image

Elmar Mitterstieler

Das wunderbare Licht, in dem wir leben

Elmar Mitterstieler

Das

wunderbare Licht,

in dem

wir leben

Gleichheit, Würde
und Priestertum
aller in der Kirche

images

Zugeeignet allen,
denen das eine priesterliche Volk Gottes
am Herzen liegt
.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

2. überarbeitete Auflage 2012

Inhalt

Vorwort

Einführung

1. Eine Bewusstseinslücke und ein Ressentiment

2. Eine neue Gesellschaft: Wert und Würde aller

Priester im Neuen Testament

1. Der Hebräerbrief: Der eine Priester, das eine Opfer und die Opfer der Christen

2. Im Gefolge von Ex 19,4–6

a) 1. Petrusbrief

b) Priester in der Offenbarung des Johannes

3. Kultisch-priesterliche Bildsprache im übrigen Neuen Testament

4. Älteste, Vorsteher, Episkopen, Hirten, Leiter von Gemeinden

5. Beginnender Wandel im Opfer- und Priesterverständnis in der Folgezeit

Aus Wasser und Geist zu Priestern geweiht

Freier Zugang

1. Freier Zugang für alle

2. Abba – Vater

3. Karl Rahner: »Die Würde deines Gebetes«

4. Methoden reichen nicht

5. Thérèse Martin: Ein ganz kleiner Weg

6. Priesterliche Vollmacht

Selbstgabe

1. Gott ist Selbstgabe

2. Das Opfer Jesu: sein Priestertum einzigartiger Selbstgabe

3. Unsere Opfer: unser Priestertum der Selbstgabe im Alltag

4. »ihr ganzes Leben«

5. Unsere und der Kirche Selbstgabe in der Liturgie der Kirche

Vergebung

1. Das christliche Priestertum dient nicht der Versöhnung Gottes

2. Gott versöhnt von Mensch zu Mensch

3. Die Alltagsmünze unseres Glaubens

4. Vergebung ist Ostern

5. Ungerechte Fesseln lösen

Verkünden

1. Der »Geist der Verkündigung« in allen

2. Seid, was ihr seid!

3. Im Konkreten des Alltags

4. Liturgie und Pastoral

5. Die Frauen

6. Verkündigen und Heilen

Vermittlung

1. Vermittlung in den Evangelien – ein Modell

2. Fürbitte ist liebevolle Zuwendung

3. Fürbitte im Alltag

4. Fürbitte in der Liturgie

5. Liebe: Die Vermittlung, die wir selber sind

6. Die Vermittlungskompetenz der Kirche

Könige und Propheten

1. Prophetinnen und Propheten

2. Herrschen

3. Würde

4. Verantwortung

Der Presbyter im priesterlichen Volk

1. Presbyter

2. Mich tröstet, was ich mit euch bin

3. Mit euch bin ich Christ

a) Aus Wasser und Geist

b) Freier Zugang in Unmittelbarkeit

c) Selbstgabe

d) Vergebung

4. Die Gnade und das Heil – Zur Spiritualität des »Weltpriesters«

Sigel

Anmerkungen

»Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht,
eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm,
ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde,
damit ihr die großen Taten dessen verkündet,
der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht
gerufen hat« (1 Petr 2,9)
.

»Christus liebt uns …
er hat uns die Würde von Königen gegeben
und uns zu Priestern gemacht
für den Dienst vor seinem Gott und Vater« (Offb 1,5f.)
.

 

 

Vorwort

Vor 35 Jahren durfte ich, wenige Jahre nach meiner eigenen Weihe zum Presbyter, einige jüngere Mitbrüder in den Exerzitien vor ihrer Weihe begleiten. Ich erinnere mich aus diesen Tagen einzig und allein an eine Frage, die mir einer von ihnen stellte: »Warum redest du so viel von der Taufe? Wir bereiten uns doch auf die Priesterweihe vor!« Ich habe demnach meine Sichtweise auf das grundlegend Gemeinsame hin anscheinend schon sehr früh entwickelt. Sie hat mich begleitet, mich beschäftigt und sich durchgehalten auch durch 20 Jahre Spiritualstätigkeit in mehreren Priesterseminarien und ist bis heute in mir da, und zwar dringlicher denn je. Diese Sicht ist es auch, die zu der vorliegenden Veröffentlichung drängt, die immer das Gemeinsame – das Menschsein und das Christsein – als Grundlage und Quelle aller Differenzen, aller verschiedenen Berufungen und Dienste im Auge zu behalten sucht, um daraus zu leben, um daran Maß zu nehmen und Orientierung zu finden.

Mit jeder Seite, ja mit jeder Zeile des vorliegenden Buches erfülle ich mir einen lang geträumten Wunsch. Meiner inneren Vorstellung nach möchte es schon seit vielen Jahren geschrieben sein. Vielleicht ist nun doch der gegenwärtige Zeitpunkt günstig, da er uns zu manchem Umdenken zwingt. Ich bin überzeugt, dass es hoch an der Zeit ist, ernsthaft und konsequent in Reflexion und Gebet, im diskursiven Gespräch, in Leitung und Gemeinde dem hier angesprochenen Thema nachzugehen.

Uns allen in der Kirche, Großen und Kleinen, ist bezüglich unseres gemeinsamen Priestertums – sit venia verbo – der »Floh« des Neuen Testaments und des Zweiten Vatikanischen Konzils »in den Pelz gesetzt«. Er meldet sich ja immer wieder im Laufe der Kirchengeschichte, und er meldet sich wiederum gerade in unseren Tagen, ermutigt eben durch das letzte Konzil – von manchen abgeschüttelt oder möglichst gar nicht bemerkt; für manche unangenehm und möglicher Infektion verdächtig; für viele freilich immer noch so etwas wie ein kleiner Gefährte, der nicht aufhört, sich in Erinnerung zu bringen, mit Hoffnung verbunden. Man mag ihn nicht beachten wollen, man mag sich daran reiben oder ihn begrüßen. Ich selbst meine jedenfalls entschieden, dieser neu erwachten »Irritation« nachspüren und einen Verständnisvorschlag anbieten zu sollen. In der Tat geht es bei dem, was uns da in den Pelz gesetzt ist, um ein Geheimnis der »Kleinen« (Mt 18,10), die wir alle sind, Große und Kleine ausnahmslos, und damit wesentlich um die Art und Weise, wie wir Ferment und Sauerteig sind in der Welt. Wir könnten auch sagen, es handelt sich um einen verschwundenen Fluss, dessen Wiederauftauchen die Kirche im letzten Konzil wahrgenommen und als Quelle neuen Lebens zu fassen begonnen hat.

Die folgenden Seiten beanspruchen nicht mehr, als ein Versuch zu sein. Ein Versuch, den ich sehr dringlich ins Gespräch oder zur Diskussion stellen möchte. Denn ich bin überzeugt, dass dieses Anliegen unter uns allen in der Kirche schon geraume Zeit in Bewegung kommen will.

Zu besonderem Dank bin ich meinem Freund Univ.-Prof. Dr. Martin Hasitschka SJ, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät Innsbruck, verpflichtet, der mir seine sorgfältigen exegetischen Arbeiten – zum Großteil noch vor ihrer Drucklegung – großzügig zur Verfügung gestellt hat. Ohne die verlässlichen Ergebnisse dieser Arbeiten wäre mir die Abfassung des vorliegenden Buches nicht möglich gewesen. Den vielen, im Orden und außerhalb, die mich durch Ermutigung und Anregungen unterstützt haben, bin ich sehr zu Dank verpflichtet, auch wenn ich sie hier nicht namentlich nennen kann.

Einführung

1. Eine Bewusstseinslücke und ein Ressentiment

Unser Bewusstsein, so lebendig und weit es sein mag, weist doch immer auch Lücken auf. Es ist wie eine Landschaft, die wir täglich in Licht und Schatten durchwandern, deren größerer Teil jedoch im Dunkeln, im Untergrund, am Grunde des Meeres liegt – je tiefer, desto weniger sichtbar. Wir verdrängen. Wir vergessen. Wir kennen uns weithin selbst nicht. Sehr ausgedehnte und wichtige Anteile unseres Selbst sind unserem Bewusstsein nicht oder nur auf dem Wege eines lange andauernden und oft schmerzhaften Prozesses neuer Aufmerksamkeit zugänglich. Vieles von dem, was dem Kind noch bewusst war und was es erlebt hat, ist abgesunken und kann oft nur mühevoll wieder zu Tage kommen. Umgekehrt lag vieles, was der Erwachsene in sich selbst entdeckt, noch außerhalb des kindlichen Bewusstseins. Und so kann auch, was einmal ans Tageslicht des Erwachsenenbewusstseins kam, wieder auf den Grund absinken. Es gibt auch die Dinge, die wir bewusst nicht mehr wissen wollen und deshalb zur Seite schaffen, die wir ad acta legen und nicht mehr anschauen wollen, weil es weh tut, dass sie niemals wirklich eine Chance bekommen haben. Mit einem Wort, unser Bewusstsein weist oft erhebliche Lücken auf, die nicht selten auf etwas Wichtiges hinweisen, das sich unter dem Bewusstseinsspiegel verbirgt.

Solches Vergessen und solche Verdrängungen gibt es auch in Gemeinschaften und größeren sozialen Gebilden. Man vergisst und verdrängt prekäre Phasen der Vergangenheit. Man vergisst und verdrängt aktuelle Probleme. Man will übernommene historische Aufgaben und Verpflichtungen nicht wahrhaben. Man kann oder mag die eigene Identität nicht mehr recht erkennen und begreifen. Plausibilitäten büßen ihre Einsichtigkeit ein und schwinden. Übereinkünfte verlieren an Wirksamkeit und Substanz.

So kann es auch in religiösen Gemeinwesen geschehen, z.B. in Bezug auf den aktuellen Zugang zu einem wichtigen Charisma einer Ordensgemeinschaft. Selbst in der Kirche kann über ganze Zeiträume hin manches unter oder bis nahe an die Bewusstseinsgrenze absinken. Sie verliert dabei freilich nicht die Integrität der Wahrheit, die ihr verheißen ist. Doch ist sie deshalb vor einseitigen Akzentuierungen und auch längerfristigen Bewusstseinseinschränkungen und Verdrängungen1, bedingt durch ihren menschlich-geschichtlichen Weg, nicht gefeit und kann so in mancher Hinsicht auch über größere Zeiträume an Lebendigkeit einbüßen – was wohl z.B. Johannes XXIII. damals empfand, als er es in Verbindung mit dem von ihm einberufenen Zweiten Vatikanum für notwendig erachtete, die Fenster der Kirche zu öffnen.

Eine solche Lücke in unserem christlichen Bewusstsein begegnet uns bei jeder Taufe. Sie wird jedes Mal angerührt durch die Worte, die begleitend zur Salbung der Getauften mit dem Weiheöl der Kirche, dem (besonders bei Taufe, Firmung, Ordination bedeutsamen) »Chrisam« gesprochen werden; Worte, die eine erste Ausdeutung dessen sind, was soeben in der Taufe geschah: »Aufgenommen in das Volk Gottes wirst du nun mit dem heiligen Chrisam gesalbt, damit du für immer ein Glied Christi bleibst, der Priester, König und Prophet ist in Ewigkeit.«2 Hier wird den Getauften etwas zugesprochen, das nur spärlich in unser christliches Bewusstsein hinein entfaltet wird. Und wenn, dann eher im Sinne eines daraus folgenden Verpflichtungscharakters als im Sinne einer Sein und Würde schenkenden Wirklichkeit.

Dass wir, jede und jeder Getaufte, durch unsere Gemeinschaft mit Christus Priester sind und Könige und Propheten – wo oder wie begegnet uns das? Und wo oder wie erfahren und erleben wir es? Es sind Worte, die kaum einen Widerhall finden in unserer christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit, die meist wie ungehört in uns wieder verklingen, die nicht eingelöst werden und in unseren Gemeinden und Gemeinschaften, ja im Raum der Kirche überhaupt allzu oft keine wirkliche Rolle spielen.

Im Zuge des Fensteröffnens hat das Zweite Vatikanische Konzil3 diese de facto weithin verschollene Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein gebracht: »Christus der Herr … hat das neue Volk ›zum Königreich und zu Priestern für Gott und seinen Vater gemacht‹ (vgl. Offb 1,6; 5,9–10). Durch die Wiedergeburt und die Salbung mit dem Heiligen Geist werden die Getauften zu einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum geweiht …« (LG 10). Uns allen wird hier im Rückgriff auf die Hl. Schrift zugesagt, wer und was wir durch die Taufweihe sind. Wunderbares, das an uns durch die Taufe geschehen ist und geschieht, wird wie aus einer Vergessenheit für uns alle wieder ins Wort und ans Licht gebracht.

Dennoch wurde vom kirchlichen Amt aus bis in die jüngste Zeit vielfach nicht sehr gerne vom gemeinsamen Priestertum aller Glaubenden gesprochen. Man fürchtet(e) wohl unter anderem, am eigenen Ast zu sägen durch einen eventuell damit verbundenen Achtungsverlust vor dem amtlichen Priestertum, seinem Sinn und seiner Notwendigkeit – was sich wiederum, so weiter die Befürchtung, hemmend auf den ohnehin schon geringen Priesternachwuchs auswirken könnte. Ich selbst bin freilich keineswegs der Meinung, dass dies – jedenfalls auf weitere Sicht – der Fall wäre. Denn das Bewusstsein und die Nutzung des Reichtums und der Fülle unseres Christseins können das Leben der Kirche und die Freude am Dienst nur fördern.

Doch immer häufiger leiden wir heute innerkirchlich an einem »wechselseitigen Ressentiment« zwischen Priestern – »Lieblingssöhnen«, denen es freilich nicht mehr so gut geht und deren Zahl trotz vieler Bemühungen bei uns jedenfalls stark rückläufig ist – und »Laien«, die »permanent in einem sekundären Status« mit mangelnder Letztverantwortung sind. Zweifellos ist diese nun schon Jahrzehnte andauernde spannungsgeladene Situation nicht zuletzt bedingt durch fundamentale Wandlungsprozesse in unserer (westlichen) Gesellschaft, in denen sich z.B. die Wahrnehmung von Autorität zu Gunsten von Authentizität verändert (hat) und demokratisch-gleichrangige Verfasstheiten mehr und mehr an die Stelle von hierarchischen und Standesordnungen getreten sind. Diese Entwicklung kann und konnte nicht an der Kirche, die ja in diesem Äon und seinen Epochen lebt, und an ihren Menschen vorbeigehen.

Das Zweite Vatikanum hat – gewiss u.a. auch in Wahrnehmung solcher gesellschaftlicher Wandlungen – alle in der Kirche ohne Ausnahme in dem einen »Volk Gottes« zusammengeführt und geeint, wenn auch diese Einigung noch vieler Bewusstseinsarbeit und Willigkeit bedarf. Und in diesem Volk haben alle, auch die, die nicht Amtsträger oder Ordensleute sind, »zu ihrem Teil« einen pastoralen, einen Hirten-Auftrag für die Welt und für einander. Denn sie sind »durch die Taufe Christus einverleibt, zum Volk Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig« (Lumen gentium Nr. 31). Wenn auch die Ausdrücke »auf ihre Weise« und »zu ihrem Teil« sozusagen im selben Atemzug um die Abgrenzung zum Presbyterat bemüht sind, so ist hier doch ein unerhört großer Schritt getan. Denn jede/-r Getaufte hat, so die Sicht des Zweiten Vatikanums, ganz schlicht und ohne Wenn und Aber an der Fülle des königlich-priesterlichen und prophetischen Amtes Christi teil!4 Trotzdem und vielleicht gerade deshalb besteht noch immer viel Ressentiment beiderseits. Ich bin überzeugt, dass ein gutes Stück des Weges in einer anspruchsvollen, weil wesentlichen Besinnung auf das Gemeinsame liegt. Einen gewissen Impuls zur Bewusstmachung gibt z.B. Papst Benedikt XVI. selbst in seinem Schreiben zum Jahr des Priesters, in dem er zwar das amtliche Priestertum in seiner Bedeutung überaus stark herausstellt, jedoch auch dazu einlädt, das gemeinsame Priestertum aller mitzubedenken, und die Gelegenheit nützt, um »das Feld der Zusammenarbeit zu betonen, das immer mehr auf die gläubigen Laien auszudehnen ist, mit denen die Priester das eine priesterliche Volk bilden und in deren Mitte sie leben, um kraft des Weihepriestertums alle zur Einheit in der Liebe zu führen, ›indem sie in Bruderliebe einander herzlich zugetan sind, in Ehrerbietung einander übertreffen‹ (Röm 12, 10). In diesem Zusammenhang ist an die lebhafte Aufforderung zu erinnern, mit der das Zweite Vatikanische Konzil die Priester ermutigt, die Würde der Laien und die bestimmte Funktion, die den Laien für die Sendung der Kirche zukommt, wahrhaft [zu] erkennen und [zu] fördern … Sie sollen gern auf die Laien hören, ihre Wünsche brüderlich erwägen und ihre Erfahrung und Zuständigkeit in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Wirkens anerkennen, damit sie gemeinsam mit ihnen die Zeichen der Zeit erkennen können.«5

Sosehr diese Worte auch angesiedelt sind innerhalb der strengen Gliederung von Presbytern und »Laien«, so ist damit auch von amtlicher Seite die Begegnung mit dem Thema dieses Buches angesagt. Die Zeit dafür ist reif.

Ein wichtiger Punkt – allzu oft eine unserer Bewusstseinslücken – muss in diesem Zusammenhang noch genannt werden. Wenn wir unser gegenwärtiges konkretes Leben betrachten, ist nicht zu übersehen, dass unsere »Gesellschaft ihre Geschlechterordnung umbaut, und zwar ohne Zweifel in Richtung so urchristlicher Werte wie Gerechtigkeit und Fairness«, und dass dies den Druck der erwähnten Spannung wohl erheblich verstärkt. Wir können kirchlich nicht daran vorbeischauen. Werden wir uns positiv zuwenden und öffnen können, in Konsequenz der Haltung des Zweiten Vatikanums? Dieser »Umbau« betrifft nicht nur die größere Hälfte der Kirche, sondern uns alle. Er kann zwar im Zusammenhang dieses Buches nicht ausdrücklich zum Thema werden. Denn mir ist bewusst, dass ich strukturell keine Lösungen anbieten kann. Aber der Weg in Offenheit und gemeinsamer Bewusstseins- und Erfahrungsbildung ist zu gehen, und was da werden will, geht in allem, was ich zum »Gemeinsamen« und »Gleichen« und seiner Bewusstwerdung sagen möchte, mit.6

Besonders schwer wiegen die Bewusstseinslücken und Vergessenheiten im Bereich der menschlichen und christlichen Würde. Dementsprechend weiß sich dieses Buch, soweit es nur vermag, dem biblischen »Ethos und Pathos unbedingter Würdigung«7 verpflichtet.

2. Eine neue Gesellschaft: Wert und Würde aller

»Eine neue Gesellschaft ist zu errichten für das Menschengeschlecht, dem eine neue Würde und eine neue Zukunft geschenkt wurde, als der Sohn Gottes in Maria Mensch wurde und für die Sünden seines Volkes starb. In dieser neuen Gesellschaft – die nicht größer ist als ein Senfkorn und doch so kraftvoll und wirksam wie ein Sauerteig – behauptet jeder Mensch seinen unantastbaren Wert und seine Würde als Individuum.«8

Basil Hume OSB (1923–1999; Abt, Erzbischof von Westminster und Kardinal)

Seit Jahrzehnten bewegt und beschwert es mich, dass dem christlichen Volk zu großen Teilen eine Zusage und eine Berufung nicht wirklich bewusst werden kann, die zu seiner Identität, seinem Leben und seiner Würde unabdingbar gehört: nämlich sein Priestertum. Es handelt sich um das Priestertum des ganzen Volkes und um das Priestertum eines jeden und einer jeden Einzelnen darin. Die Bedeutung und Würde dieses Priestertums wird in der Schrift sogar durch das Wort »königlich« unterstrichen. Königliches Priestertum des ganzen christlichen Volkes und aller Einzelnen! Und so spärlich im Bewusstsein!

Der Schmerz richtet sich als Erstes weniger auf das »königlich«, denn es geht ja nicht darum, hoch hinauszuwollen. Er richtet sich zunächst und vor allem auf das wenig zur Geltung gebrachte Priestertum aller Glaubenden, das, wie schon gesagt, eher unbewusst und verdrängt erscheint, nur mit wenig Spielraum und Kompetenz in seiner Bedeutung wahrnehmbar. Das »königlich« ist freilich dann doch wieder insofern wichtig, als es deutlich auf die besondere und hohe, jedoch weithin wenig gewürdigte Würde aller Glaubenden aufmerksam macht.

Wie ist es möglich, dass eine solche Kostbarkeit vergessen oder verdrängt wird? Es ist nicht meine Absicht, dem ganzen geschichtlichen Werdegang nachzugehen. Offensichtlich ist, dass jedenfalls in der römisch-katholischen Kirche das Wort »Priester« seit langer Zeit besetzt, d.h. so gut wie ausschließlich in Gebrauch ist für jene, die durch entsprechende Ordination und Bestellung mit diesem Amt betraut sind. Auch dem Inhalt nach ist vieles vom gemeinsamen Priestertum des ganzen Volkes von da in den amtlichen Bereich der Kirche gewandert. Manches davon wird, so hoffe ich, im Lauf der Lektüre deutlich werden. Viel auch von der Würde aller hat sich dorthin bewegt. Dabei geht es keineswegs um äußere Würdezeichen und Insignien, sondern um das beglückende Wissen des Volkes Gottes, wer es in Christus ist und welchen Wert und welche Bedeutung es vor Gott und in der Welt und für die Welt hat. Nicht selten bestätigt ein Blick in die Gemeinden den Mangel eines solchen Sinn gebenden Bewusstseins.

Viele Christen freilich kommen dem entgegen und möchten gar nicht »mehr«, allzu oft, weil sie nicht wissen (durften?!), wer sie sind. Sie möchten einfach vieles abgeben und delegieren und möchten z.B. zur eigenen Entlastung Priester für sich bestellen oder bestellen lassen, damit diese tun, was den »normalen« Menschen und Christen zu überfordern scheint. Aber kann es denn wirklich sein, dass man das amtlich fördern oder gar für die eigene Position nützen will? Das Zweite Vatikanum hat das Priestertum des ganzen Volkes Gottes wieder bewusster zu machen und hervorzuheben begonnen. Wenn es eine Entfaltung des Offenbarungsund Lehrgutes in der Kirche gibt – und es gibt sie! –, dann ist auch selbstverständlich damit zu rechnen, dass es eine positive Geschichtlichkeit im Sinne einer Entfaltung des christlichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins geben darf, und zwar ebenso gebieterisch und vorangetrieben durch den Geist Gottes wie aus der Sache selbst heraus. Und ebenso selbstverständlich gilt hier wie dort, dass der Geist der Zeit und das Lebensgefühl und der Bewusstseinsstand der Menschen dabei sehr wohl eine Rolle spielen. Die jüngsten Ereignisse haben uns gezeigt, wie sehr die Kirche auch angewiesen ist auf die Sensibilität und klärende Hilfe »von außen«. Es gibt ja in unserer Zeit ganz allgemein ein sehr breites und waches – freilich ebenfalls nicht selten versagendes – Bemühen um Wert, Würde und Recht von Völkern, Volksgruppen/Ethnien, Gemeinwesen bis hin zum einzelnen Menschen, das gegenseitige Anregung und Hilfe, Korrektur und Zusammenarbeit ermöglicht.

Gerade dieses letzte Konzil hat uns auf manches positive Zusammenspiel zwischen dem Leben der Kirche und dem Leben und den Bestrebungen der Menschen in ihrer profanen Alltagswelt achten gelehrt und hat dem mit großer Wachheit und Einfühlung positiv Rechnung getragen. Es hat »die Zeichen der Zeit« gesehen und verstanden und hat dies in Worten zum Ausdruck gebracht, die bis heute ihre Kraft nicht eingebüßt haben: Die Jünger Christi teilen »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art … Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet« und »erfährt … sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden« (GS 1). Der Kirche obliegt »allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten … Schritt für Schritt entdeckt (der Mensch) die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und weiß doch nicht, welche Ausrichtung er ihm geben soll« (GS 4).

Die Kirche steht also nicht nur Entwicklungen gegenüber, sie steht auch selbst, ebenfalls suchend nach Sinn und Ausrichtung, mitten in diesen Prozessen. Und sie weiß das. Sie hat sich im Zweiten Vatikanum, die gesellschaftlichen Veränderungen positiv aufgreifend, bewusst als »Volk Gottes« verstanden – mit einem biblischen Begriff, der das bis dahin bevorzugte biblische Bildwort »Leib Christi« weitestgehend ablöste. Es ist ja durchaus so, dass uns durch »Zeichen der Zeit« sehr oft erst die Augen geöffnet werden für das, was Gott uns heute jeweils durch die Schrift aktuell sagen will. »Volk Gottes« also werden wir genannt – nicht mehr im Sinne eines Volkes, das seiner Leitung (den Häuptern sozusagen) gegenübersteht, sondern als ein Volk, zu dem auch die Glieder der Leitung grundsätzlich gleich in gemeinsamer Berufung gehören. »Volk Gottes« wird der »Grundlagenbegriff der Kirche … Das gilt für alle in der Kirche und alle haben grundsätzlich gleichen Anteil an diesem Volk.« Doch indem sie so die Gesetze ihres eigenen Lebens neu entdeckt, hat die Kirche zwar die Deutlichkeit der Konzilsworte und ist doch wiederum suchend und »weiß doch nicht, welche Ausrichtung« sie nun diesem ihrem Leben »geben soll.« Sie musste und muss die ganze Mühe und Länge der Nachkonzilszeit durchwandern und vermag immer noch nicht in allen ihren Lagern Freude zu finden an der Aufwertung des Menschen- und des Christenwertes, die durch das Zweite Vatikanum geschehen ist. Sonst müsste nicht ein Buch wie dieses geschrieben werden als ein Plädoyer für diese Freude.9

Die Frage nun nach der Christenwürde, der ich auf diesen Seiten nachgehe, bezieht sich naturgemäß zunächst auf den Raum des Christentums, den Raum der christlichen Kirchen, speziell auf den der römisch-katholischen Kirche. Doch die Würde, die Menschen in einem bestimmten Bereich, z.B. hier in Religionsgemeinschaften, gewinnen, hat Bedeutung für die wachsende Gewinnung der Menschenwürde und ihre Sicherung überhaupt. Beide haben einander etwas zu geben. Die Menschenwürde nimmt die Christenwürde unter ihren Mantel und umgekehrt: Die Erkenntnis unserer Würde als Christen durch Jesus – unsere Jesus-Würde – macht uns zugleich sensibel für unsere Würde als Menschen und für die allzu oft »anonyme«, ja oft sogar entwürdigte Würde aller Menschen in und mit ihm.