image

Ralph Poirel

Die Idee des lebendigen Gottes

BONNER
DOGMATISCHE
STUDIEN

Herausgegeben von
Karl-Heinz Menke

Ralph Poirel

Die Idee
des lebendigen Gottes

Franz Xaver Dieringers (1811–1876)
christozentrische
Offenbarungstheologie

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Druck und Bindung: Difo-Druck GmbH, Bamberg
ISSN 0935-0756
ISBN 978-3-429-03435-1 (Print)
ISBN 978-3-429-04614-9 (PDF)
ISBN 978-3-429-06029-9 (Epub)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2010 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation angenommen. Für eine Veröffentlichung wurde sie leicht überarbeitet und um das Register ergänzt.

Das erste Wort des Dankes gilt an dieser Stelle Prof. Dr. Karl-Heinz Menke, der mir im Jahr 2005 den Anstoß zu dieser Arbeit gegeben hat und mich beim Erstellen derselben stets ermutigend und hilfreich begleitet hat. Ohne seine pädagogische Fähigkeit, mich zu fordern und mir zugleich die nötige akademische Freiheit zu lassen, wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Daneben danke ich Prof. Dr. Dr. Claude Ozankom für das von ihm erstellte Zweitgutachten sowie dem Echter-Verlag für die Aufnahme dieser Untersuchung in die vorliegende Reihe. Nicht vergessen zu danken möchte ich zudem der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mich als Stipendiat während meiner gesamten Studienzeit sowie zu Beginn meines Promotionsprojektes unterstütz hat.

Danach aber gebührt mein Dank vor allem meiner Ehefrau Dr. Vera Kallage, die mir den nötigen familiären Rückhalt und zeitlichen Freiraum geschaffen hat zur Erstellung dieser Arbeit. Ihr ist diese Doktorarbeit gewidmet. Daneben danke ich vor allem meiner Schwiegermutter Veronika Kallage für die Korrektur der Rechtschreibung und dafür, dass sie viele Tage unsere Töchter Franziska und Theresa betreut hat, damit ich mich meinem Dissertationsprojekt widmen konnte. Ein besonderes Wort des Dankes gilt zudem meinen Kollegen Petra Kostka und Dr. Hartmut Köß, die mir zahlreiche Hinweise und Hilfestellungen bei der Gliederung und Formatierung der Arbeit gegeben haben. In diesem Zusammenhang darf auch Frau Felicitas Schuck nicht unerwähnt bleiben, die dankenswerter Weise das Register der Arbeit erstellt hat. Nicht zuletzt möchte ich P. Dr. Manfred Entrich OP dafür Dank sagen, dass er mich über die Jahre hinweg mit väterlicher Fürsorge daran erinnert hat, meine Doktorarbeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Mein Dank an ihn gilt stellvertretend allen, die mich mit Nachfrage und Ermutigung zum Weitermachen motiviert haben. Für seine treue Begleitung im Gebet danke ich zudem Fr. M. Stephan Hild OSB.

Inhaltsverzeichnis

1.     Hinführung zu Person und Werk

1.1     Hinführung zum Thema der Arbeit

1.2     Der akademische Werdegang von Franz Xaver Dieringer – eine biographische Skizze

1.2.1     Herkunft und Schulzeit

1.2.1.1     Das familiäre Umfeld in Rangendingen

1.2.1.1     Die Schulzeit in Konstanz

1.2.2     Studium in Tübingen und Repetent in Freiburg

1.2.2.1     Der Kontakt zur Katholischen Tübinger Schule

1.2.2.2     Repetent in Freiburg und der Kontakt zu F. A. Staudenmaier

1.2.3     Professor in Speyer

1.2.3.1     Die Freundschaft zu Johannes von Geissel

1.2.3.2     Chefredakteur der Mainzer Zeitschrift „Katholik“

1.2.4     Professor und Domkapitular im Erzbistum Köln

1.2.4.1     Die Restrukturierung der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät

1.2.4.2     Herausgeber der Katholischen Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst und Gründungsmitglied des Borromäusvereins

1.2.4.3     Gründer des homiletisch-katechetischen Seminars

1.2.4.4     Theologischer Autor und Berater Geissels

1.2.4.5     Das Theologische Literaturblatt und die Streitigkeiten um das I. Vatikanische Konzil

1.2.5     Pfarrer in Veringendorf

1.3     Dieringers theologisches Konzept – die positive Theologie

1.3.1     Dogmatik als Rekonstruktion des kirchlichen Offenbarungsbegriffs

1.3.2     Die Stellung der Spekulation in der positiven Theologie – Spekulation als Durchdringung des Rekonstruierten

2.     Das theologische Profil Franz Xaver Dieringers

2.1     Was ist Offenbarung? - das Offenbarungsverständnis F. X. Dieringers

2.1.1     Die Theorie der Offenbarung in „Ueber die Offenbarung“

2.1.1.1     Form der Offenbarung

2.1.1.2     Inhalt der Offenbarung

2.1.2     „Die göttliche That“ – Offenbarung und Wunder

2.1.3     Das Verhältnis der Offenbarung zum Wesen Gottes – die Offenbarung als Selbstsetzung Gottes

2.1.4     Das Verhältnis der Offenbarung zum Wesen des Menschen als Erhöhung des Menschen zur Selbstverherrlichung Gottes

2.1.4.1     Erkennbarkeit der Offenbarung aufgrund der natürlichen Empfänglichkeit des Menschen

2.1.4.2     Merkmale wahrer Offenbarung

2.2     Wer ist Jesus Christus? – Die Christologie F. X. Dieringers

2.2.1     „Christus ein Lehrer der Menschheit“

2.2.1.1     Die Lehre Christi - Inhalte der Offenbarung in Christus

2.2.1.2     Der Messias Jesus und die Juden

2.2.2     Christus der Gottmensch

2.2.2.1     Die Mutter des Erlösers – Mariologische Aussagen bei Dieringer

2.2.2.2     Das Erlösungswerk des Gottmenschen Jesus Christus

2.2.2.3     „Bedeutung der Menschwerdung für das christliche Leben“ – Das ethische Prinzip der Inkarnation

2.3     Wozu dient die Kirche? – die Ekklesiologie F. X. Dieringers

2.3.1     Die Kirche als die gottmenschliche Stellvertretung Christi

2.3.2     Die Kirche als universaler Heilsweg

2.3.3     Die Kirche im Dienst an der Wahrheit – das Lehramt als Ausgangspunkt aller Beschreibungen des Amtes

2.3.3.1     Dieringers „Offenes Sendschreiben“ an J. B. Hirscher – die Debatte um die Synoden als Frage nach der Stellung der Laien in der Kirche

2.3.3.2     Die Unfehlbarkeit der Kirche

2.3.3.3     Die Mitarbeit im Theologischen Literaturblatt und die Frage der Unfehlbarkeit des Papstes

2.3.4     Kirche als göttlich eingesetzte Heilsmittlerin – die Sakramentalität der Kirche

2.3.5     Die Theologie F. X. Dieringers – eine Zusammenfassung

3.     Die Theologie Franz Xaver Dieringers im Kontext der theologischen Strömungen seiner Zeit

3.1     Dieringer und die Volksaufklärung – Der Einfluss des Wessenbergerianismus auf F. X. Dieringer

3.1.1     Das Bistum Konstanz unter Heinrich Ignaz Freiherr von Wessenberg

3.1.2     Das Kirchenbild Wessenbergs

3.1.3     Die Verbindung von Liturgie und Pädagogik bei Wessenberg

3.1.4     Dieringers Eingreifen in den Freiburger Ritual-Streit als praktischer Ausdruck seiner positiven Theologie

3.2     Die Tübinger Schule und der Einfluss von Franz Anton Staudenmaier auf Dieringers theologisches Werk

3.2.1     Die Mentalität der Katholische Tübinger Schule – ein Zuordnung

3.2.2     Die Differenz zwischen KTS und Neu-Scholastik

3.2.3     Das Proprium der Katholischen Tübinger Schule als Kernmoment der Theologie Dieringers

3.2.4     Das an F. A. Staudenmaier und J. S. v. Drey orientierte Offenbarungsverständnis Dieringers

3.2.5     Von der Idee zur Person – Dieringers christozentrische Fortschreibung des Offenbarungsverständnisses der KTS

3.2.6     Die an L. Scheffczyk orientierte Anfrage an Dieringers Offenbarungstheologie

3.2.7     Die durch F. A. Staudenmaier beeinflusste Christologie Dieringers

3.2.8     Kirche als Stellvertretung – Dieringers Ekklesiologie als sein eigenständiger Beitrag zur Theologie des 19. Jahrhunderts

3.2.9     Franz Xaver Dieringer als Vertreter der KTS

3.3     Die Theologie F. X. Dieringers im Kontext der theologischen Richtungsstreitigkeiten seiner Zeit – Abgrenzung und Nähe zu Neu-Scholastik und Güntherianismus

3.3.1     Die Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Vernunft als die zentrale Differenz zum Güntherianismus

3.3.2     Von der Repräsentation des Menschengeschlechts zur gottmenschlichen Stellvertretung – die Weiterentwicklung des güntherschen Stellvertretungsgedanken bei Dieringer

3.3.3     Die Nähe in der Orthodoxie und die Differenz in der Methode – die Auseinandersetzung mit J. Kleutgen und der Neu-Scholastik

3.3.4     Franz Xaver Dieringer und die „Römische Schule“ – die durch D. Petavius begründete positive Theologie

3.3.5     Schlussbetrachtung: Die systematische Theologie Franz Xaver Dieringers

Literaturverzeichnis

Personenregister

1. Hinführung zu Person und Werk

1.1 Hinführung zum Thema der Arbeit

„Was ist die Idee der Gottheit, wenn nicht die Idee des lebendigen Gottes?“,1 so schreibt Franz Xaver Dieringer 1845 in einer Rezension der Dogmatik F. A. Staudenmaiers. Es ist gleichsam die Kernfrage des theologischen Denken Dieringers und dessen Antwort. Für Dieringer gibt es in der Theologie kein abstraktes Reden über Gott, das sinnvoll ist. Alles theologische Arbeiten muss rückgebunden sein an die Offenbarung. Vielmehr noch muss es seinen Anfang beim Handeln Gottes nehmen, beim positiven geschichtlichen Offenbarungsgeschehen. Theologie als positive Wissenschaft verdankt sich überhaupt nur dem Handeln des lebendigen Gottes, aus dem sie dessen Idee zu rekonstruieren hat. Mit dieser entschiedenen Hinwendung zu einem geschichtlichen Offenbarungsverständnis und einer positiven Theologie stellt Dieringer zugleich Jesus Christus in den Mittelpunkt, der Gottes Selbstoffenbarung und damit die eigentliche Idee des lebendigen Gottes ist. Diese Christozentrik ermöglicht ihm die Treue zur kirchlichen Lehre ebenso wie eine zeitgemäße Antwort auf die Gedankenwelt des deutschen Idealismus und das erwachende historische Bewusstsein. In diesem Zusammenhang steht auch Dieringers Ekklesiologie, die vom Gedanken der personalen Stellvertretung Christi in Amt und Heiligem Geist geprägt ist.

Dieringer steht mit seiner Theologie im Spannungsfeld der theologischen und philosophischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Sein christozentrisches Offenbarungsverständnis hebt sich ab von den idealistischen und rationalistischen Interpretationen des Christentums, ohne deren Anliegen jedoch gänzlich zu ignorieren. Ebenso streitet Dieringer mit den theologischen Richtungen seiner Zeit und versucht mit seiner positiven Theologie ein Gegengewicht bzw. einen Brückenschlag zu von der Aufklärung oder der Scholastik geprägten Theologien zu bilden. Diese theologischen Flügelkämpfe eingebettet in die kirchenpolitischen Entwicklungen und die Spannungen im Staatskirchenverhältnis des 19. Jahrhunderts prägen Dieringers akademischen Werdegang. Seine Theologie ist ein wesentliches Mittel zum Verständnis seiner Biographie, was vielleicht am deutlichsten am Ende seiner Laufbahn hervortritt. Dieringer nämlich verzichtet als einziger deutscher katholischer Theologe auf seine Professur nach dem I. Vatikanischen Konzil. Zugleich unterzeichnet er gegenüber dem Kölner Erzbischof die Anerkennung der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes. Dieringers Verhalten ist nicht nur für die Bonner Fakultät von besonderer Bedeutung, sondern stellt auch einen Sonderfall für die gesamte deutsche theologische Landschaft im Umfeld des I. Vatikanums dar. Dieses scheinbar widersprüchliche Vorgehen, nämlich das neue Dogma nicht in der Lehre vertreten zu wollen oder zu können, es aber dennoch persönlich anzuerkennen, erklärt sich jedoch durch Dieringers Verständnis der Dogmatik als positiv-theologischer Wissenschaft in der Kirche einerseits und seinem daraus resultierenden Kirchenverständnis anderseits.

Die vorliegende Arbeit unternimmt daher den Versuch, das theologische Profil des Bonner Dogmatikers vor dem Hintergrund dessen Biographie zu erheben. Zu diesem Zweck ist der Arbeit zunächst eine biographische Skizze vorangestellt, die die wesentlichen Lebensdaten und insbesondere die akademische Laufbahn Dieringers nachzeichnet. In einem zweiten Schritt erfolgt ferner eine kurze Darstellung seines methodischen Ansatzes. Beide Aspekte – Biographie und theologische Grundhaltung der Person Franz Xaver Dieringer – bilden somit den Einstieg in das Werk des Bonner Dogmatikers. Im zweiten Kapitel werden dann anhand der von Dieringer in seinen Werken selbst gesetzten Schwerpunkten seiner Systematik dessen Offenbarungstheologie, Christologie und Ekklesiologie erarbeitet, um diese in einem abschließenden dritten Kapitel in den theologischen Kontext seiner Zeit einzuordnen. Die Arbeit versteht sich im Wesentlichen als ein Beitrag zur Geschichte der Dogmatik im 19. Jahrhundert und näherhin als ein Beitrag zur Geschichte der systematischdogmatischen Lehre an der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät, deren Mitglied Franz Xaver Dieringer 28 Jahre lang war. Sein ebenfalls umfangreiches homiletisches Werk sowie seine vielfältiges publizistisches Eingreifen in die Tages- und Kirchenpolitik werden in dieser Arbeit nur am Rande behandelt. Gleichwohl wird die Darstellung des systematischen Theologie Franz Xaver Dieringers der Ausgangspunkt aller weiteren Befassung mit dessen Gesamtwerk sein müssen. So bildet diese Promotionsschrift sicher auch eine wesentliche Grundlage für eine bisher noch ausstehende umfassende Biographie des Kölner Domkapitulars, der zur „Elite des rheinischen Katholizismus“2 gehörte. Obgleich Dieringer aufgrund seines politischen und theologischen Engagements als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des rheinischen Katholizismus im 19. Jahrhundert bezeichnet werden kann3, liegt bis zum heutigen Tag keine ausführliche Biographie Dieringers vor. Ebenso ist diese Arbeit die erste Darstellung und Monographie der theologischen Leistungen Dieringers. Selbst in Überblickswerken zur Theologie des 19. Jahrhunderts oder zur Katholischen Tübinger Schule findet Dieringer wenn überhaupt nur eine kurze Erwähnung. Die vorliegende Arbeit will somit auch eine Forschungslücke schließen, um einem zu seiner Zeit im deutschsprachigen Raum höchst angesehenen Theologen der Bonner Fakultät Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Arbeit fokussiert dabei vornehmlich auf den Dogmatiker Franz Xaver Dieringer. Die Arbeiten Dieringers im Bereich der Homiletik, Katechetik, Journalistik oder auch seine Schriften zum Staatskirchenverhältnis kommen nur am Rande in den Blick der Betrachtungen. Gleichwohl versteht sich diese Dissertation als wesentlichen Beitrag und Ausgangspunkt aller weiteren theologischen und geschichtswissenschaftlichen Forschungen zu Leben und Werk Franz Xaver Dieringers.

Die Befassung mit der Theologie Franz Xaver Dieringers hat mein eigenes theologisches Denken bereichert und geschärft. Vor allem aber hat es mir vor Augen geführt, dass viele Fragen der damaligen Zeit auch heute noch zur Beantwortung anstehen. Mit Dieringer bin ich dabei der Auffassung, dass weder ein reines Zurückgehen auf die Theologie der Vorzeit noch ein Aufgehen der Theologie in Fragen der Jetztzeit die Antwort auf die Krisenmomente unserer Kirche sind. Vielmehr wird es darum gehen, in einen an der Offenbarung und an Christus orientierten Dialog mit der heutigen Zeit zu treten. Die Idee des lebendigen Gottes bewahrt und getragen durch die Gemeinschaft der Kirche sind dabei die Leitschnur und das Maß unseres wissenschaftlichen Handelns. Genau dazu können das theologische Profil und das theologischmethodische Vorgehen Franz Xaver Dieringers auch heute wichtige Hinweise geben.

1.2 Der akademische Werdegang von Franz Xaver Dieringer – eine biographische Skizze

Anhand einer kurzen biographischen Skizze, die die bisher nur vereinzelt vorliegenden Beiträge zum Leben Dieringers in einem Überblich zusammenführt, soll ein Einblick in Herkunft und Prägung, in Ausbildung und Werdegang gegeben werden, um gleichsam den Lebenskontext der Theologie Dieringers zu erschließen.

1.2.1 Herkunft und Schulzeit

Der erste Blick gilt dabei zunächst dem familiären Umfeld und der heimatlichen Schulzeit in Rangendingen und Konstanz.

1.2.1.1 Das familiäre Umfeld in Rangendingen

Franz Xaver Dieringer wurde am 22. August 1811 in Rangendingen in Hohenzollern geboren.1 Sein Vater, Jakob Dieringer (14.12.1786 – 10.02.1814), war Küster in seinem Heimatort und verstarb - kaum 28 Jahre alt - als sein Sohn gerade zweieinhalb Jahre alt war. Dass Jakob Dieringer eine prägende Gestalt in Dieringers Kindheit und Jugend gewesen ist, kann daher wohl kaum angenommen werden. Anders wird es sich bei seiner Mutter verhalten haben, die den Sohn zunächst allein erziehen musste. Johanna Dieringer (geb. Schenk) wurde am 06. Mai 1790 geboren und starb am 05. Juni 1847.2 Sie konnte somit den akademischen Aufstieg ihres einzigen Sohnes noch lange Jahre miterleben. Beide Eltern stammten zwar aus reichen Bauernfamilien, waren aber selbst keine Hoferben3. Herkunft und familiäres Schicksal legten also zunächst nicht nahe, dass Franz Xaver Dieringer eine Hochschulkarriere machen und gar zu einer prägenden Größe des deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts werden würde. Die Mutter heiratete jedoch ein zweites Mal und Dieringers Stiefvater förderte die Talente seines Ziehsohnes, sandte ihn aufs Gymnasium und finanzierte ihm später das Studium4. Dieringers einzige Schwester Franziska wurde am 02. Januar 1813 geboren.5 Der Chronist der Familie Dieringer, Pfarrer Andreas Dieringer, beschreibt die Erziehung des jungen Franz Xavers als christlich geprägt und seine priesterliche Berufung fördernd.6 Dies deckt sich mit den meisten Beschreibungen der religiösen Situation in der Region um Rangendingen zu dieser Zeit. Das bäuerliche Umfeld des fast geschlossen katholischen Fürstentums Hohenzollern-Hechingen war von der „Aufklärung unberührt geblieben“7 und lebte noch in einer Welt der barocken Volksfrömmigkeit mit einem lebendigen religiösen Brauchtum8. Die Kindheit Dieringers wird daher sowohl ein ausgeprägtes Wallfahrtswesen und vielfältige Segnungsriten als auch fast abergläubische Praktiken und Auffassungen gekannt haben, in denen Teufel, Hexen und Dämonen ihren Platz hatten.9

1.2.1.1 Die Schulzeit in Konstanz

Erst der spätere Schulbesuch in Konstanz brachte Dieringer in Kontakt mit einem anderen, aufgeklärten Denken, nämlich dem eines Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg. Die ersten Jahre der Gymnasialbildung verbrachte er jedoch noch im heimatlichen Hedingen-Sigmaringen10 auf dem erst 1819 vom Fürsten Anton Alois von Hohenzollern-Sigmaringen gegründeten Gymnasium. In dieser Gründungszeit des Gymnasiums (bis 1839) verlief der Unterricht nur bis zur vierten Gymnasialklasse, so dass ein Wechsel zum weiterführenden Gymnasium nach Konstanz für Dieringer unumgänglich war, um das Abitur zu erreichen.11 Mit dem Wechsel nach Konstanz, wo er im Jahr 1831 sein Abitur mit der Note „sehr gut“ absolvierte12, kam er mit siebzehn Jahren zum ersten Mal aus der dörflichen Umgebung Hohenzollerns heraus in ein städtisches Milieu. Der bereits erwähnte Kontakt mit dem sogenannten Wessenbergianismus wird in ihm Widerstände ausgelöst haben, wie sie allgemein in Hohenzollern im Gegensatz von Stadt und Land zu Tage traten.13 Seine dörfliche, barocke Prägung wird ihn mit Verwunderung und sicherlich auch mit Verwirrung auf den Geist der Aufklärung und des Josephinismus, den er in Konstanz vorfand, reagieren lassen haben. Dennoch wäre es verkürzt, Dieringers spätere theologische bzw. kirchpolitische Opposition gegen I. H. Wessenberg, J. B. Hirscher oder A. Günther14 allein in dieser Jugenderfahrung begründen zu wollen. Vielmehr scheint sich hier bereits anzubahnen, was später für Dieringers theologisches Denken kennzeichnend sein wird, nämlich seine Fähigkeit zur Synthese verschiedener Ansätze und Richtungen. So werden sich in seinen Schriften und in seiner gesellschaftspolitischen Arbeit durchaus volkspädagogische Ansätze wessenbergischer Prägung finden, aber auch deutliche Abgrenzungen von dessen Überzeugungen, die zu Dieringers Schulzeit das beherrschende Kirchenverständnis darstellten.15 Wenn man hier etwas aus jugendlicher Opposition heraus erklären will, so muss man mindestens zugestehen, dass es sich um eine reflektierte und wohl begründete Opposition handelte, die Dieringer vorantrieb.

1.2.2 Studium in Tübingen und Repetent in Freiburg

Nach dem Abitur und den zweijährigen philosophischen Studien am Lyceum in Konstanz beginnt Dieringer 1831 das Studium der Theologie zunächst in Freiburg im Breisgau, wechselt allerdings bereits im Folgejahr nach Tübingen, wo er bis 1834 die Gründungsprofessoren der sogenannten Katholischen Tübinger Schule, nämlich Johann Sebastian von Drey, Johann Baptist Hirscher und Johann Adam Möhler, hört.16

1.2.2.1 Der Kontakt zur Katholischen Tübinger Schule

Mit dem örtlichen Wechsel von Freiburg nach Tübingen erfuhr Dieringer auch einen Wechsel im theologischen Denken. Wurde Freiburg in den frühen 30er Jahren des 19. Jahrhunderts noch von der Aufklärung und den rationalistischen Theologen Johann Heinrich Schreiber und Karl Alexander von Reichlin-Meldegg geprägt, waren es in Tübingen die genannten Professoren, die für eine andere Richtung standen. Sie standen weder für einen romantischen Mystizismus, noch für einen aufklärerischen Rationalismus, noch versuchten sie, eine zeitlose Lehre oder System zu errichten. Vielmehr entwickelten sie eine an der positiven, geschichtlichen Offenbarung und kirchliche Tradition gebunden Theologie.17 Diese Kennzeichnung der Katholischen Tübinger Schule als Vermittler einer sogenannten positiven Theologie ist tatsächlich für Dieringers theologische Arbeit von größter Bedeutung gewesen. Er selbst bezeichnet sich später als Vertreter einer positiven Theologie.18 Von dieser Theologie geprägt und getragen tritt Dieringer 1834 in das Priesterseminar zu Freiburg ein, wo er am 19. September 1835 die Priesterweihe empfing.19 Während der knapp einjährigen Seminarszeit muss Dieringer der Seminarleitung sowohl durch seine intellektuellen Begabungen als auch durch seine pädagogischen und menschlichen Fähigkeiten aufgefallen sein, da man ihm gleich nach der Weihe eine Stelle als Repetent im Priesterseminar anbot.20

1.2.2.2 Repetent in Freiburg und der Kontakt zu F. A. Staudenmaier

Als Repetent war er zugleich Bibliothekar des Seminars und dessen Dozent für Homiletik, wahrscheinlich repetierte er zudem Katechetik und systematische Theologie.21 In dieser Zeit (1836/37) war auch der spätere Theologe Thomas Geiselhart ein Student unter Dieringer, der ihn in seiner Autobiographie als „gut katholisch“ im Gegensatz zu vielen anderen Ausbildern bezeichnete.22 Tatsächlich tat sich Dieringer in seiner ersten theologischen Veröffentlichung als Vertreter einer strengkirchlichen Richtung kund. 1836 erschien in der Tübinger Theologischen Quartalsschrift ein Artikel von ihm „Über die Bedeutung der kirchlichen Exorzismen und Benediktionen“, in dem er sich deutlich für den Erhalt dieser traditionellen liturgischen Handlungen ausspricht, da sie lebendiger Ausdruck des Auftrags der Kirche sind, der ganzen Welt das Heil und den Segen Christi zuzusprechen und gerade darin den Fluch der Erbsünde, der auf der ganzen Schöpfung lastet, zu brechen.23 Mit dieser Veröffentlichung greift Dieringer mutig und selbstbewusst ein in den im Erzbistum Freiburg entbrannten sogenannten „Ritual-Kampf“.24 Hintergrund der Debatte war ein 1835 durch das Freiburger Ordinariat, näherhin von Domkapitular Demeter, herausgegebene Rituale, das wieder deutliche Nähe zum Rituale Romanum zeigte und damit das 1831 von Wessenberg erstellte Rituale ablösen wollte. In dieser Debatte bezog Dieringer eindeutig Position für das Rituale Demeters und damit eine strengkirchliche Stellung, die ihm für seinen Werdegang in Baden insofern zum Verhängnis wurde, als dass ihm die badische Regierung im Jahr 1839 mit dem Hinweis auf seine „in Vorträgen und Druckschriften“ vertretenen „krassesten scholastisch-theologischen Ideen“ und „exorbitanter ultramontaner Tendenzen“ die von ihm beantragte Einbürgerung verweigert, womit ihm ein weiterer Verbleib in Freiburg erschwert wird.25

Mit dem Ruf von F. A. Staudenmaier, einem Schüler Dreys, 1837 an die Freiburger Universität kommt Dieringer mit dessen theologischem Gedankengut in Kontakt. In der Folge veröffentlich er im Mainzer Katholik im Jahr 1838 einen Aufsatz „Über die Offenbarung als Vermittlung des höheren Lebens durch die Gottheit“26, in dem sein eigenes Theologieverständnis und sein Offenbarungsverständnis auf der Grundlage der Staudenmaierschen Schrift „Geist der göttlichen Offenbarung“ entwirft. Diese Schrift ist gleichsam die Grundlage des theologischen Konzepts Dieringers und ist ganz im Geiste der positiven Theologie gehalten.27 Die weiteren Werke und Arbeiten Dieringers werden diesen Ansatz einer Theologie, die sich ganz der positiven, geoffenbarten Wahrheit, wie sie in den Quellen von Schrift und (lehramtlicher) Tradition vorgefunden wird, verpflichtet fühlt, nicht mehr verlassen. Von genau diesem Geiste ist auch sein erstes größeres Werk geprägt, dessen ersten Band er noch in Freiburg als Repetitor schreibt und im Jahr 1840 vollendet. „Das System der göttlichen Thaten des Christenthums, oder: Selbstbegründung des Christenthums, vollzogen durch seine göttlichen Thaten.“28 ist eine vehemente Verteidigung der Historizität der biblischen Wunderberichte als Ausdruck geschichtlicher Wirksamkeit Gottes in dieser Welt zur Stiftung der wahren Religion im Christentum. Der erste in Freiburg geschriebene Band wird von Dieringer auch „Polemik der göttlichen Thaten“ genannt, spricht sich deutlich gegen jede Form der Wunderkritik aus und beschreibt die Durchsetzung des Christentums gegenüber Juden- und Heidentum.29 Dieringer selbst schreibt im Vorwort des Werkes, dass das Buch seine Anregung in seiner Tätigkeit als „Lehrer der Kanzelberedsamkeit“ gefunden hat, als er den Seminaristen anhand der jeweiligen Schrift-Perikopen des Kirchenjahres auch die Vermittlung der Wunderberichte näher bringen wollte und kein geeignetes Kompendium in der Sache vorfand.30 Dieringer entschied sich dieses fehlende Buch selbst zu schreiben und dabei im Wesentlichen auf die Literatur der Kirchenväter zu rekurrieren. Vollenden konnte er den zweiten Band bereits als „Professor der Theologie am Bischöflichen Clerical-Seminar zu Speyer“31.

1.2.3 Professor in Speyer

War ihm die Einbürgerung in Baden und damit auch die Professur aufgrund seiner Schriften durch die badische Regierung verwährt worden, so hatten dieselben Schriften den Bischof von Speyer, Johannes von Geissel, dazu bewegt, Dieringer eine Professur für Dogmatik, Liturgik und Homiletik in seinem gerade gegründeten Priesterseminar anzubieten.32 Seinen Abschied von Freiburg hatte ihm die badische Landesregierung in einem Schreiben vom 8. März 1839 bereits nahe gelegt33 und dieser wird ihm auch wegen der innerkirchlichen Flügelkämpfe, die bis ins Seminar reichten,34 nicht schwergefallen sein.35 Da der Briefwechsel zwischen Dieringer und Bischof Geissel in dieser Sache erst im Sommer 1840 erfolgte36, wird Dieringer wohl zum Herbst 1840 nach Speyer gegangen sein, wo er nur wenige Jahre bis 1843 wirkte.37 Im Jahr 1841 übernimmt Dieringer zusätzlich zu seiner Professur am Seminar noch eine Dozentur für Philosophie am Lyceum, einem Knabenseminar zur Vorbereitung auf das Theologiestudium.38 Im selben Jahr wird ihm durch die Universität München für das bereits erwähnte zweibändige Werk „System der göttlichen Thaten des Christenthums“ der Doktor der Theologie honoris causa verliehen.39

1.2.3.1 Die Freundschaft zu Johannes von Geissel

Die kurze Zeit in Speyer ist für Dieringers weitere akademische Laufbahn als auch für sein kirchenpolitisches Engagement von nicht geringer Bedeutung. Mit der Annahme des Rufes nach Speyer zu Geissel beginnt eine bis zum Lebensende Geissels anhaltende enge berufliche Verbindung und persönliche Freundschaft zu diesem Bischof und späteren Kardinal.40 Seine Beziehung zu Geissel ist dabei von einem großen Vertrauen des Bischofs geprägt, das dieser ansonsten nur wenigen Menschen in seinem Umfeld schenkte.41 Geissel wird am 24. September 1841 von Papst Gregor XVI. zum Koadjutor-Erzbischof und Apostolischem Administrator von Köln ernannt.42 Erzbischof Clemens August Freiherr von Droste zu Vischering war infolge der sogenannten „Kölner Wirren“ (1837) zunächst verhaftet worden und lebte seit seiner Freilassung 1839 gleichsam exiliert in Münster. Geissel, der sein Koadjutoren-Amt erst 1842 antritt,43 wird sowohl innerkirchlich, als auch im Verhältnis zum Staat andere Wege als sein Vorgänger gehen. Dazu wird er auch in Köln erneut auf Dieringer zurückgreifen.

1.2.3.2 Chefredakteur der Mainzer Zeitschrift „Katholik“

Zunächst aber übernimmt Dieringer im Jahr 1842 zusätzlich zu seiner Lehrtätigkeit die redaktionelle Leitung der Zeitschrift „Katholik“, die zunächst 1821 in Mainz gegründet worden war, dann aber von der hessischen Regierung ins bayrische Speyer verdrängt wurde.44 Der Leiter und Gründungsredakteur des „Katholik“ Nikolaus von Weis wurde 1842 Nachfolger Geissels als Bischof von Speyer.45 Dieringer tritt damit an die Spitze eines der bedeutendsten katholischen Kirchenblätter im deutschsprachigen Raum. „Alles, was Rang und Namen im katholischen Deutschland besaß, beteiligte sich und verlieh diesem Blatte klassisches Profil.“46 Dieringer befindet sich somit nur gut ein Jahr nach seinem Wechsel nach Speyer in der Position, gemeinsam mit renommierten Autoren, wie Möhler, Sailer, Döllinger, den Gebrüdern Brentano oder Görres47 zu veröffentlichen und sich so einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Der „Katholik“ zeichnet sich dabei als eher kirchpolitisches Blatt und weniger als theologische Fachzeitschrift aus.48 Alle Mitarbeiter des Blattes sind durch eine strengkirchliche, aufklärungsfeindliche und konservative Grundanschauung in kirchlichen und politischen Fragen geprägt und verbinden diese mit einer „schroffen Ablehnung jedes Staatskirchentums – unter Einforderung des eigenen Besitzstandes nach dem kanonischen Recht“.49 Diese Haltung war auch die Position Dieringers, wie sich in den Freiburger Auseinandersetzungen um seine Staatsbürgerschaft zeigt. Die Tatsache, dass Geissel, der sich ebenfalls unter den Autoren des „Katholik“ findet, und Weis, der einer der Gründungsredakteure des „Katholik“ war und nun neuer Bischof von Speyer ist, ihn in diese Position befördern, weist Dieringer eindeutig diesem ultramontanen Personenkreis zu. Dieringer sammelt somit in Speyer zunächst weitere Lehrerfahrung, erhält aber insbesondere in der einjährigen Leitung des „Katholik“ Einblick in die journalistische Arbeit der katholischen Kirchenblätter seiner Zeit und zudem Kontakt zu den führenden Köpfen des deutschen politischen Katholizismus. Mit Blick auf die gesamte Biographie Dieringers kann man wohl den Wechsel nach Speyer als die wesentliche Entscheidung im Lebensweg Dieringers bezeichnen. Es ist zum einen die dort beginnende Freundschaft mit Geissel, die von bestimmender Bedeutung werden wird für seinen weiteren Weg, aber auch der Einstieg in den Journalismus und die dazu nötige Fähigkeit der Reduktion und Vereinfachung theologischer Themen für die Rezeption in weiten Kreisen der (theologisch) ungebildeten katholischen Bevölkerung, die er nicht mehr wieder aufgeben wird.50

1.2.4 Professor und Domkapitular im Erzbistum Köln

Geissel erwirkt noch vor Übernahme seines neuen Amtes gegenüber der Preußischen Regierung, dass ihm das Recht der missio canonica für die Theologieprofessoren und Religionslehrer zugestanden wird. Aufgrund seiner Kompromissbereitschaft in anderen Fragen kommt man ihm entgegen, um das zerrüttete Verhältnis zur Katholischen Kirche in Köln wieder zu normalisieren.51 Geissel stellt damit bereits im Vorfeld seines Amtsbeginns den formellen Frieden mit der Landesregierung her und erhält zugleich die Mittel in die Hand, um intern gegen die Anhänger der Lehren Georg Hermes’ vorzugehen, die 1835 durch Rom verurteilt worden waren.

1.2.4.1 Die Restrukturierung der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät

Die Bonner Professoren Johann Heinrich Achterfeldt (Moraltheologie) und Johann Wilhelm Braun (Kirchengeschichte) gehörten in der Fakultät zu Anhängern und Verteidigern der hermesianischen Theologie.52 Geissel entzieht ihnen die kirchliche Lehrerlaubnis (missio canonica) und erhält damit freie Hand, die Bonner Fakultät mit ihm genehmen Theologen zu besetzen.53 In diesem Zusammenhang schlägt er der Regierung Dr. Dieringer für die Dogmatik vor, den diese umgehend akzeptiert.54 Dieringer zieht Ostern 1843 nach Bonn und wird dort mit 32 Jahren zum Ordinarius für Dogmatik und Homiletik.55 Da es zunächst für Achterfeldt keinen Nachfolger gibt, liest Dieringer bis 1844 zudem noch Moraltheologie. Eine weitere Lücke entsteht in Bonn durch die Suspendierung Achterfelds in der Leitung des Theologenkonvikts, so dass Dieringer auch diese schwierige Aufgabe durch den Erzbischof übertragen bekommt. Achterfeldt hatte sich zunächst mit Erfolg aufgrund der nicht eindeutigen Rechtslage des Konvikts als halbstaatlicher Einrichtung geweigert, sein Amt niederzulegen. Das Seminar, das wenige Jahre später unter Scheeben ein Hort der Neuscholastik werden sollte, war noch im Jahr 1843 dermaßen vom Hermesianismus geprägt, dass es deutlichen Widerstand auch unter den Seminaristen gegen Dieringer gab, der bis zu öffentlichen Angriffen gegen ihn in der Presse führte.56 Dieringer reagierte darauf nicht und führte auch keine direkten Angriffe gegen Hermes, sondern setzte seine Theologie in Predigt und Lehre dagegen.57 Auch dies ist ein Beweis für das Vertrauen Geissels in die rechte Gesinnung Dieringers. Als im Herbst 1844 Konrad Martin an die Bonner Katholisch-Theologische Fakultät berufen wird, tritt Dieringer beide Aufgaben wieder ab.58 Im Sommersemester 1843 beginnt Dieringer seine dogmatischen Vorlesungen mit der „Theorie der Offenbarung“ und setzt damit sofort ein Zeichen, dass nunmehr nach der Zeit des Hermesianismus die positive Theologie in Bonn Einzug hält, und damit auf eine dezidierte Aufklärungstheologie eine wesentliche Offenbarungstheologie folgt.59 Dieser Wechsel stellt wohl nicht nur eine theologische oder methodische Richtungsänderung dar. Der Zuspruch, den Dieringer mit seiner Theologie in Bonn erfährt, spricht auch dafür, dass die kirchlich gesinnten Akademiker nach einer Theologie suchten, die weniger von der Zeit der Aufklärung und der rein rationalen Erklärung des Christentums geprägt war, als vielmehr von der Wendung hin zur Kirche und ihren Lehrquellen. Dabei kann man den Erfolg Dieringers, der sich nachweislich auch in deutlich steigenden Studentenzahlen zeigen lässt60, auch als eine gesellschaftliche Veränderung deuten, die sich im Zuge der Restauration von der Aufklärung abwendet und die Romantik entstehen lässt.61 Der junge Professor Dieringer bringt in mancher Hinsicht neuen Elan an die Fakultät. „Dieringers Auftreten zu Bonn überraschte durch jugendliche Frische, welche damals in der katholisch-theologischen Fakultät ein fremdes Element war, durch eine ganz selbstständige Lehrmethode und vor allem durch seine geistreiche und originelle Herrschaft über die Sprache.“62 Dieringer ist jung, ein begnadeter Redner und seine Theologie basiert auf einer für den Bonner Kontext völlig neuen Methode. Anders als Hermes, der ebenfalls großen Zulauf in Bonn erfuhr,63 besticht Dieringer nicht mit einer neuen Lehre, mit einer originellen oder kreativen Theologie, sondern vielmehr durch seine rhetorischen Fähigkeiten, die traditionelle Dogmatik der Kirche als positive Offenbarungslehre darzustellen.64 Zudem ist die Kollegenschaft in Bonn durch die Suspendierung von Achterfeldt und Braun, zweier tragender Professoren, geschwächt; zwei weitere Kollegen, Vogelsang und Hilgers, hatten sich durch klärende Stellungnahmen vom Hermesianismus distanziert und sich so den Forderungen Geissels unterworfen; sie konnten daher im Amt verbleiben.65 Es muss in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass es Geissel nicht gelingt, weitere, bedeutende (Tübinger) Theologen für die Bonner Fakultät zu gewinnen66. Die Last der Erneuerung liegt somit ganz auf Dieringer. Er bleibt dadurch bis in die Mitte der 1860er Jahre die prägendste intellektuelle Kraft der Bonner Fakultät67 und der Lehrkörper mit dem größten Einfluss und Rückhalt beim Erzbischof.68

1.2.4.2 Herausgeber der Katholischen Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst und Gründungsmitglied des Borromäusvereins

Eine weitere Neuerung, die mit Dieringer Einzug hält, ist die Gründung einer neuen Zeitschrift als Publikationsforum der Fakultät. Noch im Jahr seiner Berufung nach Bonn gründet Dieringer mit verschiedenen anderen Bonner Professoren69 die „Katholische Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst“70, die er im Jahr 1847 in eine Vierteljahrschrift umwandelt71 und deren Erscheinen im Jahr 1849 eingestellt wird.72 Ganz im Sinne Geissels soll die neu gegründete Zeitschrift ein Gegengewicht zur „Zeitschrift für Philosophie und Theologie“73 sein, die stark hermesianisch geprägt ist und über eine große Leserschaft verfügt.74 Die neue Zeitschrift wird dabei von Die-ringer nicht als Kampfschrift gegen Hermes angelegt, sondern soll vielmehr eine Publikation sein, die „den katholischen Interessen und jenen des positiven Christenthums überhaupt“ dient und umfasst daher über einzelne theologische Fachartikel hinaus Beiträge zu politischen und kirchenpolitischen Themen.75 Seine neue journalistische Arbeit in Bonn war somit inhaltlich die Fortsetzung seiner Tätigkeit in Speyer für den „Katholik“.76 Tatsächlich behält er auch den dort erworbenen journalistischen Stil bei und benutzt daher das Blatt keineswegs zum direkten Schlagabtausch mit politischen oder theologischen Gegnern. Dieringer „verstand in aller Polemik zwischen Person und Sache zu unterscheiden, ließ auch den Gegnern eine Chance“ und „war bemüht, bei allen Bestrebungen der Zeit guten Willen vorauszusetzen. Dieringer war ein fähiger und nobler Journalist.“77 Die Redaktion der KZWK übergibt Dieringer 1846 an seinen Kollegen Berhard Joseph Hilgers (Kirchengeschichte). Damit aber zieht sich Dieringer keinesfalls aus der publizitischen Arbeit heraus. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er die Leitung der KZWK, an der er als Mitarbeiter auch als Vierteljahrschrift bis 1849 noch mitwirkt, deshalb abtritt, weil er im Jahr 1846 den Vorsitz des Borromäusvereins infolge der Erkrankung des Gründungspräsidenten Max Freiherr von Loe übernimmt.78 Bereits 1844 wird der „Verein vom heiligen Karl Borromäus“ in Bonn unter Mitwirkung Dieringers, der zunächst das Amt des Schriftführers und damit auch die Geschäftsstelle des Vereins übernimmt, gegründet.79 Ziel des bis heute bestehenden Vereins ist die Verbreitung und Förderung des katholischen Schrifttums. Abwehr und Erbauung hatte Dieringer schon in seinem Grundsatzartikel im Katholik von 1843 als die Hauptaufgabe des katholischen Journalismus benannt80. Ganz in diesem Sinne sollen nun auch der Borromäusverein und sein ab 1846 erscheinendes Monatsblatt wirken. Dieringer geht es dabei auch um das Nachholen einer Entwicklung, die der Protestantismus im Bereich der Zeitschriften und Bücher bereits mit der Reformation begonnen hat, und somit um die Umsetzung einer Erkenntnis, die die Nachreformationszeit für die Kirche erbracht hat.81 So widmet sich denn auch das erste Buch des Borromäusvereins für seine Mitglieder „Der heilige Karl Borromäus und die Kirchenverbesserung seiner Zeit“82 der Biographie eines Heiligen und Kardinals des Trienter Konzils mit dem Zweck „das halb vollendete Werk der Durchführung der Trienter Beschlüsse von Neuem aufzunehmen“83. Dieringer versteht diese Biographie als Programmschrift des Vereins84, zugleich ist ihm dieses Programm aber auch ein persönliches Anliegen, denn über das Trienter Konzil hatte Dieringer immer wieder vorgetragen seit seiner Zeit als Repetent in Freiburg.85 Schließlich nimmt er die Geschichte des Konzils von Trient auf in seinen systematischen Vorlesungszyklus in Bonn.86 Die Nachhaltigkeit des Wirkens Dieringers im Borromäusverein ist offenkundig in seiner bis heute bestehenden Struktur, zeigt sich aber auch in dem seit 1846 erscheinenden „Monatsblatt des Vereins vom hl. Karl Borromäus“, das als Vorläufer der noch bis 1941 beim Verlagshaus Bachem herausgegebenen „Kölnischen Volkszeitung“ erschien, die eine der führenden katholischen überregionalen Tageszeitungen darstellt.87

1.2.4.3 Gründer des homiletisch-katechetischen Seminars

Die enorme Leistungsfähigkeit und Vielseitigkeit Dieringers zeigt sich an den zahlreichen gleich zu Beginn seiner Professur in Bonn angestoßenen Unternehmungen, zu denen auch die Anregung gegenüber Geissel gehört, in Bonn einen eigenen feiertäglichen Gottesdienst als Universitätsgottesdienst zu etablieren. Zunächst richtet Dieringer als „Provisorischer Konviktsinspektor“ zum Allerheiligenfest 1843 eine Messfeier für die Seminaristen und Theologiestudenten im Bonner Münster ein, bei dem er selbst die Predigt hält und der als bald so gut auch von anderen Akademikern besucht wird,88 dass Dieringer und Martin im Januar 1845 durch die Preußische Regierung zu Universitätspredigern bestellt werden.89 Im selben Zeitraum hatte Dieringer ebenfalls bei der Regierung erwirkt, dass an der katholisch-theologischen Fakultät ein homiletisch-katechetisches Seminar errichtet wird, dessen Direktor er bis zu seinem Fortgang aus Bonn 1871 bleibt.90 Maßgeblich für den positiven Entscheid des Ministeriums scheint dabei nicht die Unterstützung Geissels gewesen zu sein, sondern vielmehr Dieringers Offenheit für die durch das Ministerium gewünschten neuen didaktischen Ansätze, die den Studenten über die bloße Vorlesung hinaus im Seminar Möglichkeit geben, in die wissenschaftliche Diskussion und in praktische Übungen einzusteigen.91 Diese kann Dieringer als übliche Struktur seiner Predigt-Seminare vorweisen. Viele der Predigten und Kanzelvorträge der ersten Jahre sowie die Vorlesungen aus den Homiletik-Seminaren hat Dieringer zunächst 1844 in einem zweibändigen Werk mit dem Titel „Kanzelvorträge für gebildete Katholiken auf alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres“92 herausgeben. Der homiletische Ansatz Dieringers wird im Vorwort kurz umschrieben und dabei deutlich als ein der Systematik und Dogmatik unter bzw. zugeordnetes Fach verstanden. Predigtlehre ist nicht zuerst moralisch-sittliche Erziehung, wie dies insbesondere die Volksaufklärung unter Wessenberg verstand. Dieringer richtet seine Kanzelvorträge streng am Kirchenjahr und der jeweiligen Perikope aus, versucht deren christologische „Grundlegung“ zu verdeutlichen und will dies in einer der Hörerschaft angemessenen Weise tun.93 „Die Haltung ist durchaus eine dogmatische auch bei Besprechung ethischer Gedanken. Die sogenannten reinen Sittenpredigten sind mir von Herzen zuwider; das Aufzählen und Einbläuen von sittlichen Imperativen, das Abkanzlen einzelner Stände und ihrer Fehler u.s.w. eckelt mich an“.94 Ausgangspunkt auch für Homilie und Predigt ist stets das positive Dogma und die Offenbarung. „Jeder dogmatische Gedanke sey der Träger und Verkünder seiner ethischen Momente; jeder sittliche Grundsatz erscheine in seiner dogmatischen Bedeutung“.95

1.2.4.4 Theologischer Autor und Berater Geissels

Genau in diesem Sinne der positiven Theologie, die stets rückgebunden ist an das kirchliche Dogma und die geoffenbarte Wahrheit, ist auch Dieringers zweites großes theologisch-systematische Werk das „Lehrbuch der katholischen Dogmatik“ gehalten, das 1847 von ihm veröffentlicht wird. Das mehr als 665 Seiten umfassende Werk erfreut sich so großer Resonanz, dass es insgesamt bis 1865 fünf Auflagen erfährt.96 Das Buch versteht Dieringer als Grundlage für „academische Vorträge“ und geeignet für das „übersichtliche Studium der Dogmatik“ und richtet sich damit ganz eindeutig an eine Fachleserschaft, vornehmlich an Studenten der Theologie.97 Es soll ganz in der Methode der positiven Theologie „Construction des kirchlichen Lehrbegriffs sein, wie derselbe von der Kirche selbst festgestellt oder doch aus den Quellen der Kirchenlehre mit Sicherheit zu ermitteln ist“98 Dieringer will sich dabei weder in Dogmengeschichte, noch in Apologetik, noch in spekulativer Philosophie ergehen, sondern zunächst die Lehre der Kirche (positiv) darstellen und die jeweiligen anderen systematischen Disziplinen nur insofern hinzuziehen, als sie einer „wissenschaftlichen Darstellung des kirchlichen Lehrbegriffs“ dienlich sind.99 Im Jahr nach Erscheinen der Dogmatik wird ihm von der Universität Prag die Ehrendoktorwürde für seine Dogmatik verliehen.100

In die zweite Hälfte der 1840er Jahre fällt infolge der revolutionären Ereignisse in Deutschland auch das weitere gesellschaftspolitische Engagement Dieringer. Im Jahr 1846 wird zum Bonner Stadtverordneten gewählt, im Jahr 1848 nimmt er auf Wunsch Geissels das Mandat für den Wahlkreis Neuss im Frankfurter Parlament wahr.101 Dort betätigte er sich in der konservativen Casino-Partei und vertrat dort erneut strengkirchliche Positionen, die sich gegen jede Form der Staatskirchlichkeit richtete.102 Nachhaltiger als dieser Ausflug Dieringers in die Politik bleibt sein Einsatz im Sozialen. Dieringer kann sich in Bonn in die seit 1842 anhaltenden Überlegungen und Auseinandersetzungen um die Einrichtung eines Hospitals, das von Ordensschwestern betreut werden soll, einbringen. Er erreicht, dass auf Vorschlag des Kölner Erzbischofs in Bonn ein Krankenhaus in freier kirchlicher Trägerschaft errichtet werden kann und schafft damit einen Präzedenzfall in Preußen. Das neue „Johannes-Hospital“ kann 1849 seine Tätigkeit aufnehmen und wird von „Barmherzigen Schwestern“ geführt; es ist damals das einzige Krankenhaus in Bonn und wird erst im Jahr 2005 im Zuge von Kooperationsvereinbarungen mit anderen kirchlichen Krankenhäusern geschlossen.103 Dieringers Einsatz und Unterstützung des klösterlichen Lebens wird von Geissel anerkannt und unterstützt mit der Ernennung zum erzbischöflichen Kommissar für die Frauenklöster im im Bonner Umland.104

1849 richtet sich Dieringer in einem „Offenen Sendschreiben über die kirchlichen Zustände der Gegenwart an Professor Hirscher“105, seinen ehemaligen Lehrer in Tübingen. In der relativ kurz gehaltenen Schrift wendet sich Dieringer gegen die Überlegungen Hirschers zur Beibehaltung eines engen Staatskirchverhältnisses in Baden und die Durchführung einer demokratisch-repräsentativ zusammengesetzten Diözesansynode unter Beteiligung von Laien im Erzbistum Freiburg.106 Aus eigener Erfahrung kann Dieringer hier Position zum Staatskirchenverhältnis in Baden beziehen, hatten ihm doch staatliche Stellen das Verbleiben in Freiburg vereitelt. Zudem hatte er sich bereits in seiner Dogmatik und auch in der Borromäus-Biographie zur Zusammensetzung und zu den Aufgaben von Diözesan-Synoden geäußert.107

Nur wenige Jahre später, 1852, verfasst Dieringer erneut eine kurze Schrift die „Dogmatischen Erörterungen mit einem Güntherianer“.108 Dies unterscheidet sich jedoch in mehrfacher Hinsicht vom erwähnten Sendschreiben. Die dogmatischen Erörterungen sind selbst eine Replik auf die „Katholische Dogmatik“ von X. Schmid109, in der Dieringer sich selbst und seine Dogmatik angegriffen fühlt.110 Dieringer greift gleichsam den Federhandschuh auf, den ihm die Güntherianer in Schmidts Werk hingeworfen haben.111 So ist denn auch der Ton nicht von derselben Wertschätzung und Achtung wie bei der Auseinandersetzung mit Hirscher, dem Lehrer Dieringers, geprägt. Es geht aber auch um grundsätzlichere Fragen der Theologie als Offenbarungsreligion und damit um Dieringers theologische Werk überhaupt und nicht nur um die Frage der rechten Gestaltung einer Diözesansynode. Es mag daher sein, dass Dieringer hier aus grundsätzlichen Erwägungen deutliche Worte findet, aber auch weil er in den Theorien Günthers die alten Ideen Hermes’ wiedererkennt.112 Dieringer selbst schreibt, dass er seine Erörterung formuliert habe, „theils um meiner Ehre, noch mehr um der katholischen Wahrheit willen.“113 Auch in dieser theologischen Frage kann er sich der Unterstützung seines Erzbischofs sicher sein, der wenige Jahre später (1857) gemeinsam mit dem Kurienkardinal Reisach erwirkt, dass Günthers Lehre durch Papst Pius IX. verurteilt wird.114 Dieringer steht während der gesamten Amtszeit Geissels als Erzbischof von Köln als theologischer Berater in höchstem Ansehen.115 1853 ernennt er ihn zum (nicht-residierenden) Domkapitular des Kölner Metropolitankapitels und verleiht ihm zugleich als erstem Geistlichen in der Erzdiözese den „Titel eines Geistlichen Rathes“.116117persona minus grata118119