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Hermann Kügler
Scheitern
Psychologisch-spirituelle Bewältigungsversuche

Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ und Willi Lambert SJ, Band 38

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Hermann Kügler

Scheitern

Psychologisch-spirituelle
Bewältigungsversuche

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2009 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Roberto Meraner
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-429-03171-8

Inhalt

Einleitung

1. Was ist Scheitern?

2. Dem Scheitern vorbeugen

3. … und wenn man gescheitert ist? Drei Möglichkeiten, damit umzugehen

4. Wie Jesus von Nazareth gescheitert ist

5. Was der christliche Glaube zu bieten hat

6. Anregungen von Ignatius von Loyola

7. Mit dem arbeitenden Gott mitarbeiten

8. Ein lebenslanger Prozess

Anmerkungen

Einleitung

»Eigentlich kommt im Christentum Scheitern nicht vor«, meinte mein Freund Lutz, als ich ihm vor einiger Zeit von meinem geplanten Buch über das Scheitern erzählte. Ich schaute ihn dann wohl einigermaßen verdattert an. Daraufhin legte er nach und meinte: »Auch in der ignatianischen Spiritualität ist Scheitern kein Thema.«

Nun ist Lutz keiner, der die Augen vor den Realitäten der Welt verschließt oder in einer abgehobenen Sonderwelt ohne Bezug zur Wirklichkeit lebt. Deswegen konnten wir uns nach einigem Hin und Her doch noch auf eine anschlussfähige Sichtweise verständigen.

Über seine provokante These habe ich weiter nachgedacht. Vielleicht hat er doch irgendwie Recht, und der christliche Glaube bietet gescheiterten Menschen etwas grundsätzlich Neues und Unerhörtes, so dass menschliches Scheitern sich relativieren würde? Aber klingt das nicht nach billiger Vertröstung? Diese wäre jedoch völlig inakzeptabel nach über hundert Jahren gut reflektierter Religionskritik von Feuerbach, Marx, Freud und anderen. Bekanntlich ist es keine Lösung, ein Problem dadurch »lösen« zu wollen, dass man behauptet, es existiere gar nicht und alles sei eitel Sonnenschein.

Wenn Sie sich umschauen, werden Sie feststellen, dass überall um Sie herum Menschen in ihren Lebensentwürfen scheitern. Ehen zerbrechen, obwohl die Partner sich ewige Treue versprochen haben, »bis dass der Tod uns scheidet«. Eine Firma macht bankrott, und langjährige Mitarbeiter stehen ohne jede berufliche Perspektive auf der Straße. Schleichend gerät jemand in den Sog der Alkoholabhängigkeit oder anderer Suchterkrankungen und findet nicht mehr heraus. Kirchenmitglieder scheitern ebenso wie Menschen ohne eine konfessionelle oder religiöse Orientierung. Priester geben ihr Amt auf, Ordensmänner und -frauen verlassen ihre Gemeinschaft und gehen eine Partnerschaft ein, obwohl sie lebenslange zölibatäre Keuschheit gelobt haben.

Nach dem Scheitern versuchen die meisten Menschen, sich neu zu orientieren, sei es aus eigenen Kräften, sei es mit der Unterstützung von Freunden und Angehörigen oder auch mit professioneller Hilfe. Aber dieser Prozess kostet viel Kraft und Optimismus. Vermutlich haben Sie selbst dieses Buch nicht nur aus reiner Neugier in die Hand genommen. Ich stelle mir vor, dass Sie für sich selbst oder für Menschen in Ihrem Umfeld Unterstützung und Ermutigung suchen, um eigenes Scheitern zu bewältigen oder um andere besser zu verstehen und ihnen vielleicht beistehen zu können.

Ein Buch kann weder den schmerzvollen Weg der persönlichen Auseinandersetzung ersetzen noch liefert es Patentrezepte, wie anderen am besten beizustehen ist. Aber es kann helfen, sich selbst und das eigene Scheitern ein wenig besser zu verstehen. Und vor allem kann es ermutigen, nach dem Scheitern die nächsten anliegenden Schritte zu wagen.

Nach einer ersten Verständigung, was mit »Scheitern« gemeint ist, geht es im zweiten Kapitel darum, wie Sie dem Scheitern vorbeugen können. Einige Versuche, eigenes Scheitern zu bewältigen, sind das Thema des dritten Kapitels. Im vierten Kapitel werde ich mit Ihnen anschauen, wie Jesus von Nazareth gescheitert ist. Die Sicht des christlichen Glaubens und der Beitrag der ignatianischen Spiritualität schließen sich in den folgenden Kapiteln an.

Danke für ihr Vertrauen sage ich den Menschen, die sich mir in ihrem Scheitern anvertraut haben und von denen ich viel über meine eigenen Gefährdungen und Grenzen gelernt habe; besonders danke ich Dagmar Arens, Thomas Franz, Astrid Lurweg und Ingo Teske für gute Gespräche und für wohlwollende und fruchtbare Kritik am Buchmanuskript. Besonders hat mich berührt, dass Ingo wenige Tage, nachdem er mir das korrigierte Manuskript zurückgeschickt hatte, ganz unerwartet im Untersuchungsgefängnis von Leipzig starb.

Manchmal denke ich, dass Scheitern zum Leben dazugehört, auch wenn Werbung, Wellness-Angebote und Wohlstandsideologien, für die nur die Schönen, Reichen und Erfolgreichen zählen, uns etwas anderes weismachen wollen. Wichtig ist das Wort des Altbischofs von Limburg, Franz Kamphaus: »dass es dort, wo Menschen scheitern, keine glatten Lösungen gibt.«

Leipzig, im Frühsommer 2009                           Hermann Kügler SJ

1. Was ist Scheitern?

Sucht man in der Online-Enzyklopädie Wikipedia das Stichwort »Scheitern«, so erhält man die folgende Definition: »Scheitern ist in der Seefahrt ein Schiffsunglück, bei dem das Schiff vom Sturm auf Klippen oder eine felsige Küste geworfen wird und unter den Wellenstößen zerschellt – im Unterschied zum unversehrten Stranden.«1

Diese Definition aus der Seefahrt ist ein passendes Bild für das, was Scheitern im menschlichen Leben meint. Etwas Wichtiges und Wertvolles ist unwiderruflich zerstört und lässt sich nicht mehr reparieren. Es ist aus und vorbei. Eine völlige Neuorientierung steht an. Das Bild vom gestrandeten Schiff hat etwas Gewalttätiges. Gegen Ihren Willen wurde Ihr Lebensentwurf vollständig oder in Teilen zertrümmert. Sie sind der Situation ohnmächtig ausgeliefert.

Um im Bild zu bleiben: Sie können mit diesem Schiff die Reise nicht mehr fortsetzen. Vielleicht empfinden Sie eine gewisse Dankbarkeit, dass Sie immerhin überlebt haben. Aber geht es überhaupt noch weiter? Sind Sie auf einer Insel gelandet und wissen noch nicht, ob diese vielleicht unbewohnt ist – oder von Monstern behaust? Müssen Sie sich wie Robinson Crusoe auf eine ungewisse Zeit des Wartens einstellen? Kommt wie bei Robinson ein »Freitag« als Gefährte auf die Insel? Erscheint nach langer Zeit ein rettendes Schiff am Horizont?

Genau das meint Scheitern. Auch in der Umgangssprache würden Sie wohl nicht sagen: »Ich bin gescheitert«, wenn ein Sommerurlaub verregnet ist oder Sie die ersehnten Konzert-, Kino- oder Theaterkarten trotz langen Schlange-Stehens nicht ergattert haben. Scheitern meint mehr. Scheitern meint, dass ein Lebensplan zerbrochen ist und nachher nichts mehr so ist wie vorher.

Als man Menschen unterschiedlichen Alters aufzuschreiben einlud, was für sie Scheitern bedeute, notierten sie folgende Erfahrungen2:

– stets der Unterlegene sein;

– eine gute Chance haben und sie, obwohl man mit aller Kraft sein Bestes gibt, in den Acker fahren;

– ein großes Ziel nicht erreichen und keine Chance auf Wiederholung bekommen;

– der Traum ist ausgeträumt!

– scheitern ist, wenn ich etwas sehr wünsche und es sich einfach nicht erfüllen mag;

– aufgeben, resignieren, und somit für sich selbst und alle Welt feststellen, dass man etwas nicht hingekriegt hat, was man wirklich schaffen wollte. Addiere eigenes Verschulden an diesem Zustand und du hast »Scheitern«;

– aufgeben, an sich selbst und an Gott zu glauben;

– die Hoffnung zu Grabe tragen und vielleicht nicht einmal begreifen, dass man es nicht gepackt hat;

– mit achtundzwanzig immer noch Praktikant sein;

– nicht erreichen, was andere von mir erwarten; nicht erreichen, was ich mir vorgenommen habe; nicht erreichen, wozu ich fähig bin.

Diese Erfahrungen zeigen, dass wir in allen Lebenssituationen und Lebensaltern scheitern können. In den folgenden Selbstzeugnissen – die natürlich alle so verfremdet sind, dass die Anonymität gewahrt ist – drücken Menschen persönlich aus, wie sie ihr Scheitern erleben oder erlebt haben. Sie können sicherlich ohne große Mühe eigene Erfahrungen hinzufügen und – wenn Sie mögen – diese Liste für Ihr eigenes Leben ergänzen.

Andrea: Ich habe Angst und keine Kraft mehr.

»Unser Leben war stets großen Schwierigkeiten ausgesetzt. In den vergangenen Jahren haben wir jedoch mit mehr oder weniger großen Verletzungen das meiste überstanden. Unser momentanes Problem ist jedoch so schwerwiegend, dass ich Angst habe, es bedeutet das Ende unseres Lebens.

Wir haben beide kaum noch Kraft. Freunde melden sich nicht mehr, Eltern habe ich keine mehr, die meines Partners leben im Ausland und sind schwer krank. Seit Monaten leben wir in Angst, mein Tagesablauf ist von Angst geprägt, und meine Gebete sind in einen ständigen Gedankenfluss verwandelt, der sich immer an Gott wendet, mich allerdings auch jeden Tag an seinem Wohlwollen zweifeln lässt. Mein Freund hat ein großes finanzielles Problem, in das er aus Unachtsamkeit, aus Nachlässigkeit und weil er nicht auf seine innere Stimme gehört hat, geraten ist. Und ich habe manches geahnt, aber auch nicht wirklich wissen wollen, weil ich so sehr mit dem Tod meines Vaters beschäftigt war, dass ich keine Ohren und Augen im Kopf hatte.

Zumindest hat das, was ich mitbekam, nicht den mir normalerweise innewohnenden Abwehr- und Schutzreflex ausgelöst, so dass ich ihn hätte beschützen und die Katastrophe verhindern können. Knapp ein Jahr hat ausgereicht, ihn in diese schwere Situation kommen zu lassen, die noch lange nicht ausgestanden ist. An manchen Tagen blitzt etwas wie Hoffnung auf, dann jedoch ziehen immer sofort wieder schwarze Wolken auf, und ich frage mich das eine um das andere Mal: Hat es noch Sinn? Wir versuchten sogar, gemeinschaftlich Suizid zu begehen, doch im letzten Moment verhinderte es mein Freund.