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Elke Rüegger-Haller
Aufstehen und heilen
Missbrauch und Exerzitien

Ignatianische Impulse

Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ und Willi Lambert SJ, Band 35

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Elke Rüegger-Haller

Aufstehen und heilen

Missbrauch und Exerzitien

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2009 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Roberto Meraner
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-429-03100-8

Inhalt

Einleitung

1. Missbrauch – ein persönlicher Zugang

2. Gott in allem suchen und finden

Jesus und die Ehebrecherin (Joh 8,1–11)

3. Ignatius’ Umgang mit biblischen Texten

4. Jesus begegnen

Jesus segnet Kinder (Mk 10,13–16)

Jesus heilt eine Frau am Sabbat (Lk 13,10–13)

Jesus begegnet der Sünderin (Lk 7,36–50)

Jesus heilt einen Gelähmten am Teich Bethesda (Joh 5,2–7a.8f.)

Jesus heilt Bartimäus (Mk 10,46–52)

5. Aufstehen und weggehen

Jesus heilt die blutflüssige Frau (Mk 5,25–34)

Jesus erscheint Maria aus Magdala (Joh 20,11–18)

6. Berührt werden und liebende Aufmerksamkeit

7. Gelähmt sein

8. Vergeben und versöhnen

9. Wenn Missbrauchsüberlebende heilen

10. Missbrauchsüberlebende begleiten

Einleitung

Missbrauchserfahrungen und Exerzitien – das ist ein Thema, das sich nicht umfassend auf 64 Seiten abhandeln lässt! Aber es lässt sich Wichtiges dazu sagen, und das möchte ich versuchen. Aus mehreren Gründen habe ich dieses heiße Eisen angepackt. Noch immer wird es ja, nicht nur in kirchlichen Kreisen, weitgehend verschwiegen.

Zum einen bin ich selbst eine Überlebende. Ich möchte bewusst nicht von »Opfer« sprechen, sondern von »Überlebende«. Die Rede vom Opfer macht passiv, bringt Bedauern zum Ausdruck, auch ein wenig: »Da kann man eben nichts machen, damit muss man leben lernen.« »Opfer« betont auch das Wehrlossein. Ganz anders das Wort »Überlebende«: Es betont nicht nur die Dramatik der Verletzung, sondern auch die Kraft und den Mut der Frauen, mit diesem Trauma zu leben, sowie die aktive Auseinandersetzung damit, um sich aus der Opferrolle herauszuarbeiten.1 Fast drei Jahre lang wurde ich als junge Frau von einem Pfarrer sexuell missbraucht. Der Kirche und ihren Würdenträgern habe ich nicht den Rücken gekehrt – im Gegenteil: Heute bin ich selbst Pfarrerin.

Zum anderen habe ich für diese Missbrauchserfahrungen viel Heilendes erlebt auf dem Weg der Exerzitien des Ignatius von Loyola. Heute lebe ich in einer lebendigen und beglückenden Partnerbeziehung. Es gibt also Heilung – auch für dieses Trauma! Und eine lebensfördernde Spiritualität wie die ignatianische kann dazu wesentliche Hilfe leisten.

Jeder Mensch geht einen eigenen Heilungsweg, so dass sich der eine Weg nicht einfach auf andere übertragen lässt. Aber es gibt Gemeinsamkeiten; auf diese hinzuweisen ist hilfreich und wichtig. Oft sieht alles hoffnungslos auf diesem Heilungsweg aus, auch für den Partner oder die Partnerin, die das alles ja miterleben. Vielleicht denkt ein Partner manchmal:

»Manchmal hätte ich

wirklich gerne

eine Frau, bei der alles stimmt.

Ich möchte nach Hause kommen,

und sie ist da,

sieht frisch und ausgeglichen aus,

es duftet nach Kuchen …

Stattdessen kommt sie mir entgegen,

total schlampig,

und muss mir unbedingt

von einer neuen Erinnerung erzählen.

Sie ist keine von diesen fröhlichen, adretten Frauen

aus dem Fernsehen.«2

Missbrauchsüberlebende brauchen neben dem Begleitetwerden auch Menschen, die einfach zuhören, am besten solche, die selbst erlebt haben, was es heißt, Überlebende zu sein. Selbsthilfegruppen oder auch Bücher mit Erfahrungsberichten können beim Dranbleiben helfen und ermutigen, weiterzugehen: »Stecke genauso viel Energie und Entschlossenheit in deine Heilung wie in dein Überleben in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren.« So schreibt Dorianne, eine 35-jährige Überlebende.

»Lauf nicht davor weg. Vergrab es nicht. Versuch nicht, eine neue Realität zu schaffen, indem du dich in irgendetwas hineinsteigerst oder dich durch deine Gefühle hindurchfrisst. Schneid dir nicht die Pulsadern auf. Pack das einfach an, denn es kommt sowieso immer wieder, wenn du weiterlebst. Es tut weh, aber du musst weitermachen. Das gehört einfach zu deinem Leben.« So Soledad, eine 28-jährige Überlebende.3

Zwischenzeitlich begleite ich selbst Menschen auf dem Exerzitienweg – auch Überlebende. Oft bin ich schockiert, wie viele Frauen sexuellen Missbrauch erlebt haben. Immer wieder höre ich: »Ich gehöre auch dazu« – oder: »Das habe ich auch erlebt.« Was noch dazukommt: Nicht jede Frau weiß von ihrem Missbrauch, manche entdeckt ihn erst, wenn sie anderen zuhört oder ein Buch liest oder einen Text meditiert. Missbrauchserfahrungen sind oft ganz tief in uns verschlossen! Versteckt und verdeckt, und wenn sie dann angestoßen werden, kommen sie oft eruptiv. Was wir erlebt haben, ist tief in unserem Körper gespeichert – auch wenn wir das nicht (mehr) wissen (wollen).

Ich bin Pfarrerin und vertrete entschieden eine Erfahrungstheologie. Was ich theologisch denke und weitergebe, muss sich in der Wirklichkeit überprüfen lassen. So prägen die Erfahrungen meine Theologie – Theologie und Leben stehen in einem ständigen Austausch und beeinflussen sich gegenseitig. Auch Ignatius war ein Erfahrungstheologe, daher fasziniert er mich immer wieder. Mit seinen Exerzitien half er biblische Texte erfahrbar zu machen und unser Leben ins Gespräch mit biblischen Geschichten zu bringen. Biblische Texte erleben kann jeder und jede, nicht nur die, die Theologie studiert haben. Er schreibt selbst: »Denn wenn der Betrachtende die wahre Grundlage der Geschichte so kennenlernt, dass er selbständig sie überdenken und auf ihren Grund dringen kann, und wenn er dabei irgendetwas findet, was die Geschichte ein wenig mehr erhellt und kosten lässt – mag dies nun durch eigenes Eindringen sein oder sofern die Einsicht durch göttliche Kraft erleuchtet wird –, so gewährt dies mehr Geschmack und geistliche Frucht, als wenn der, der die Übungen gibt, den Sinn der Geschichte viel erklärt und ausgeweitet hätte; denn nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Genüge, sondern das Fühlen und Kosten der Dinge von innen« (EB 2).4 Einige Beispiele für das Erleben biblischer Geschichten werde ich später breiter entfalten.

Ich zitiere mein Erleben, um das Geschehen Missbrauch zu verdeutlichen. Mit »Missbrauch« meine ich vor allem »sexuellen Missbrauch«. Vieles hier Beschriebene gilt auch für andere Formen des Missbrauchs, verstanden als Ver-Gewaltigung menschlicher Würde. Betroffen von Missbrauch sind mehrheitlich Frauen, doch selbstverständlich werden auch Männer missbraucht.