische Grundlegung der sittlichen Autonomie; O.H. Pesch, Die Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin; ders., Thomas von Aquin; ders., / A. Peters, Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung; E. Schockenhoff, Bonum hominis; M. Seckler, Das Heil in der Geschichte.

ERSTER TEIL:

DER WEG DES MENSCHEN ZU GOTT

IN FREIHEIT UND GNADE

1. Kapitel: Grundzüge der Theologischen Anthropologie und Ethik der STh des Thomas von Aquin und die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und Gnade zur Erlangung der ‘vollkommenen’ Glückseligkeit

1.1 Das theologische Rahmenprogramm der thomanischen Anthropologie und Ethik in der STh: Der Mensch als ‘Abbild Gottes’ (»imago Dei«) und seine Ausrichtung auf die Glückseligkeit (»beatitudo«)

a) Die Gottebenbildlichkeit des Menschen in Vernunft und Wille und seine prinzipielle Offenheit für die Gnade

Wer den ‘Weg’ des Menschen zu Gott nach-denken möchte, wie er von Thomas von Aquin in seinem Hauptwerk, der Summa Theologiae (STh), beschrieben worden ist, wird sich zunächst mit den anthropologischen Grundannahmen des Aquinaten vertraut machen müssen. Sie liegen in komprimierter Form in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit (»imago Dei«) des Menschen vor. Die umfangreiche Sekundärliteratur1 der letzten Jahrzehnte bestätigt, daß es sich bei der ‘Imago-Dei-Lehre’ um eine ‘Zentrallehre23aaaeaeae4