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Inhalt

Heft 4 | Oktober–Dezember 2015

Jahrgang 88 | Nr. 477

Notiz

Mitten im Leben

Bernhard Körner

Nachfolge

Heimliches Feuer unter der Asche. Gedanken zur Keuschheit

Edith Kürpick FMJ

Von Siedlern und Suchern. Ordensleben zwischen Sesshaftigkeit und Ausschauhalten

Mirjam Schambeck sf

Gott alles in allem. Der Mystiker Ägid van Broeckhoven

Dominik Terstriep SJ

Nachfolge | Kirche

Anglikanische Spiritualität. Annäherung anhand einer Biographie des „Book of Common Prayer“

Annegret Lingenberg

Kein Geheimnis von Taizé

Frère Richard

Nachfolge | Junge Theologie

Heiterer Aufbruch des Geistes. Humor als postmoderne Mystagogie

Alexander Jaklitsch

Reflexion

Die Brautbriefe Dietrich Bonhoeffers. Zeugnis einer Spiritualität in Liebe und Abschied

Gunter Prüller-Jagenteufel

Friede als Weihnachtsgabe. Die Geburtserzählung im Lukasevangelium

Josef Pichler

Nicht nur Meditationsschemel. Das Erbe des Jesuiten und Zen-Lehrers Hugo M. Enomiya-Lassalle

Ursula Baatz

Bild und Bildlosigkeit. 2. Symposium Kontemplation

Josef Thorer SJ

Lektüre

Versehrender Segen. Zu Esther Maria Magnis’ Buch „Gott braucht dich nicht“

Joachim Negel

„Endlich ist die Stunde da“. Predigt zur Weihnachtsvigil am 24. Dezember 1979

Oscar Romero

Ende der Zeiten - Zeit des Endes. Giorgio Agamben über das „Mysterium iniquitatis“

Christoph Böhr

Ignatianische Spiritualität im Web. Eine Umschau

Thomas Neulinger SJ

Buchbesprechungen

Impressum

Erscheinungsweise: vierteljährlich

Herausgeber:

Redaktionsanschrift:

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.geistundleben.de. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein.

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Verlag: Echter Verlag GmbH,

Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter

Bezugspreis: Einzelheft € 11,80 (D) / € 12,20 (A)

Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.

Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:

Notiz

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Bernhard Körner | Graz

geb. 1949, Priester, Professor für Dogmatik an der Universität Graz, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

bernhard.koerner@uni-graz.at

Mitten im Leben

„Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig.“ Ein bekanntes Wort aus Widerstand und Ergebung und eine gute Gelegenheit, sich siebzig Jahre nach seiner Hinrichtung an Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) zu erinnern. Die Gedanken gehen nicht nur zurück zu einem Theologen, der seine große Zeit wohl noch vor sich gehabt hätte. Sie treffen auch auf einen, dessen gläubig theologisches Denken durch das Feuer eines unmenschlichen Regimes und eines mörderischen Krieges geläutert worden ist. Wer solches Grauen wach und wohl auch mit Angst erlebt, dem kommen keine leichtfertig hingesagten frommen Phrasen über die Lippen. Und so mag damals Gott – so die Vermutung eines Nachgeborenen – mit einer Formulierung Karl Barths gesprochen, als der „ganz andere“ erfahren worden sein.

Aber die Erfahrung und die Formulierung Bonhoeffers sind paradoxer und facettenreicher. Gott ist nicht nur der ganz andere, der anscheinend Ferne, er ist auch eine Wirklichkeit mitten in Bonhoeffers Leben – mitten in Krieg und Terror, mitten im Widerstand, im Gefängnis, unter dem Galgen. Gott ist da. Gegenwärtig durch Jesus Christus. Und zugleich ist er unfassbar. Jenseitig. Er entzieht sich dem erkennenden und verstehenden Zugriff. Mitten im Leben ist Gott keine Wirklichkeit dieses Lebens, sondern – „mitten in unserem Leben jenseitig“.

Dieser Jenseitigkeit Gottes mitten im Leben gilt es – auch 70 Jahre später – theologisch gerecht zu werden und geistlich standzuhalten. Und da lohnt es sich, ein frühes Werk von Hans Urs von Balthasar in Erinnerung zu rufen. In seinem 1956 erschienenen (und jüngst neu aufgelegten) Buch Die Gottesfrage des heutigen Menschen hat er die neuzeitliche Entwicklung nachgezeichnet, die zu einer immer ausgeprägteren Erfahrung der Jenseitigkeit Gottes geführt hat. Sie ist für Balthasar nicht in erster Linie Folge der Ablehnung Gottes (das auch), sondern Ergebnis der inneren Logik der abendländischen Geistesgeschichte, die nicht zuletzt durch das Christentum geprägt worden sei. Am Ende der Entwicklung stehe als einzige Absolutheit die „zu Gott hin offenbleibende Frage, unter die sich alle übrigen Normen und Sätze einer natürlichen Religion subsumieren lassen müssen“. Die Beziehung zu Gott ist nicht zuerst in einer definitiven Erkenntnis fassbar, sondern in der Frage nach ihm. Für die katholische Kirche mit ihrem Anspruch und ihren dezidierten Aussagen zu Glaube und Moral werde das zunehmend zur Herausforderung. Aber sie könne nicht anders, sie müsse der Einsicht entsprechen, dass Jesus Christus als der Gottmensch die genaue Verwirklichung dessen ist, „was auf Grund der Menschheitsfrage von Gottes freier Gnade und Barmherzigkeit abschließend erwartet werden durfte.“

Also auch bei Balthasar: Gottes unfassbare Nähe und seine ebenso unfassbare Jenseitigkeit. Vielleicht sind damit die beiden Koordinaten benannt, die auch für eine heutige Gotteserfahrung gelten, Orientierung geben können, zu schaffen machen und ernst genommen werden müssen. Denn beides ist möglich: Man sucht nach der Nähe Gottes und verliert sich in der Erfahrung des Unfassbaren. Und umgekehrt: Man steht im Bann der Größe Gottes und übersieht seine unfassbare Nähe. Aber beides muss zur Geltung kommen – um Gottes und des Menschen willen.

Dass die Erfahrung der (vermeintlichen) Ferne und das Schweigen Gottes eine Jahrtausende alte Probe des Glaubens darstellt, ist biblische und christliche Erfahrung: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen …“ (Ps 22) Aber auch die Nähe Gottes will und muss ertragen werden. Im Blick auf die Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt (Mk 6,2–6) formuliert das Schott Messbuch lakonisch und präzise: „An den fernen Gott glauben ist leichter als dem nahen Gott zu begegnen.“ Eine paradoxe, aber eine alles andere als lebensfremde Einsicht. Deshalb braucht es den sorgsamen Blick auf sich selbst und die Unterscheidung der Geister.

Und Gottes Nähe und seine Größe sind beides auch – Gnade. Was die Nähe Gottes betrifft, ist man gerne bereit, das zuzugestehen. Aber auch seine Größe, die man als Ferne missverstehen kann, ist Gnade. Denn nur der göttliche Gott ist wirklich – Gott. Nur der Gott, der nicht in das Koordinatensystem menschlicher Vorstellungen und Plausibilitäten gezwängt worden ist. So verführerisch das sein mag, am Ende hält ein zu anthropomorph gedachter Gott den Ungereimtheiten der Natur und der Geschichte nicht stand. Deshalb kann es immer noch als eine wertvolle Orientierungshilfe gelten: „Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig.“

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Nachfolge

Nachfolge

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Edith Kürpick FMJ | Köln

geb. 1967, Priorin der Monastischen Gemeinschaft der Schwestern von Jerusalem in Köln

schwestern.jerusalem@t-online.de

Heimliches Feuer unter der Asche

Gedanken zur Keuschheit

Leg deine Schuhe ab,

denn der Ort, wo du stehst,

ist heiliger Boden. (Ex 3,5)

Kein Zweifel, Mose war in die Wüste gegangen. Eine Urmetapher der Einsamkeit, Bedürftigkeit, der trostlosen Öde und bedrängenden Leere. Wer schon einmal in der Wüste war, weiß, dass dort längst nicht jeder Dornbusch brennt, dass das dürre, dornige Gestrüpp unserer Ängste und Schatten so manches Mal den Blick hin zu den weiten, schönen Horizonten verstellt. Mose war mit seiner Herde in die Wüste gegangen, genauer gesagt, noch „über die Steppe hinaus“ (Ex 3,1), „in das Innere der Wüste“ (ad interiora deserti), wie die Vulgata übersetzt. Wer beim Dornengestrüpp nicht hängenbleibt, sondern sich weiter, tiefer vorwagt, riskiert es, in brennender Sehnsucht dem Anderen, dem Ganz-Anderen zu begegnen. Die Bibel weiß: Die Wüste setzt den Menschen einem Geheimnis aus. Es täuscht sich, wer sie nur für ein Stück verbrannte Erde hielte. Sie ist brennender, „heiliger Boden“. Wer sich ihm nähern will, muss seine Schuhe ablegen. Und wenn die Geschichte vom brennenden Dornbusch eine Urmetapher der Keuschheit wäre?

Keuschheit?

Die Keuschheit ist kein schwieriges Thema. Sie ist überhaupt kein Thema. Sieht man von einschlägigen theologischen Wörterbüchern oder frommen Traktaten, von Ordensregeln oder dem Codex des kanonischen Rechts einmal ab, hat sie sich längst aus unserer Alltagssprache und Begriffswelt verabschiedet. Wenn Papst Franziskus die Hirten der Kirche dazu drängt, den Geruch der ihnen anvertrauten Schafe anzunehmen1, wird es kaum jemandem in den Sinn kommen, damit auch die Keuschheit zu verbinden. Zu sehr haftet ihr der Geruch des hoffnungslos Antiquierten, ja Lebensfeindlichen an. Wer möchte schon gern danach riechen?

In der Regel reduziert auf die Dimension des Geschlechtlichen und auf Fragen der Sexualmoral, steht sie unter dem Generalverdacht, eine negative Tugend zu sein: Leib und Lust zu verachten, sexuelle Energien einzubetonieren, vermeintliche Geschlechtslosigkeit zu spiritualisieren. Kontrolle und Tabu statt frei liebender Leidenschaft. Anlass höchstens zu genüsslichem Spott, meistens nur noch zu einem müden, aber vieldeutigen Lächeln. Selbst in kirchlichen, gut unterrichteten Kreisen herrscht nicht selten Konfusion darüber, was überhaupt gemeint sein könnte. Keuschheit – Jungfräulichkeit – Ehelosigkeit – Zölibat: Die Palette ist breit, die Begriffe scheinen, je nach Kontext, beliebig austauschbar.

Ausdrückliche Lebensformen, wie sie manche Getaufte, z.B. Ordenschristen, durch die Ehelosigkeit und Priester der lateinischen Kirche durch den Zölibat versprechen und leben, sind in ihrer dauernden geschlechtlichen Enthaltsamkeit als Form klar umrissen. Jungfräulichkeit (die sich nicht auf sexuelles Unberührtsein reduzieren lässt), mag in diese Lebensform einmünden, erschöpft sich aber nicht darin. Im jüdisch-christlichen Kontext ist damit die Gott-offene, auf ihn sehnsüchtig wartende, ihm schon vertrauend und hoffend anvertraute Herzensausrichtung des Menschen und des Gottesvolkes gemeint: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt“, spricht Gott durch seinen Propheten, „… ich baue dich wieder auf, du sollst neu gebaut werden, Jungfrau Israel“ (Jer 31,3f.). Und am anderen Ende der Bibel kann Paulus den Korinthern schreiben: „Ich habe euch einem einzigen Mann anverlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen“ (2 Kor 11,2). So ist schon biblisch die Jungfräulichkeit eng mit einer Brautmystik verbunden: Der Schöpfer ist der Gemahl, der Erbauer ist der Bräutigam, die Jungfrau die schon erwählte Braut (vgl. Jes 62,5). Aber ob Mann oder Frau – ein jungfräulicher Mensch ist, wer sich ganz und gar, mit Haut und Haar, liebend darauf einlässt; neutestamentlich gesprochen, wer dem Lamm folgt, wohin es auch geht (vgl. Offb 14,4). Jungfräulich sind nicht die Unberührbaren, sondern die von Gott Berührten; die durch ihn zur inneren Einheit Gekommenen und dadurch auch zur Selbsthingabe Fähigen. So findet sich die Jungfräulichkeit in allen Lebensständen. Und in allen Lebensständen findet sie sich … auch nicht. Um die Wahrheit und Tiefe der Gottesbeziehung geht es letztlich, so tief, dass der Hl. Gregor von Nazianz es wagte, mit eben diesem Wort die reine Hingabe und liebende Aufmerksamkeit der drei göttlichen Personen zueinander tastend zu benennen: „Die Heilige Trinität ist … die erste Jungfrau“2. Gott erweist sich in sich selbst als jungfräulich liebend. Was aber bedeutet dann noch die Keuschheit? Wird sie zu einem bloßen Synonym, oder hat sie ihre eigene kraftvolle Aussage? Wofür steht sie? Wofür brennt sie? Wie die Ehelosigkeit und der Zölibat kann sie sich in einer frei gewählten, dauerhaften Lebensform geschlechtlicher Enthaltsamkeit ausdrücken. Wie die Jungfräulichkeit atmet sie die Weite einer lebendigen, integren, suchenden Gottesbeziehung. Aber von all diesen Möglichkeiten, in der Welt und vor Gott zu sein, ist letztlich nur die Keuschheit eine Weise, sich dieser Welt zu stellen und allem Wirklichen – den Dingen, den Ereignissen, den Menschen, sich selbst und schließlich Gott – zu begegnen. Sie ist weder moralisches System noch an theologischen Schreibtischen entworfenes Gedankenkonstrukt – genauso wenig wie es der brennende Dornbusch in der Wüste war. Nur leiblich begegnen wir der Wirklichkeit. Selbst leiblich verwurzelt, tritt die Keuschheit in Beziehung zum leiblichen Ausdruck aller Wirklichkeit.

Begegnung und Berührung

Wir leben in einer Epoche, die wohl wie keine andere zuvor dem Leib zu huldigen wusste, besser gesagt (weil ja die deutsche Sprache diese wichtige Unterscheidung erlaubt), dem Körper, dieser einfachen und doch so komplexen biologischen Verfasstheit des Menschen. Auf höchstem Niveau wird schon seit Jahrzehnten ein wahrer Körperkult zelebriert, der, von kosmetischer Makellosigkeit über perfekte Wellness auf Abruf und Diät-Programme in Endlosschleife bis hin zu sportlicher Fitness klar suggeriert: Design ist wichtig, alles ist machbar und möglich, ein Klick genügt. Dieser überhöhten (und dadurch paradoxerweise niedrigen und oft verwilderten) Idee der Körperlichkeit des Menschen setzt der christliche Glaube, anders als man meinen könnte, anders auch, als man ihm immer noch unterstellt, eine ganzheitliche Sicht entgegen: Der Mensch ist geistbegabte, leib-seelische Person. Das Wort Gottes hat einen menschlichen Leib angenommen und diesem noch einmal eine unendliche Würde geschenkt. Gott selbst ist Fleisch geworden und hat der Welt eine neue Ordnung zugemutet: Nämlich in einer Weise zu lieben, deren Maß er selber ist. „In Wahrheit hat das Christentum allein es gewagt, den Leib in die innerste Tiefe der Gottesnähe zu ziehen“3, konnte Guardini staunend sagen. Und der erste Theologe der Kirche, Paulus selbst, erkannte im Leib einen „Tempel des Heiligen Geistes“, in dem Gott verherrlicht werden soll (1 Kor 6,19f.), denn „der Leib ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn und der Herr für den Leib“ (1 Kor 6,13) – und man wird vermutlich ein ganzes Leben brauchen, um den zweiten Teil des Satzes in seiner unfassbaren Tiefe auszuloten.

Der Leib ist relativ, so wird hier deutlich: Er steht in Relation. Er ist weder Objekt noch Werkzeug; er ist jeweils Ich auf die Welt, auf die Anderen, auf Gott hin. Die unmittelbare Gegenwärtigkeit, die Erfahrung des Erlebten, das Geschaute, Gehörte, Gefühlte geht nicht in seiner Unmittelbarkeit auf. Dieses Erleben ist unendlich reicher, als wir spontan annehmen und als es sich uns offenbart; es birgt ein Geheimnis, einen Schatz wie in zerbrechlichen, leiblichen Gefäßen (vgl. 2 Kor 4,7): Das Geheimnis der Person in ihrer Beziehung zu Gott, zu den Anderen, zur Welt; die Geschichte ihrer Freude und Hoffnung, ihrer Trauer und Angst (vgl. GS 1).

Weil sie dies ahnt und achtet, widerspricht die Keuschheit der gefährlichen Reduktionsformel „nichts als“, die behauptet, der Mensch ließe sich auf irgendetwas, und sei es auf seine Leiblichkeit, reduzieren. Sie verweigert sich einer übersteigerten, perversen Sinnlichkeit – nicht zuerst, weil diese unmoralisch, sondern weil sie vor allem lügnerisch ist. Nur die Keuschheit kann sich der Wahrheit nähern.

Dennoch bedeuten ein solcher Widerspruch, eine solche Verweigerung weder Lieblosigkeit noch Beziehungslosigkeit. Die Geste der Keuschheit ist nicht der gierige Zugriff, sondern die Berührung voller Ehrfurcht. Denn schon die Berührung der Haut berührt die Person, und die Person ist der Ehrfurcht wert. So berührt selbst die Keuschheit nicht das tiefste Geheimnis des Anderen, denn sein Geheimnis ist der Unversehrtheit wert.

Darum behält hier die Begegnung ihren Grenzcharakter; eine keusche Haltung ist, im starken Sinn des Wortes, grenz-wertig: Sie weiß um den Wert der Grenze, die nicht nur die bloße Differenz, sondern mehr noch die Alterität garantiert. Die Keuschheit beherrscht die Kunst, die Schönheit des Anderen oder der Dinge wertschätzend zu offenbaren, ohne sie sofort zu konsumieren. Sie befreit von der zwanghaften Notwendigkeit, haben zu müssen. Sie lässt sich ihrerseits anrühren, ohne vom Anderen oder den Dingen besessen zu werden. Sie ist frei. Sie besetzt nicht, sie setzt sich vielmehr aus, macht sich verwundbar und leidensfähig, ohne ihre Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit noch einmal zur Schau zu stellen, zu vermarkten und zur Verführung verkommen zu lassen. Die Keuschheit weiß um die Schwachheit ihrer eigenen Grenzen und glaubt, dass sie genau so an Gott, den Ganz-Anderen, grenzt. Das macht ihre Demut aus. Sie lässt das Widerfahrnis der Nähe zu und öffnet Hände, Herz, Augen. Das ist ihre große, ohnmächtige Stärke.

Schauen und angeschaut werden

Alles beginnt mit dem Blick. „Das Auge gibt dem Körper Licht”, sagt das Evangelium. „Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein ganzer Körper hell sein“ (Mt 6,22)4. Im Urtext heißt es genauer: „wenn dein Auge einfach ist“. Denn selbst unser Blick, so scheint es, ist durchaus in der Lage, eine Art Doppelleben zu führen. In unserer westlichen Kultur der Übersättigung können wir uns oft nicht sattsehen an neuen Bildern und Informationen, die täglich aus der gesamten vernetzten Welt auf uns einströmen. Überspitzt gesagt: im Zeitalter des global viewing tut sich so etwas wie eine Scheinwelt auf, totalisierend in ihrem Anspruch, vereinnahmend in ihrer Dynamik, ohne jedoch in sich geeint, geschweige denn einend zu sein.

Wenn heute bezeichnenderweise die Benutzeroberflächen unserer Computer immer sensibler werden, müssen dann notwendigerweise wir, die sie benutzen, immer oberflächlicher werden? Wie auch immer, die Gefahr liegt auf der Hand: Der Blick wird selektiv, spaltet ab; er ist wie ein „Zugriff des Auges, ein hastiges, zweckbedingtes Erfassen und Festhalten, das dem des Fotoobjektivs gleicht (…) Das Schauen ist gar kein Anliegen mehr, sondern das Haben, das Habhaftwerden des Gesehenen, das Darüber-verfügen-Können“5. Unsere kurzsichtigen Augen haben die Kontemplation verlernt. Der geheimnisvollen, fremden, transzendenten Andersheit wird kein Raum mehr gewährt. Keine Leerstelle hält das Leben mehr offen für sie. Überraschungen gibt es nicht. Das Gesehene wird zum begehrten Lustobjekt, schlimmstenfalls zur Beute, die voyeuristisch nach Belieben seziert werden kann.

Das älteste Symbol dafür ist das Idol. Der Machtergreifung steht es jederzeit zur Verfügung. Wer sich idolatrisch des Anderen oder seines Leibes oder selbst noch der Dinge bedient, um sie zum Spiegel seiner eigenen Allmachtsträume zu machen, ist unkeusch. Das Gegenbild dazu ist die Ikone. Sie eröffnet einen Raum für das unstillbar Ersehnenswerte, nimmt den Blick mit hinüber vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Für Glaubende ist sie in ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit Zeichen eines beglückenden Geheimnisses: Der unendlich unbegreifbare Gott, von dem sie erzählt, beobachtet nicht den Menschen, sondern schaut ihn an und gibt ihn damit frei in dessen eigenes Wesen, hinein ins Leben: „Nichts anderes ist dein Sehen als Lebendigmachen (…) Ich bin, weil du mich anschaust“, betete Nikolaus von Kues6. Wer eine Ikone betrachtet und verehrt, erkennt das Gesicht hinter den Gesichtern. Weil er dies achtet und ehrt, ist seine Annäherung keusch. So kann aber für die Keuschheit letztlich die ganze Wirklichkeit zur Ikone werden. Wer sie ersehnt und sich bemüht, sie zu seiner Grundhaltung zu machen, dem offenbart die Keuschheit „das wahre Gesicht des Lebens“7.

Dem Gesicht auf der Spur

Das Altertum hatte für den Sklaven einen schrecklichen Namen gefunden: Man nannte ihn aprosôpon – den Gesichtslosen. Hätte vielleicht in unserer Zeit die Unkeuschheit mit modernem Sklaventum zu tun, weil sie, besitzergreifend und dominierend, gesichtslos macht und die Person im Grunde zum Objekt degradiert? Keusch ist der Blick, der den Leib von seinem Gesicht aus wahrnimmt. So sehr der Leib auch maskieren, vielleicht sogar täuschen mag: Er ist Ausdruck der Person, zumindest Spur ihres Geheimnisses. Die Keuschheit bleibt in dieser Spur. Sie respektiert die langsamen Gesetze des Lebens, des Wachstums, durchläuft selbst diese Stufen – wohl kaum jemand wird keusch geboren –, verbietet sich den endgültigen Richterspruch über einen Menschen, der ja bis zu seinem letzten Atemzug werdend bleibt. Sie kennt ein Warten vor dem Anderen. So akzeptiert sie die Ungesichertheit, das Risiko, die Erfahrung des Mangels, vielleicht auch der Einsamkeit. Wenn sie sich etwas nimmt – dann Zeit. Dies alles nicht, wie man vorschnell meinen könnte, aus kühler Berechnung, ängstlicher Distanzwahrung oder heroischer Entsagung heraus. Niemand ist berufen, nicht zu lieben. Nur wer liebt, vermag keusch zu sein. Um ihrer selbst willen wird die Person geliebt.

Auch der glaubend Liebende nimmt das Leben des Anderen nicht in die Hand; er weiß es noch in einer anderen Hand. Wenn seine Liebe wirklich keusch ist, lässt er ihn immer wieder in diese Hand hinein los. „Das bedeutet aber“, schreibt Dietrich Bonhoeffer in seinem weisen Buch über das gemeinsame Leben, „dass ich den Andern freigeben muss von allen Versuchen, ihn mit meiner Liebe zu bestimmen, zu zwingen, zu beherrschen. In seiner Freiheit von mir will der Andere geliebt sein als der, der er ist, nämlich als der, für den Christus Mensch wurde, starb und auferstand, für den Christus die Vergebung der Sünden erwarb und ein ewiges Leben bereitet hat. Weil Christus an meinem Bruder schon längst entscheidend gehandelt hat, bevor ich anfangen konnte zu handeln, darum soll ich den Bruder freigeben für Christus, er soll mir nur noch als der begegnen, der er für Christus schon ist“8.

Auf diese Weise im tiefsten verbunden, mehr noch: an den Anderen, wer immer er auch sei, verbindlich gebunden – „was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40) –, bindet jemand, der in Keuschheit liebt nicht an sich selbst. Er gibt Raum, indem er sich den Anderen eben nicht einverleibt, seinen Lebensraum nicht annektiert, sondern selber zum Gastgebenden wie auch zum Gast des Anderen wird9. Was eine frühchristliche Schrift aus dem 2. Jh. von den ersten Christen bezeugte, lässt sich vielleicht – übertragen – auch von den ungezählt möglichen Weisen des Keuschseins sagen: „Jede Fremde ist ihnen Heimat und jede Heimat ist ihnen fremd”10. Wenn die Keuschheit im Geheimnis einander nahe sein lässt, dann öffnet sie alles, was sie berührt, ungeahnten, unendlichen Horizonten.

In der Spur der Ewigkeit

Einer der eindrücklichsten Auferstehungsberichte im Neuen Testament ist die Begegnung Jesu am Ostermorgen mit Maria von Magdala. Auch da geht es noch um Berührung, um Nähe und Distanz. „Halte mich nicht fest!“ (Joh 20,17) – Jesus hält diese Geste auf, verweigert sich diesem Kontakt. Er, der während seines ganzen irdischen Lebens nie durch dieses vertrauliche Zeichen unangenehm berührt zu sein schien, der es sogar gegen Kritik verteidigte (vgl. Lk 7,36 ff.), hält es jetzt, nach seiner Auferstehung, offenbar für unangemessen. Es ist kaum vorstellbar, dass er nun meint, Vorsichtsmaßnahmen treffen zu müssen, die er vorher nie getroffen hat. Ebenso wenig, dass er eine spürbare Distanz zu den Seinen schaffen will, denen er doch jetzt so nahe wie nie zuvor gekommen ist. Die Auferstehung Jesu, die sich in unsere irdischen Kategorien von Raum und Zeit nicht einfangen lässt und diese dennoch verwandelnd berührt, öffnet vielmehr eine ganz neue Dimension der Wirklichkeit. Fast möchte man von einer „Keuschheit der Auferstehung“ sprechen, die die Ewigkeit von nun an untrennbar mit der Gegenwart verbindet, sie erfüllt und fruchtbar macht, ohne sich darin zu erschöpfen und ohne sich machtvoll beherrschend aufzwingen zu wollen. Ihr Modus sowie die angemessene Antwort darauf ist nicht die gierig zugreifende Bedürfnisbefriedigung, sondern die rückhaltlos liebende, unverzweckte Selbsthingabe11. Alles menschliche Sehnen und Verlangen trägt in der Tat seinen eigenen Stachel im Fleisch (vgl. 2 Kor 12,7), einen Mangel, eine Leerstelle, die keine leibliche Befriedigung auszufüllen vermag. Wo sich eine solche dies anmaßt, wird die Keuschheit zu einem störenden Fragezeichen, ja, zu einer „eschatologischen Mahnung“12.

Wer zur Jüngerschaft des auferstandenen Herrn gehören möchte, wird unablässig gedrängt, mit ihm „ans andere Ufer hinüberzufahren“ (Mk 4,35), bei nichts und niemandem zu früh stehenzubleiben, „niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben zu kennen“ (2 Kor 5,16). Weiter, tiefer und ehrfürchtiger soll der Blick werden. Keuscher also, das heißt dann aber auch: menschlicher und gastlicher. Denn, wie es Alfred Delp in seiner dichten Sprache ausdrücken konnte, „man verrät den Himmel, wenn man die Erde nicht liebt, und man verrät die Erde, wenn man an den Himmel nicht glaubt“13. Die Keuschheit hat ihren gut geerdeten Platz genau an dieser Schnittstelle, an der sich Himmel und Erde berühren. Sie ähnelt darin auf erstaunliche Weise der Art, wie die Kirche ihre Sakramente feiert. Alle ihre Zeichen sind ungemein demütig, substantiell, ja, keusch: ein Stück Brot, ein wenig Wein, ein bisschen Wasser oder Öl … Kaum dazu geeignet, den Magen vollzustopfen, sich maßlos zu betrinken oder verführerisch zu glänzen. Und doch verdichten sich hier in Wort und Zeichen größtmögliche Nähe, verschenktes und empfangendes Leben. Unvermischt und ungetrennt. Brennend und doch nicht verbrennend. Wie der Dornbusch in der Wüste.

Mose hatte seine Schuhe ausgezogen. Die heilige Offenbarung des Gottesnamens verlangte diese Ehrfurcht. Die Keuschheit entblößt das eigene Herz. Wahre Begegnung mit der Wirklichkeit, mit jeder Wirklichkeit, hat diesen Preis. Verwundbar und empfänglich, sich verschenkend und zutraulich, wird es menschlicher, dieses Herz. Wer einmal bei einem Anderen davon gekostet hat, ahnt, was es kostet und kann selbst nicht mehr davon lassen. Inmitten der unwirtlichen Wüsten unserer Zeit, in dem Wildwuchs unserer Gier und dem betörenden Blendwerk unserer Möglichkeiten bleibt in ihm, brennend wie heimliches Feuer unter der Asche, die Sehnsucht eingeschrieben, keusch zu sein.

1Vgl. http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-francesco_20130328_messa-crismale.html

2πρώτη παρθένος … εστìν Τριάς: R. Palla (Hrsg.) / M. Kertsch (Übers.), Gregor von Nazianz, Carmina de virtute Ia-Ib. Graz 1985, 92.

3R. Guardini, Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi. Würzburg 1961, 490.

4Die alten Mönchsregeln haben diesen Zusammenhang weiter entfaltet: „Das unkeusche Auge ist Künder eines unkeuschen Herzens“ (Cäsarius von Arles, Regel für Nonnen, N° 23: Klosterregeln für Nonnen und Mönche. St. Ottilien 2008, 23).

5H. Spaemann, Er ist dein Licht. Meditationen für jeden Tag. Jahreslesebuch. Freiburg i.Br. u.a. 1992, 23.

6Nikolaus von Kues, Über die Schau Gottes, 5,8.

7Vgl. Im Herzen der Städte. Lebensbuch der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem. Freiburg i.Br. u.a. 2000, N° 82.

8D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben. Gütersloh 2006, 31.