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Stefan Kiechle

Spielend leben

Ignatianische Impulse

Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ und Willi Lambert SJ, Band 34

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Stefan Kiechle

Spielend leben

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2008 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Roberto Meraner
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-429-03075-9

Inhalt

1. Was ist das: Spiel?

Kennzeichen des Spiels

Dasein als Spiel

Spiel und Spiritualität

2. Spiel ist ernst

Unwirklich oder wirklich?

Dämonisches im Spiel

Gewinnen und verlieren

3. Spiel ist heiter

Experimentieren dürfen

Der Himmel lacht

Gelassene Leidenschaft

4. Exerzitien als Spiel

Ignatius der Spieler

Die Spiele der Exerzitien

Ich will dem Herrn singen und spielen

Gespielte Exerzitien

5. Liturgie als Spiel

Vom Sinn des liturgischen Rituals

Ordnung und Freiheit

Das Leben ist Liturgie

6. Spielerisch leben

Sich Spiele gestalten

Die Spielgeister unterscheiden

Homo Ludens

7. Zehn Leitsätze, um spielend zu leben

Zum Weiterlesen

Anmerkungen

1. Was ist das: Spiel?

Wer spielt? Kinder spielen mit Puppen, manchmal stundenlang, oft hingebungsvoll, mit eigenen Regeln, unter Lachen und Weinen. Junge Hunde spielen, man weiß nicht wie, sie tollen herum, offensichtlich zum reinen Vergnügen. Die junge Geigerin spielt Bach, selbstvergessen, genau nach den Noten und doch frei, dem Klang hingegeben, vielleicht verbissen, doch besser heiter und gelöst. Der Computerfreak starrt auf den Bildschirm, fasziniert, leidenschaftlich; spielend vergisst er die Welt und schafft sich zugleich eine neue. Tänzerinnen wirbeln über die Bühne, im scheinbar freien Spiel ätherischer Körper, leicht und schwebend – und doch auch mit der heimlichen Trauer des baldigen Vergehens? Die Radachse hat Spiel, laut klappert sie und schädigt zudem das Lager – zum Verdruss des Fahrers. Wellen und Fahnen, Blätter und Möwen spielen rauschend im Wind. Arme Menschen – so meine Erfahrung aus Lateinamerika – spielen mehr als reiche, denn sie haben Zeit und Muße und müssen am Wochenende nicht aufs Landhaus fahren und dort Unkraut jäten. In olympischen Spielen kämpfen die Sportler verbissen um Punkte und Plätze. Priester und Ministranten führen bei festlichen Anlässen ein erhabenes liturgisches Spiel auf – den einen geht es zu Herzen, andere befremdet es. In der stillen Kammer, ganz in der Phantasie, in oft stundenlangen Tag- oder Nachtträumen spielen wir unsere Leidenschaften durch und unsere Hoffnungen, wir disputieren mit unseren Freunden und intrigieren gegen unsere Feinde, wir trauern um die verpassten Gelegenheiten und beweinen die unerfüllten Sehnsüchte. Verliebte spielen die Spiele der Liebe, uralt und tausendfach besungen, scheinbar sinn- und offensichtlich zwecklos, auf andere lächerlich wirkend, manchen als verboten geltend – und doch für sie die Fülle des Daseins. An Politiker- und Bischofshöfen betreiben Hofschranzen Machtspiele, nach jahrhundertealten, oft unbewussten Ritualen. Die Werbedesignerin spielt mit Farben und Formen, um zu gefallen und um zu verführen. Mozarts Oper Le Nozze di Figaro spielt im leidenschaftlichen und dennoch präzisen Zusammenwirken der Künstler mit den Affekten der Zuschauer, peitscht sie auf, ist grandioses Welttheater; sie stellt Urmenschliches dar, abgründige Wahrheit und lauterste Freude, und sie reinigt die Seelen derer, die mitgehen.

Was ist das Spiel, und was hat es mit gelebter Spiritualität zu tun? Wie können wir vor Gott unser Leben spielend leben, ernst und verantwortlich, dennoch gelassen, ja heiter? Wie helfen uns ignatianische geistliche Formen, insbesondere die Exerzitien, zu einem spielend erfüllten Leben? Wie steht der spielende Mensch1 zu seinem letzten Lebensziel, wie steht er vor dem Ewigen? Um diese und ähnliche Fragen geht es in diesem Buch. Wenn es ein wenig hilft, das Leben spielend leicht und vor Gott erfüllt zu leben, hat es seine Absicht erreicht.

Kennzeichen des Spiels

Über das Spiel wurde viel nachgedacht: von Philosophen und Kulturanthropologen, von Theologen, Psychologen und Pädagogen, kaum übrigens von Frauen, wenig von spirituell Fragenden. Es gibt keinen allgemein gültigen Begriff, was das Spiel sei. Sprachgeschichtlich kommt »Spiel« von althochdt. »spil«, was ursprünglich wohl »Tanzbewegung« bedeutet. Jede Wissenschaft würde das Spiel anders definieren. Ich möchte zunächst einige Kennzeichen und Bedingungen des gelungenen Spiels darstellen; das misslungene und das missbrauchte Spiel spreche ich im nächsten Kapitel an. Danach versuche ich, den Begriff näher zu bestimmen, ohne wissenschaftlichen Anspruch und von vorneherein im Blick auf unser spirituelles Fragen – was das Nachdenken zwar beschränkt, aber auch zentriert.2

1. Das Spiel3 ist freies Handeln. Man ist nicht dazu gezwungen und könnte es auch lassen. In der Regel spielt man in der Freizeit. Vergnügen, ja Freude ist der Ursprung des Spiels und meistens auch sein Ziel. Es gibt individuelle und soziale Spiele, aber die Teilnehmer entscheiden sich immer frei zum Spielen.

2. Das Spiel unterbricht das normale Leben, es braucht eine ausgegrenzte Zeit und einen abgetrennten Raum. Das Spiel hat nicht den Ernst des Alltags, ist nicht die »wahre« Wirklichkeit, sondern »bloß« Spiel. Für manchen gilt es daher als minderwertig. Spielen ist »so tun als ob«, denn die Spieler verlassen ihre Alltagswelt und schaffen sich eine neue – künstliche, fiktionale – Welt, ein second life, eine ferne, manchmal gewollt einsame Insel der Seligen. Um ungestört im Spiel anzukommen, muss der oft allzu beanspruchte Mensch aus seiner Alltags- und Arbeitswelt aussteigen, also »sich die Zeit nehmen«, ja sie erkämpfen, bisweilen fluchtartig das Weite suchen. Manche Spieler verkleiden sich, um die Unterbrechung anzuzeigen, manche bilden um ihr Spiel ein Geheimnis.

3. Das Spiel ist zweckfrei. Es soll nicht unmittelbare Notwendigkeiten oder Bedürfnisse des physischen oder psychischen Überlebens befriedigen, sondern es ist – wenn diese befriedigt sind – ein Zusatz, ein Überschuss an Leben, ein Mehr. Das Spiel hat keinen Effekt und bringt kein Produkt, das man messen, verwalten, aufbewahren, nutzen, verkaufen könnte. Das Spiel macht Freude und stiftet Sinn; beides enthält es in sich selbst, mehr in seinem Vollzug als in seinem Ergebnis. Als biologische Funktion ist es entbehrlich – als geistige und soziale nicht. Theologisch könnte man das gelungene Spiel als Erfahrung der Gnade beschreiben.

4. Das Spiel ist wiederholbar. Es hat zwar Grenzen und findet ein Ende, ist aber mehrfach spielbar. Wer das Spiel wiederholt, erntet neue Freude, er ritualisiert das Spiel, vertieft und erweitert es. Zu oft wiederholt, erstarrt es jedoch, und man hat es »zu Tode geritten«. Überdruss verdirbt das Spiel, und man sollte es beenden, wenn es am schönsten ist. Viele Spiele haben schon in sich Elemente der Wiederholung.

5. Das Spiel kennt Ordnung und Regel, aber auch Übertretung und Freiheit. In der abgegrenzten Spielwelt gelten eigene Regeln. Die Spielergemeinschaft muss sich auf Regeln verständigen – Kinder sind oft äußerst erfinderisch im Gestalten eigener Spielregeln. Alle Spieler müssen die Regeln akzeptieren und die Ordnung befolgen. Innerhalb des Regelwerks gibt es Handlungsfreiheit, aber oft auch Druck, sich zu entscheiden, und zwar zielgerichtet und klug. Wer die Regeln heimlich übertritt, um sich Vorteile zu verschaffen, ist ein Falschspieler; manche Spiele sehen in gewissen Grenzen solche heimlichen Abweichungen, Koalitionen usw. vor und honorieren sie. Wer die Regeln offen übertritt, zerstört das Spiel, er ist ein Spielverderber. Der Spielverderber wird als unfair und unwürdig aus der Spielergemeinschaft ausgestoßen; hingegen wird mancher Falschspieler, oft insgeheim, bewundert und verehrt – ein Hinweis auf manche Doppelmoral im Spielen.

6. Das Spiel ist ästhetisch, im Doppelsinn des griechischen Wortes: sinnlich und schön. Zum einen ist jedes Spiel leiblich, körperhaft: Es spricht die Sinne an – das Hören und Schauen und Schmecken und Fühlen … – und über die Sinne die Affekte, den inneren Menschen; es packt den Spieler »im Bauch«, in seiner Erfahrung und Existenz. Zum anderen tendiert das Spiel immer in irgendeiner Weise zum Schönen, es will gefallen und Freude machen, soll Schönes abbilden und es gestalten. Das gilt nicht nur für die Spiele der Kunst, sondern auch für die des Sports und für Denkspiele, für Phantasiespiele und für sakrale Spiele. Das Spiel will bannen und bezaubern, hinreißen und verführen, es will Rhythmus und Harmonie zum Blühen bringen.

7. Das Spiel braucht Entspanntheit und schafft neue Spannung. Um zu spielen, brauchen wir einen entspannten Ort, an dem die Grundbedürfnisse gestillt sind und wir zur Ruhe kommen – weder hungrige oder kranke Kinder noch unterdrückte Völker spielen unbefangen. In der Entspannung entsteht jedoch neue Spannung: Die Leidenschaft kocht hoch, Wut oder Freude, Furcht oder Sehnsucht stauen sich bis zur Entladung; ein Wettkampf erregt sowohl Beteiligte wie Zuschauer, die Sinne und der Geist sind aufs Äußerste konzentriert, der Leib ist angespannt. Nach dem Spiel entspannen wir uns neu, zufrieden, erfrischt und freudig.

8. Das Spiel braucht Geborgenheit, Vertrauen, Glauben