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Herbert Hartl

Christliche Weisheit und neues Mensch-Sein

Studien zur systematischen und
spirituellen Theologie

50

Herausgegeben von
Gisbert Greshake, Medard Kehl
und Werner Löser

Herbert Hartl

Christliche Weisheit
und neues Mensch-Sein

Leben und Werk des Kleinen Bruders
Heinz R. Schmitz
Auf den Spuren Charles de Foucaulds
und Jaques Maritains

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Danksagung

Diese Studie ist eine leicht überarbeitete Version einer Dissertation, die am 18. Januar 2013 im Rahmen eines Rigorosums an der theologischen Fakultät der Universität Wien vorgestellt wurde.

Mein Dank gilt allen, die mir zu dieser Arbeit ihre Hilfe zuteilwerden ließen:

Als Erste möchte ich Herrn Ao. Univ.-Prof. Dr. Michael Ernst-Schattauer und seine Frau Susanne nennen, die mich zu dieser Arbeit ermutigt haben und sie mit kritischen Anmerkungen begleiteten.

Mein Dank geht an Univ.-Prof. Dr. Marianne Schlosser, die mir das Doktoratsstudium am Institut für Spiritualität der Katholischen Fakultät in Wien ermöglichte, an PD Dr. habil. Karl-Heinz Steinmetz, der diese Arbeit sorgfältig begleitet und kritisch betreut hat, sowie an Univ.-Prof. Dr. Thomas Prügl, bei dem ich das Zweitfach in Kirchengeschichte belegen konnte.

Danke an die Leiter der theologischen Studienreihe des Echter-Verlages, besonders an Herrn Univ.-Prof. Gisbert Greshake em.

Dank allen Verwandten von Heinz Schmitz mit ihren Familien für die biografischen Auskünfte und die Gastfreundschaft!

Danke an die Brüder vom Orden der Kleinen Brüder Jesu: an Michel Nurdin, der der mir kostbare Hinweise zur Geschichte der Fraternität gab; an Maurice Maurin, Alain Raillard, Jean-Marie Allion, Pierre Avril, Hubert Brüggen, Jan Wellekens u. a., die viele Einzelheiten zu berichten wussten sowie an Stan Zakelj, der mir das Archiv der Petits Frères de Jésus in Brüssel zugänglich machte.

Ein ganz besonderer Dank gilt Monsieur René Mougel, dem Herausgeber der Cahiers Jacques Maritain, der mir in Kolbsheim Gastfreundschaft gewährte und der mich durch lange philosophische und theologische Dialoge angeregt und bereichert hat.

Köszönöm szépen! an Frau Mária Dabóci und Sr. Ágnes Timár für die wertvollen Informationen aus der Zeit, in der die Orden in Ungarn nur im Geheimen überlebten.

Danke an Frau Lioba Zenkert, welche die Arbeit inhaltlich begleitete und an den Schriftsteller Herrn Norbert Arzberger, der sie für die Buchausgabe Korrektur las.

Danke an meine Schwester Elke Pfennich für die vielfache Unterstützung und an Roland Pfennich für seine Hilfe in technischen Fragen! Dank auch an die ArbeitskollegInnen, die mich ermutigt haben weiterzumachen, wenn es einen Stillstand gab.

Dieses Werk widme ich meiner betagten Mutter und meinem verstorbenen Vater, die mich mit ihrem Gebet begleitet haben.

Herbert Hartl, im März 2013

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

EINFÜHRUNG

Die christliche Weisheit – ein Zukunftsprojekt

Erstes Kapitel: Wege zur Neuentdeckung christlicher Weisheit

Zweites Kapitel: Eine neue Phase der Seinsphilosophie

Drittes Kapitel: Konzept und Veröffentlichung

ERSTER TEIL

Der Lebensgang

Erstes Kapitel: Kindheit und Jugend

I. Christlicher Glaube als Fundament in schwerer Zeit

II. Auf der Suche nach einer Armut, die Leben ist

Zweites Kapitel: In der Nachfolge des Jesus von Nazareth

I. Auf den Spuren Foucaulds bei den Kleinen Brüdern Jesu

II. Einstand in der Welt der Bau und Landarbeiter

III. Aus der Stille in die Großstadt

Drittes Kapitel: Die Faszination der Metaphysik und der Theologie

I. Entdeckungen und Begegnungen

II. Die Ewigen Gelübde

III. Überraschungen

IV. Erste Veröffentlichungen

Viertes Kapitel: Eine große Aufgabe – die theologische Ausbildung der Brüder

I. Ein Beginn mit Grenzerfahrungen

II. Ein schmerzlicher Verlust

III. Freundschaften in Ungarn

IV. Der Schüler als Meister

V. Ein ereignisreiches Jahr

VI. Wahl ins Beratungsgremium des Priors

Fünftes Kapitel: Erfüllte Jahre

I. Eine letzte Reise

II. Das Kreuz am Weg

III. Neue Horizonte

IV. Veränderungen

V. Große Vorhaben

VI. Rücktritt aus allen Funktionen

Sechstes Kapitel: Bis zur letzten Hingabe

I. Im Dienst an der Wahrheit

II. Das Unbedeutendste hat einen Namen

III. Wichtige Reisen und Verhandlungen

IV. Letzte Begegnungen

V. Gekreuzigte Weisheit

Zusammenfassung

ZWEITER TEIL

Der neue Mensch im Zentrum der christlichen Botschaft

Einführung

Erstes Kapitel: Die biblische Offenbarung und der neue Mensch

I. Der neue Himmel und die neue Erde

II. Christus hat alle Neuheit gebracht

1. Ohne Gott – nichts Neues unter der Sonne (Koh 1, 9)

2. Christus hat »alle Neuheit gebracht, indem er sich selbst brachte«

3. Warum Gott in Jesus Mensch geworden ist

4. Der Mensch als Ebenbild Gottes

III. »Wer nicht von oben geboren ist, kann das Reich Gottes nicht schauen« (Joh 3, 3)

1. Die Geburt aus Wasser und Geist

2. Zur Krise des Glaubens und der Vernunft

Zweites Kapitel: Die Gnade als Vorgabe künftiger Herrlichkeit

I. Befreiung und Gotteskindschaft als Früchte der Erlösung

II. Der Weg zu einer Synthese

III. Die Gnade und ihre Wirkung im Menschen

IV. Das Wesen der Gnade

V. Der vergöttlichte Mensch

Drittes Kapitel: Von der mystischen Weisheit

Einführung

I. Das Konzept Weisheit

II. Die Natur der mystischen Erfahrung

1. Erste Erkenntnisse über mystische Gegebenheiten

2. Theologische Deutung der mystischen Erfahrung

3. Erklärende Prinzipien

Über die von Gott geschenkte Tugend des Glaubens

Über die sieben Gaben des Heiligen Geistes

III. Die Erhabenheit der mystischen Weisheit

1. Die Natur der Gaben des Heiligen Geistes

2. Mystisches Leben und mystische Kontemplation

3. Über die Natur der Gaben der Einsicht, der Wissenschaft und der Weisheit

IV. Johannes vom Kreuz und die Lehre der Umwandlung der Seele in Gott

Statt einer Zusammenfassung: Auskunft zur Sprache der Mystik

I. Über das Unsagbare der mystischen Erfahrung

II. Über die Natur der mystischen Sprache

DRITTER TEIL

Der neue Mensch – seine Zukunft in den Ideen deutscher Denker

Einführung

Erstes Kapitel: Martin Luther am Ursprung der modernen Denkweise

Einleitung

I. Eine Erfahrung am Ursprung lutherischen Denkens

1. Luthers neue Sicht des Menschen

2. Luthers spirituelle Erfahrung

3. Ein dramatisches Ringen

II. Ein Konflikt zwischen Vernunft und Glaube?

1. Der springende Punkt des Konflikts

2. Der Glaube bei Martin Luther

III. Anmerkungen zum dialektischen Denken Luthers

1. Eine neue Logik

2. Fürst und Untertan

3. Gott und Mensch

IV. Nachhaltige Folgen dieser neuen Denkform

1. Auswirkungen auf das moderne Denken

2. Die verlorene Weisheit

Zusammenfassung

Zweites Kapitel: Jakob Böhme und die neue Menschwerdung

Einleitung

I. Konturen eines Lebens

1. Der »Philosophus teutonicus«

2. Prägende Ereignisse

II. Die Morgenröte der wahren Philosophie

1. Die Sehnsucht nach Heil bei Jakob Böhme und bei Albertus Magnus

2. Zwei unvereinbare Entwürfe einer Weltsicht

3. Der Wandel der Weltsicht und das, was bleibt

III. Über die Natur der Erfahrung Böhmes

1. Wie Böhme seine Erfahrung beschreibt und deutet

Ein Erinnerungsbuch

Eine dialektische Doppelbewegung

Eine Schau des Ungrunds

Eine philosophische Annäherung

Über das Gemüt

Wie Böhme den Menschen als Ebenbild Gottes sieht

Über den Gegenwurf

Über die Einheit der Gegensätze

2. Das Ziel ist es, ein Engel zu werden

3. Die Erfahrung des eigenen Seins oder die große Petarde

IV. Eine neue Menschwerdung

1. Die Angst und die Geburt des neuen Menschen

Die Angst und das Gesetz der Rückkehr

Der Status der Seele vor der Schöpfung

2. Böhme im Widerspruch zur Theologie der Schöpfung

Existieren die Dinge vor ihrer Erschaffung in Gott?

Hat das geschaffene Seinen einen Eigenwert?

Hat die Schöpfung, vornehmlich der Mensch, ein Endziel?

3. Von der Angst zur Freude

Von der erlösenden Angst

Von Blitz, Blick und Schrack

4. Über die Böhmesche »Ontologie«

Der Gang der Wiedergeburt

Über das Endziel der Böhmeschen Praxis

Zusammenfassung

Drittes Kapitel: Dialektik und Revolution

Einleitung

II. Die dialogische Dialektik bei Aristoteles

III. Die bewusstseinsverändernde Dialektik der Moderne

1. Eine neue forma mentis bei Martin Luther

2. Die gelebte Dialektik bei Jakob Böhme

3. Die Dialektik im Denken G. W. F. Hegels

Eine spirituelle Erfahrung als Ausgangspunkt

Skizze der Hegelschen Dialektik

4. Die Dialektik bei Karl Marx

Die umgestülpte Dialektik

Der neue Mensch in einer neuen Gesellschaft

5. Die Dialektik bei Martin Heidegger

Zusammenfassung

Viertes Kapitel: Martin Heidegger und die Frage nach dem Sinn des Seins

Einleitung

I. Heideggers geistige Quellen

1. Die heimatliche Welt Heideggers

2. Denkwege zum Sein

II. Von der Warum-Frage zum Dasein

1. Was ist Metaphysik?

Heideggers Erfahrungsansatz

Über die Warum-Frage

Ist die Warum-Frage eine philosophische Frage?

2. Vom Dasein zum Sein

Was bedeutet für Heidegger das Dasein?

Über die möglichen Weisen des Daseins

3. Die Angst und das Nichts

Über die Angst

Über das Nichts

III. Von der Ankunft im Sein – ein Versuch der Deutung

1. Die Natur der Heideggerschen Erfahrung

Über die Erfahrung des Selbst

Ein Weg in Etappen

2. Heideggers dichtend-denkende Erfahrung

Poesie, Sprache und Wort in der Seinsphilosophie

Die Kommunikation zwischen poetischer und mystischer Erfahrung

Über Heideggers Problematik

IV. Ein kritischer Blick auf Heideggers Vorhaben

1. Über die kritische Funktion im Erkenntnisakt

2. Das Sein als Gegenwärtigkeit

3. Die Hilfe der Poesie

4. Theologie und Mystik

Worin besteht für Heidegger das Heil?

Das Dasein als Möglichkeit, zur Erfahrung des Selbst zu gelangen

5. Über das Denken

Eine andere Auffassung von Denken

Das Heideggersche Denken aus der Sicht der thomanischen Erkenntnislehre

Intellekt und Sein – eine wechselseitige Relation

Auf der Suche nach dem Absoluten

V. Über das Heilige im Werk Heideggers
Einleitung

1. Das namenlose Sein Heideggers

Über die Sprache Heideggers

Das Sein und das Seyn

Die Parusie des Heideggerschen Seins

2. Die Gottesfrage

3. Die Enthüllung der Wahrheit des Seins unter der Form des Heiligen

VI. Alles ist Weg – ist alles Weg?

Zusammenfassung

Fünftes Kapitel: Ernst Bloch: Atheismus im Christentum

Einleitung

I. Einige Lebensdaten Ernst Blochs

II. Über Blochs Verständnis der Bibel

Zusammenfassung

SCHLUSSGEDANKEN

Die christliche Weisheit – ein Auftrag

Einführung

Erstes Kapitel: Über die drei Weisheiten

Zweites Kapitel: Gelebter Glaube und Philosophie

Drittes Kapitel: Als die Philosophie mündig wurde

Viertes Kapitel: Ein neuer, lebendiger Weg

Ausblick

VERZEICHNISSE

Abbildungen

Abkürzungen

I. Abkürzungen der Werke Böhmes nach H. R. Schmitz

II. Abkürzungen der Werke Heideggers nach H. R. Schmitz

III. Eigene Abkürzungen

Adressen

Literaturverzeichnis

I. Primärliteratur

II. Sekundärliteratur

Personenverzeichnis

Vorwort

Heinz R. Schmitz1 ist ein Philosoph und Theologe, der außer einigen Fachleuten nur wenigen Personen bekannt ist. Diese Studie ist ein Versuch, sein Oeuvre, das er zur Gänze in Französisch verfasste, in seine Muttersprache heimzuholen. Ihm selbst war dies nicht gegönnt, da er früh mitten aus dem Schaffen gerissen wurde. Zudem gibt es für seine Unbekanntheit noch andere Ursachen, die sich aus der profunden Kenntnis seiner Biografie und aus der besonderen Qualität seines Werkes wie folgt erschließen lassen.

Heinz Schmitz tritt nämlich als junger Mann in einen damals neuen katholischen Orden ein, der auf Charles de Foucauld zurückgeht und seine kontemplative Berufung nicht in einem klösterlichen Rahmen, sondern in einem Milieu lebt, welches Jesus für sich in Nazareth erwählt hat. So steht Heinz R. Schmitz im Arbeitsalltag der kleinen Leute und sucht ihnen ein Freund zu sein, ohne jede Predigt- oder Lehrtätigkeit, bis sein intellektuelles Talent während der ordensinternen theologischen Ausbildung zutage kommt, sodass die Leitung des Ordens ihn mit der theologischen Ausbildung seiner Mitglieder beauftragt. Aus dieser Aufgabe und aus der Begegnung mit Jacques Maritain erwächst sein philosophisches und theologisches Werk, das er als einen Dienst an seinen Brüdern und Mitchristen versteht.

Vor allem aber sind es die Themen selbst, die vom Leser ein hohes Maß an Geduld und Konzentration abverlangen. Es sind nicht Themen der Tagesaktualität, sie handeln vielmehr von der Weisheit der Metaphysik, der Theologie und der Mystik und von Problemen des Mensch-Seins, die nicht oberflächlich und rasch zu lösen sind; auch lassen sie keinen unmittelbaren Nutzen – etwa für ein pastorales Engagement – erkennen.

Das Werk, das Heinz R. Schmitz als sein Vermächtnis hinterlässt, entspringt den Quellen seines katholischen Glaubens und lebt aus der Frische einer ihm vertrauten thomanischen Tradition. Diese ist seine Denkbasis, von der aus er das Wagnis eingeht, die Denkart und das philosophische Weltbild einiger bedeutender deutscher Denker darzustellen, kritisch zu hinterfragen und in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, wie immens der Einfluss derselben auf die Spiritualität im Allgemeinen und auf die christliche Theologie im Besonderen bis heute ist.

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1 S. Abbildung 1 auf Seite 365.

EINFÜHRUNG

Die christliche Weisheit – ein Zukunftsprojekt

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Erstes Kapitel

Aufbrüche zur Neuentdeckung christlicher Weisheit

Die Geschichte des Heinz R. Schmitz hat eine Vorgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich mit dem Lebenszeugnis von Menschen beginnt, das neue Wege für ein Leben nach dem Evangelium aufzeigte. Da lebte ein Mann, Charles de Foucauld, der sein Herz an Jesus von Nazareth verlor und wie dieser in Armut und in Solidarität mit den Armen leben wollte; da drängt sich das Zeugnis der Thérèse Martin auf, einer jungen Karmelitin, die einen Weg kindlicher Hingabe an Gott lehrte und inmitten von Anfechtungen aller Art einen Weg unbedingten Vertrauens zu Gott lebte. Diese und andere stehen so am Ursprung eines geistigen Klimawandels, in dem ein Philosoph wie Jacques Maritain zum Initiator einer spirituellen Bewegung heranreifte, deren erklärtes Ziel es war, der christlichen Weisheit in der modernen Welt ein neues Gepräge zu geben.

In diesem geistigen Klima, das sich über die beiden Weltkriege hinaus fortsetzte, ja frische Impulse erhielt, entstanden auch neue Ordensgemeinschaften, wie die Fraternität der Kleinen Brüder Jesu (PFJ – Institutum Parvulorum Fratrum Jesu), deren Spiritualität und Lebensform sich, wie schon im Vorwort gesagt, von Charles de Foucauld herleitet, die aber auch offen für andere spirituelle Impulse ist, wie zum Beispiel für jene einer Thérèse Martin oder eines Johannes vom Kreuz. Jacques Maritain, seine Frau Raïssa und Vera, deren Schwester, suchten ihrerseits einen kontemplativen Weg, der ihnen mitten in ihrem Leben als Laien die Nähe Gottes erfahrbar macht und sie befähigt, glaubwürdige Zeugen des Evangeliums zu sein. Wie nun kam es zur Begegnung des achtzigjährigen französischen Denkers mit einem jungen, in philosophisch-theologischen Fragen noch kaum vertrauten Deutschen? Das geschah, weil Jaques Maritain nach dem Tod von Vera und Raïssa ab dem Jahr 1961 als Gast in der Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu in Toulouse lebte, wo sich auch Heinz Schmitz einfand, der im Rahmen der Ausbildung der Kleinen Brüder Jesu dort sein theologisches Studium absolvierte. Um die Bedeutung dieser Begegnung besser verstehen zu können, ist es an dieser Stelle angebracht, auf einige Episoden aus dem Leben der »Drei Maritain« (= Les Trois Maritain), wie man sie nannte, hinzuweisen.2

Jacques und Raïssa entstammen ganz unterschiedlichen religiösen und sozialen Verhältnissen: Während Jacques der Sohn einer alteingesessenen, großbürgerlichen und protestantisch-liberalen Pariser Familie ist, kommt Raïssa, geborene Oumançoff, aus einer jüdischen Familie aus der Ukraine. Wegen der in Russland herrschenden judenfeindlichen Atmosphäre sah sich ihr Vater, der eine Schneiderwerkstatt leitete, veranlasst, mit der Familie nach Paris zu emigrieren. Raïssa war zehn, ihre Schwester Vera sieben Jahre alt, als sie 1893 in Paris ankamen. Jahre später – im Wintersemester des Jahres 1900 – lernten sich Jacques und Raïssa an der Pariser Sorbonne kennen. Sehr bald begannen sie, miteinander nach dem Wesen der Dinge und dem Sinn ihres Lebens zu suchen. Es war an einem Nachmittag im Sommer des Jahres 1901, als sie sich bei einem Spaziergang im Jardin des Plantes, am linken Ufer der Seine, ihre seelische Not gestanden. Erfüllt von brennender Sehnsucht nach Wahrheit, wurde diese Sehnsucht von den vom Positivismus und Skeptizismus geprägten universitären Vorlesungen nicht einmal im Ansatz gestillt. Das Messbare und Sichtbare zu erforschen, wie es in den Naturwissenschaften geschieht, das konnte nicht alles sein; einzig die Vorlesungen Henri Bergsons beeindruckten sie. In einem autobiografischen Bericht Raïssas heißt es, sie seien nicht bereit gewesen, ein sinnloses Leben zu akzeptieren und sich damit abzufinden, nur einen Pseudo-Intellekt zu besitzen, »fähig zu allem außer zur Wahrheit […]«.3 An diesem Nachmittag im Jardin des Plantes beschlossen sie, noch zuzuwarten. Sollte es sich als unmöglich erweisen, »nach der Wahrheit zu leben, so wollten wir freiwillig ‚nein’ zum Leben sagen und sterben«.4 Drei Jahre danach heirateten sie. Als die Versuchung des Atheismus besonders Raïssa bedrängte5, kam es zu diversen Begegnungen mit dem Dichterpropheten Léon Bloy, dessen Persönlichkeit und dessen Schriften auf Raïssa, auf ihre Schwester Vera sowie auf den protestantischen Freigeist Jacques einen solchen Einfluss ausübten, dass sie sich zum katholischen Glauben bekehrten. Am 11. Juni 1906 wurden alle drei in der Kirche Saint-Jean l’Évangéliste in Montmartre getauft. Damit begann für sie ein neues Leben. Raïssa war die Erste, die Thomas von Aquin las und die auch Jacques für Thomas zu begeistern vermochte. Im Jahr 1912 legten beide ein privates Gelübde der Keuschheit ab, um freier zu sein für ihren Weg des Glaubens, der von Anfang an ein Weg des persönlichen Umgangs mit Gott war.6 Ab 1914 war Jacques als Professor für moderne Philosophiegeschichte am Institut Catholique in Paris tätig. Oft waren es äußere Umstände, welche die Themen für sein philosophisches Arbeiten vorgaben. Auch wenn es aus diesem Grund zu unterschiedlichen Gewichtungen in seiner philosophischen Arbeit kam, waren doch alle Grundintuitionen keimhaft schon von Anfang an präsent: Sei es die Kontemplation auf den Wegen inmitten der Wirrnisse der Zeit, sei es die Nähe zur Kunst oder sei es die Metaphysik. Ausgehend von der Intuition des Seins hat Jacques Maritain die Metaphysik entfaltet und ihr als höchster Weisheit, die dem menschlichen Verstand aus eigener Kraft zugänglich ist, eine eigenständige Rolle zugestanden. Raïssa arbeitete eng in allen diesen Fragen mit ihm zusammen, las alles, was ihr Gatte schrieb und sprach mit ihm darüber; Vera sorgte für den Haushalt und die praktischen Dinge ihres Lebens.

Die Werke Maritains berühren alle Gebiete der Philosophie, den größten Einfluss übte das Buch Humanisme intégral aus, das einen Entwurf für eine neue Christenheit und einen neuen christlichen Humanismus darstellt. Die Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen brachten Jacques Maritain aber auch eine heftige Gegnerschaft ein, die zu Verleumdungen im Vatikan führten, besonders als er im Spanischen Bürgerkrieg die durch die Truppen des Generals Franco verübten Massaker verurteilte und sich dagegen verwehrte, den Feldzug des Caudillo als einen christlichen Kreuzzug zu bezeichnen.7 Raïssa Maritain war zudem Opfer wiederholter antijüdischer Hetztiraden. Wie kaum ein anderer Philosoph hat Jacques Maritain den Antijudaismus entschieden bekämpft und schon am 5. Februar 1938 in einer berühmt gewordenen Rede im Théâtre des Ambassadeurs in Paris auf die Nazigräuel in den damals bekannten Konzentrationslagern hingewiesen.8 Ab dem 3. September 1939 war Frankreich im Krieg mit Nazi-Deutschland. Da Jacques Maritain seine in Kanada und in den USA geplanten Vorlesungen als Gastprofessor trotzdem zu halten beabsichtigte und Raïssa und Vera nicht allein zurückbleiben wollten, schifften sie sich im Jänner 1940 nach New York ein. Bald nach der Kapitulation Frankreichs im Mai 1940 wurde ihr Haus in Meudon, im Süden von Paris, von der Gestapo heimgesucht. So waren sie gezwungen, bis zum Ende des Krieges im Exil zu bleiben. Charles de Gaulle war es dann, der Jacques Maritain im Jahr 1945 aus dem New Yorker Exil zurückrief und ihn zum Botschafter Frankreichs im Vatikan ernannte. In dieser Zeit als Botschafter lernte Maritain den späteren Papst Paul VI., Giovanni Battista Montini, der damals im Staatssekretariat des Vatikans arbeitete, persönlich kennen und schätzen. Als Botschafter wurde Maritain mit dem ganzen Ausmaß der Gräuel des Holocaust konfrontiert. Er versuchte nun, Papst Pius XII. zu einer Verurteilung dieser Gräuel zu bewegen; als er damit keinen Erfolg hatte, verfiel er in eine tiefe innere Krise.9 Mehrere Tage war er von der Bildfläche verschwunden. Als er wieder auftauchte, hatte er sich seine Not mit einem ergreifenden Text von der Seele geschrieben. Er versah ihn mit dem Titel: »Bienheureux les persécutés … (= Selig, die Verfolgung leiden).«10 Maritain wirkte durch einen Brief auch auf die im Jahr 1947 stattfindende ökumenische Konferenz vom Seelisberg in der Schweiz ein, die jegliche Form von Antijudaismus scharf verurteilte.11 Auch auf die Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 hatte er einen großen Einfluss. Als er am 6. November 1947 als Leiter der französischen Delegation der 2. Konferenz der UNESCO in Mexico vorstand, hinterließ seine Eingangsrede einen tiefen Eindruck. So nimmt es nicht wunder, dass schließlich von den 26 Propositionen, die er schon im Jahr 1942 vorgeschlagen hatte, 22 in der Erklärung der Menschenrechte Eingang fanden.12

Nach 1945 erlangte Jean-Paul Sartres Existenzialismus in Frankreich eine Art Kultstatus, aber auch katholische Philosophen und Theologen – unter ihnen Jacques und Raïssa Maritain – waren nicht untätig. Vierzehn von ihnen verfassten im Juli 1949 in Kolbsheim/Elsass ein Manifest, das ein Grundsatzprogramm enthält, mit dem sie dem Verlust der Weisheit im Denken der westlichen Zivilisation entgegensteuern wollten. Die Aufgaben der einen christlichen Weisheit in ihrer dreifachen Ausprägung als metaphysischer, theologischer und mystischer Weisheit, die das Christentum bis zum Beginn der Neuzeit durchwirkt hat, werden darin neu formuliert und dargestellt.13 Außer mit Raïssa Maritain wird Heinz Schmitz mit allen, die dieses Manifest unterzeichneten, einen persönlichen Kontakt haben, wobei die Begegnung mit Jacques Maritain eine der profundesten ist, wie diese Studie noch zeigen wird.

Zweites Kapitel

Eine neue Phase der Seinsphilosophie

Die letzten Lebensjahre Maritains werden in den biografischen Darstellungen wenig gewürdigt. Ein bislang nicht bekanntes Ereignis, das im Juli 1971 stattfand, soll hier vorweg erzählt werden. Zu dieser Zeit, da er bereits als Novize dem Orden der Kleinen Brüder Jesu angehörte, befand er sich mit Heinz Schmitz bei seinen Patenkindern, der Familie Grunelius, in Kolbsheim im Elsass. Er hatte vor, alle Dokumente und Schriften, die hier nach der Beschlagnahme des Hauses in Meudon durch die Gestapo gelagert worden waren, bibliothekarisch zu ordnen. Heinz Schmitz und drei junge Männer, Studenten der Philosophie an der Sorbonne namens René Mougel, Bernard Faucon und Jean Attali14, unterstützten ihm dabei.

Am Dienstag, dem 13. Juli, kommt es nach dem gemeinsamen Abendessen zu einer lebhaften Diskussion über die Bezeichnung christliche Philosophie. Es soll dafür ein anderer Terminus gefunden werden, da dieser Begriff von vielen Zeitgenossen als christliche Propaganda empfunden wird, doch letztlich geht es um sehr viel mehr. Der greise, aber geistig äußerst wache Philosoph drückt den jungen Männern ein DINA-4 Blatt in die Hand mit von ihm handschriftlich gemachten Notizen. Tags darauf übergibt er ihnen ein zweites, ebenfalls handschriftlich verfasstes Blatt, auf dem er die Hauptpunkte der Diskussion noch einmal zusammenfasst15:

Sein elementares Anliegen ist es, in einer Zeit, in welcher gar nicht wenige Philosophen den Tod Gottes und den Tod des Menschen verkünden (= prêchent), eine neue philosophische Schule zu gründen. Dies legt er Heinz Schmitz und den drei Studenten ans Herz, sie seien für diese Aufgabe berufen. Wie aber könnte der Name dieser Philosophie lauten? Zur Debatte stehen mehrere Begriffe. Maritain favorisiert anfangs den Begriff théo-philosophie und entscheidet sich aber letztendlich – wohl beeinflusst von Heinz Schmitz – für das deutsche Wort Seinsphilosophie. Im zweiten Blatt weist er zunächst auf den scheinbaren Widerspruch hin, der darin besteht, dass die Seinsphilosophie auf Aristoteles zurückgeht und dass nun eine neue Schule der Seinsphilosophie gegründet werden soll. Maritain hebt den Widerspruch dadurch auf, dass er in der Seinsphilosophie zwei Phasen unterscheidet: In der Initialphase, bei Aristoteles, war sie reine Philosophie (= philosophie pure), ohne ausdrückliche Bezugnahme auf religiöse Vorstellungen. Denker wie Thomas von Aquin oder Joannes a Sancto Thoma16 haben die Philosophie als Ancilla Theologiae verstanden, wobei das Magdsein ihr zur höchsten Ehre gereichte. Heute aber sei es an der Zeit zu erkennen, dass die Seinsphilosophie sich in einer zweiten Phase befindet, in der sie in der Conditio humana einer von der Sünde verwundeten, jedoch erlösten menschlichen Natur mehr denn je Philosophie ist, nur dass sie jetzt nicht mehr Magd der Theologie, sondern eine autonome Wissenschaft ist. Nun kann sie als Freie von der Weisheit der Theologie oder von der Weisheit der Heiligen ein höheres Licht empfangen. Dies sei, so Maritain, weder von Philosophen noch von Theologen bislang erörtert und bedacht worden.

Heinz R. Schmitz selbst erwähnt dieses Geschehnis niemals; umso diskreter aber hat er diesen Auftrag wie ein Vermächtnis angenommen und es zum Horizont seines Schaffens gemacht. Die christliche Weisheit in ihrer unterschiedlichen Gestalt auf den Scheffel zu stellen und ihr ihre Leuchtkraft wiederzugeben, das ist es, was er herausstellen will und was sein intellektuelles Werk auszeichnet.

Drittes Kapitel

Konzept und Veröffentlichung

Schon als Handwerker und Arbeiter hatte Heinz Schmitz eine besondere Liebe für Ordnung gezeigt. Wenn nun am Ende eines von intellektuellem Schaffen ausgefüllten Tages der Fußboden seines Zimmers in Toulouse mit Notizblättern oder Büchern bedeckt war, dann fand er abends doch noch die Zeit, alles wieder zu ordnen, bis hin zum gespitzten Bleistift auf dem Schreibtisch, bereit zur nächsten Arbeit.

War ein Artikel fertig, ließ er ihn immer gegenlesen. Wenn Kritik erfolgte, suchte er den Dialog und veränderte zuweilen die eine oder andere Textpassage. Zur Veröffentlichung kamen seine Arbeiten vornehmlich in zwei theologischen Fachzeitschriften, in der Revue Thomiste, die 1893 von französischen Dominikanern gegründet worden war, und in der von Charles Journet 1926 ins Leben gerufenen Revue Nova et Vetera. Zwei seiner Untersuchungen wurden in den von ihm zusammen mit Henry Bars gegründeten Cahiers Jacques Maritain veröffentlicht und zwei weitere erschienen als Vorwort zu Approches sans entraves17 bzw. in einem Sammelwerk über ein Böhme-Kolloquium.18

Der Plan, über Martin Heidegger ein Buch zu veröffentlichen, ging zu seinen Lebzeiten nicht mehr auf. Eine seiner Abhandlungen – Progrès social et changement révolutionnaire – kam indes als Buch bald nach seinem Tod heraus.19 Die Anregung, die Studien über deutsche Philosophen ebenfalls posthum in Buchform herauszugeben, kam von Yves Floucat20, einem ehemaligen Studenten des von Heinz Schmitz in Toulouse ins Leben gerufenen philosophischen Zentrums. Sie wurde aber von Frère Maurice Hany21 mit dem Argument abgelehnt, er habe im Nachlass von Heinz Schmitz nichts gefunden, was auf ein solches Projekt schließen lasse. Im selben Brief erwähnt Hany jedoch einen Artikel, den Schmitz noch zu Lebzeiten verfasst hatte und der posthum, im Jahr 1985, in Nova et Vetera unter dem Titel Pour une humanité nouvelle22 erschienen war. Diese Arbeit sei von anderer Art »als die Studien über Heidegger und Böhme. Es ist ein Text, den er [Heinz] für die Brüder verfasste, in der Absicht, ihnen von seiner Arbeit etwas mitzuteilen: Er war die Vorlage für ein Referat, das er uns in Toulouse gehalten hat.«23 Zudem sei er, Frère Maurice, der Meinung, die philosophischen Essays seien ebenfalls zu publizieren, denn ohne sie blieben die Arbeiten über die deutsche Philosophie schwer verständlich. Georges Cottier24, der als leitender Redakteur von Nova et Vetera die Arbeit Pour une humanité nouvelle veröffentlichte, bezeichnete sie in der Einführung als einen grand texte25.

Das Gesamtwerk des H. R. Schmitz umfasst circa 1300 Seiten. Die Belegstellen aus deutschsprachigen Werken zitiert er zumeist in französischer Übersetzung, die er aber in vielen Fällen noch überarbeitet. In der vorliegenden Arbeit wird auf die deutschen Originalzitate in den entsprechenden Werken zurückgegriffen.

Der Aufbau der Studie stellt sich wie folgt dar: Das in der Einführung angesprochene Thema der einen christlichen Weisheit in seinen drei Gestalten wird nach einem Streifzug durch die Tiefen christlichen Glaubens und nach einer Wanderung durch die Holzwege philosophischen Denkens in den Schlussgedanken wieder aufgenommen: Es ist der in Christus erneuerte Mensch, der als ein christlicher Weiser den Boden für den Samen des Reiches Gottes zu bereiten hat. Die Einführung und die Schlussgedanken bilden also den Rahmen, in dem sich das Hauptthema des neuen Mensch-Seins entfaltet. Das Hauptthema umfasst drei Teile und folgt in seinen Grundzügen dem Plan von Pour une humanité nouvelle mit Ausnahme des ersten Teiles, der Biografie; der zweite und zentrale Teil ist eine theologische Meditation über das dem Menschen von Gott geschenkte neue Mensch-Sein, das aus Wasser und Geist geboren in den Gaben des Heiligen Geistes, vor allem in jener der mystischen Weisheit, zum Erblühen kommt; im dritten Teil wird das katholische Menschenbild mit jener Idee des neuen Menschen konfrontiert, die sich in der Moderne im Geistesleben von Denkern und Philosophen im deutschen Kulturraum gebildet hat. In jedem dieser drei Teile spiegelt sich eine der drei Weisheiten wieder – die mystische Weisheit in der Biografie, die theologische im zentralen Teil und die metaphysische im Diskurs mit Persönlichkeiten der Moderne. Dem im Heiligen Geist erneuerten Menschen eröffnet sich ein Ausblick, getragen von der lebendigen Hoffnung, dass dieser Weg der Weisheit und der Gottesfreundschaft über Etappen- und Zwischenziele den Menschen sein endgültiges Ziel erreichen lässt.

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2 Als Biografien zu Jacques (1882 – 1973) und Raïssa (1883 – 1960) Maritain auf Französisch bieten sich an: Barré, Jean-Luc. Les Mendiants du Ciel, Paris 2009; Possenti, Nora. Les Trois Maritain, Paris 2006. Als DVD: Fischbach, Jean-Yves: Jacques Maritain, le philosophe amoureux. Ana Films 2007. Kurzbiografien auf Deutsch: Ritzler, Benedikt. Jacques Maritain, in: Berger, David und Vijgen, Jörgen (Hg.): Thomistenlexikon, Bonn 2006, Spalte 426 – 436. Ritzler, Benedikt. Glaube und Vernunft – Der Philosoph und Ordensmann Jacques Maritain, in: Erbe und Auftrag 2 (2008) 140 – 153.

3 Maritain, Jacques et Raïssa. Œuvres Complètes (= ŒC). Bd. XIV, Fribourg/Suisse 1993: Les grandes amitiés, 691. Das Gesamtwerk besteht aus Band I – XVII, Fribourg-Paris 1982 – 2007. Bei der ersten Erwähnung eines Werkes wird der jeweilige Band des Gesamtwerkes angeführt, ansonsten nur der Kurztitel. S. a. die deutsche Übersetzung von Les grandes amitiés: Maritain, Raïssa. Die großen Freundschaften. Heidelberg 1954, 72.

4 Die großen Freundschaften, 75. Vgl. Les grandes amitiés, 694.

5 Die großen Freundschaften, 73. Vgl. Les grandes amitiés, 692.

6 Vgl. Mougel, René: À propos du mariage des Maritain: Leur vœu de 1912 et leurs témoignages, Cahiers Jacques Maritain (= CJM) 22 (1991) 10.

7 Vgl. Tussell, Javier. J. Maritain et le personnalisme en Espagne, in: Jacques Maritain en Europe (Hg. Hubert, Bernard), Paris 1996, 186.

8 ŒC XII. Les Juifs parmi les nations, 481 – 524.

9 Dies bezeugt Abbé Charles Journet (1891 – 1975) in einer Vorlesung vor Kleinen Brüdern Jesu in Genf im Wintersemester 1972/73, bei welcher der Vf. zugegen war. Zwischen Journet und Maritain bestand eine lebenslange Freundschaft, wie eine im Herbst 1920 begonnene Korrespondenz aufzeigt. Paul VI. ernennt den bescheidenen Priester und Theologen im Februar 1965, im letzten Konzilsjahr, zum Kardinal, erlaubt ihm jedoch, weiterhin eine einfache Soutane zu tragen und als Abbé angesprochen zu werden. S. Boissard, Guy. Charles Journet – Biographie. Paris 2008. Ders.: Une grande amitié: Charles Journet – Jacques Maritain. Paris 2006.

10 Zuerst erschienen in: Ecclesia 12, Vatikanstadt (Dezember 1945) 588 – 591. S. ŒC IX 429 – 438.

11 S. ŒC XII. Lettre à la conférence du Seelisberg, adressée de Rome, le 28 juillet 1947, au Dr Pierre Visseur, 637 – 645.

12 ŒC IX. La voix de la paix, 143 – 164. S. a. Mougel, René: J. Maritain et la Déclaration universelle des droits de l’homme de 1948, in: CJM 37 (1998) 13 – 15.

13 ŒC IX. Sagesse, 1137 – 1151.

14 Jean Attali ist Professor an der École Nationale Supérieure d’Architecture Paris-Maiaquais, Bernard Faucon schlug eine erfolgreiche Laufbahn als künstlerischer Fotograf ein und René Mougel ist bis heute – im Jahr 2013 – Herausgeber der Cahiers Jacques Maritain und Sekretär des Cercle Jacques et Raïssa Maritain.

15 Die Originalfassung befindet sich im AKH, eine Kopie im AKBJW. Dank René Mougel kann dieser Text J. Maritains zum ersten Mal öffentlich bekannt gemacht werden.

16 Joannes a Sancto Thoma (1589 – 1644), geboren in Lissabon, Dominikaner, Philosoph und Theologe. Kurzbiografie und Würdigung in: ŒC VII, 1017 – 1027.

17 ŒC XIII, Approches sans entraves, 415 – 438.

18 Schmitz, H. R.: L'expérience mystique de Jacob Boehme et son projet philosophique, in: Centre de recherche sur l’histoire des idées de l’Université de Picardie (Hg): Jacob Boehme ou l'obscure lumière de la connaissance mystique. Paris (1979) 9 – 29.

19 Schmitz, H. R.: Progrès social et changement révolutionnaire, Dialectique et Révolution, in: RThom 3 (1974) 391 – 451. Der Buchtitel lautet: Progrès social et Révolution, Fribourg 1983. Für dieses Buch erhielt H. R. Schmitz von der Académie des Sciences morales et politiques am 4. Juni 1984 posthum den Preis Victor-Delbos. Die Urkunde befindet sich im ARPFJ in Brüssel. Delbos, Victor war Philosophiehistoriker und Lehrer Maritains an der Sorbonne, s. a.: ŒC XIV. Les grandes amitiés, 686.

20 Yves Floucat gab Vorlesungen für Philosophie am CIREP, dem von H. R. Schmitz gegründeten Institut, danach war er Maître de Conférences der Fakultät für Philosophie am Institut Catholique in Toulouse. Zu CIREP s. Seite 65 mit der Fußnote 3.

21 Hany, Maurice an Brazzola, Georges. Toulouse 23. 05. 1991. Zu Hany, Maurice s. Seite 63 mit der Fußnote 2.

22 Schmitz, H. R. Pour une humanité nouvelle, in: NV 1 (1985).

23 Brief Maurice Hany, 23. 05. 1991

24 Cottier, Georges OP, Professor für Philosophie in Genf und Fribourg. Von 1989 – 2003 Generalsekretär der Internationalen Theologischen Kommission, 2003 Bischofsweihe durch Kardinal Christoph Schönborn und Ernennung zum Kardinal durch Johannes Paul II.

25 Pour une humanité nouvelle, 1.

ERSTER TEIL

Der Lebensgang

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Erstes Kapitel

Kindheit und Jugend

I. Christlicher Glaube als Fundament in schwerer Zeit

Heinz Schmitz wurde am 19. Dezember 1936 in der Stadt Viersen am linken Niederrhein im Westen des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen geboren.26 Der Vater, Peter Schmitz, war zu diesem Zeitpunkt 33 Jahre alt, seine Mutter Berta, geborene Priesters, 28 Jahre. Beide waren nicht mehr die Jüngsten, als sie heirateten. Der Vater hatte eine Schlosserlehre gemacht und schon einige Jahre in seinem Beruf gearbeitet, als sich ihm im Jahr 1930 die Möglichkeit eröffnete, als Mitglied eines Sportvereins zusammen mit anderen in die USA zu gehen und in Detroit bei General Motors und Ford eine Anstellung zu bekommen. Die Verlobung mit Berta, die in der Heimat zurückblieb, fand noch vor seiner Abreise statt. Während der nächsten fünf Jahre waren beide brieflich in Verbindung. Als er 1935 nach Viersen zurückkehrte, fand die Hochzeit noch im September desselben Jahres in der katholischen Pfarrkirche St. Joseph statt. Da Peter Schmitz in seinem Beruf als Schlosser nach seiner Rückkehr keine freie Stelle fand, nahm er einen Posten in einer Weberei an. Erst nach einiger Zeit bekam er eine Stelle als Maschinist in einem Klärwerk.

Das Ehepaar Schmitz hatte nach Heinz noch vier andere Kinder: Peter kam noch vor dem Krieg zur Welt, Marlene und Alfred während des Krieges und Irmgard nach dem Krieg. Frau Berta war eine kundige Hausfrau, die sich in allen praktischen Dingen zu helfen wusste. Der katholische Glaube prägte den Alltag und wurde an die Kinder nicht zuletzt durch das Beispiel der Eltern weitergegeben. Die Familie hielt das gemeinsame Gebet hoch und lebte ihren Glauben in den Feiern des Kirchenjahres, insbesondere in der Advent- und Weihnachtszeit. Das friedliche Leben fand jedoch mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 ein jähes Ende. Der Vater wurde zur Wehrmacht eingezogen und kam nur noch im Urlaub nach Hause. Er erzählte wenig von seinem Soldatenalltag. In Viersen27 selbst bekamen die 33000 Einwohner vom Krieg noch wenig zu spüren. Das änderte sich aber schlagartig, als die Stadt das Ziel von Bombenangriffen wurde. Wegen des Flachsanbaus in der Umgebung war sie nämlich Sitz bedeutender Textilindustrien, die weltweit Exporthandel betrieben. Ein erster Luftangriff ereignete sich in der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 1942.28 Dabei entstand großer Sachschaden an der Pfarrkirche St. Joseph. Die größten Bombenangriffe erfolgten am 9. und 24. Februar 1945, große Teile der Innenstadt wurden getroffen, etwa 188 Menschen kamen dabei ums Leben.29

Der für Berta Schmitz und die vier Kinder denkwürdigste Tag war aber der 8. Dezember 1944. Es gab wieder einmal Bombenalarm. An diesem Tag war sie mit den Kleinen zu ihrer Schwester, Frau Neukirchen, gegangen, die 300 Meter weiter wohnte. Dort half sie beim Packen von Wäsche, die ins Bergische Land geschickt werden sollte. Wenn sie bei sich zu Hause gewesen wäre, wäre sie wie immer mit den vier Kindern zum 80 Meter entfernten Keller des Schusters Gillessen gelaufen. An diesem Tag aber ging alles so schnell, dass sie mit den Kindern bei ihrer Schwester blieb. Die Bomben der Alliierten, die ihr eigentliches Ziel, die nahe gelegene Bahnlinie, verfehlten, schlugen genau im Haus des Schusters Gillessen ein: 18 Menschen starben, nur ein Säugling und die älteste Frau überlebten. Peter, damals sechs Jahre alt, erinnert sich noch, wie Mutter und Kinder reagierten, wenn es Bombenalarm gab: »Wir haben damals schon den Schutz als Fügung Gottes erkannt.«30

Peter Schmitz war an verschiedenen Fronten eingesetzt. Am Ende des Krieges geriet er – ohne verwundet worden zu sein – in englische Gefangenschaft. Als er im Juni 1946 aus der Gefangenschaft heimkehrte, war die Freude übergroß; das gewohnte Familienleben konnte wieder aufgenommen werden. Seiner Arbeit im Klärwerk als Maschinist konnte er wieder nachgehen und bis zur Berentung im Jahr 1965 ausüben. Vom Krieg erzählte er kaum etwas, auch über die Zeit des Nationalsozialismus wurde im Familienkreis nicht gesprochen. Was aber den Geschwistern heute noch gut in Erinnerung ist, das ist eine gewisse Vorliebe des Vaters für seinen ältesten Sohn Heinz, der durch den Vater seine große Liebe zur Natur entdeckte. Er half ihm bei der Arbeit im Schrebergarten und erinnerte sich später mit Stolz, wie sie einmal unter Mithilfe der ganzen Familie bei einem Gartenwettbewerb der Stadt Viersen den ersten Preis gewannen.31

Im Krieg und in der Zeit danach gab es noch keine Schulzeugnisse in der heutigen Form, die Schulnoten wurden vielmehr in ein Zeugnisheft eingetragen. Die Erstaufnahme des kleinen Heinz in der Schule ist mit August 1943 belegt, aus den Jahren 1944/45 fehlen die Eintragungen. Der Krieg endet am 8. Mai 1945, dann dauert es noch mehr als drei Monate, bis am 13. August die Volksschulen als Konfessionsschulen ihre Arbeit in Behelfsräumen und im Schicht-Unterricht wiederaufnehmen.32 Das erste Zeugnis nach dem Krieg ist vom Sommer-Halbjahr 1946, das letzte Zeugnis vom Winter-Halbjahr 1948/49 datiert. Dieses letzte Zeugnis ist besser als die vorhergehenden. Die Benotung ist durchwegs gut, in Zeichnen gibt es genügend. Am 14. März 1949, also noch vor Ostern33, das in diesem Jahr auf den 17. April fällt, wird er ins Humanistische Gymnasium in Viersen in Klasse Sexta34 ohne Prüfung aufgenommen. Aus diesem Schuljahr 1949/50 gibt es zwei Zeugnisse, welche einen guten Erfolg bescheinigen.