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Der fremde Gott

Hans-Joachim Höhn

Der

Hans-Joachim Höhn

fremde

Glaube in postsäkularer Kultur

Gott

echter

© 2008 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund (Abbildung: Clyfford Still, 1953, PH-253,
236 × 174 cm, Öl auf Leinwand, © The Clyfford Still Estate;
Foto von Tate Images, London)
Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn
Druck und Bindung: Druckerei Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-429-03043-8

Vorwort

Die Verkünder einer „Renaissance der Religion“ sehen sich seit einiger Zeit ermutigt, auf die leeren Gräber der Religionskritik zu verweisen. Sie können sich dazu auf Meldungen berufen, wonach das Religiöse längst jene Totengruft verlassen hat, aus der Nietzsche & Co bereits seinen Modergeruch strömen glaubten. Es hat sein „Nachleben“ mit bemerkenswerter Vitalität angetreten und ist über seine angestammten frommen Refugien hinaus in die mediale und politische Öffentlichkeit vorgedrungen. Aber trotz solch offenkundiger Säkularisierungsresistenz gelingt es den Verfechtern der Religion nicht, ihren einstigen Widerpart loszuwerden. Binnen kurzer Zeit hat sich gegen die Rede von ihrer Wiederkehr die Bewegung eines „Neuen Atheismus“ öffentlichkeitswirksam zurückgemeldet. Für seine Wortführer gilt als ausgemacht, dass die Moderne nur deswegen genötigt ist, noch einmal auf Religion Bezug zu nehmen, weil der erste Versuch ihrer Überwindung vergeblich war. Erneut verknüpfen sie ihr Plädoyer mit einer Prognose: Gibt man der Aufklärung – nunmehr in der Gestalt eines evolutionstheoretisch grundierten und soziobiologisch formatierten Naturalismus – eine zweite Chance, wird sich die Haltlosigkeit religiöser Weltbilder und Praktiken ein weiteres Mal und diesmal wohl definitiv erweisen.

Die Theologie macht es sich zu leicht, wenn sie den „neuen“ Atheisten bescheinigt, dass ihre Argumente weitgehend dem bekannten Repertoire der religionskritischen Klassiker der Neuzeit entnommen sind, deren begrenzte Überzeugungskraft man schon hinreichend dargelegt habe. Ihre Wiederauflage zwingt gleichwohl zu einer erneuten Auseinandersetzung. Nachdenklich machen sollte nicht zuletzt der enorme publizistische Erfolg, den diese Kritiker für sich verbuchen. Es scheint in unserer Gesellschaft eine erhebliche Nachfrage nach einer „Delegitimation“ von Religion zu bestehen, obwohl zuvor ein beträchtlicher Bedarf an spirituellen Ressourcen diagnostiziert worden war. Ungebrochen ist offensichtlich das Interesse an einem finalen Aufweis, dass es nichts auf sich hat mit religiösen Welt- und Daseinsdeutungen, so dass man sich guten Gewissens eine erneute Beschäftigung mit ihrem Geltungsanspruch ersparen kann. Und zugleich besteht eine ebenso große Skepsis, ob der Mensch vorankommen kann, wenn er alles Religiöse abstreift und hinter sich lässt.

In der Gottesfrage erfahren diese beiden widerstreitenden Tendenzen eine besondere Zuspitzung. Die gegenwärtige Kritik der Religion legt die Verzichtbarkeit und Entbehrlichkeit des Gottesgedankens nahe, indem sie zeigt, dass selbst dort, wo die Religion sich scheinbar als nützlich und unentbehrlich präsentiert, funktionale Alternativen aus dem Bereich der säkularen Moral, Ästhetik und spirituellen „Diätetik“ verfügbar sind. Dem Gottesbezug scheint somit keine konstitutive oder alternativenlose Bedeutung zur Bewältigung innerweltlicher Herausforderungen und Probleme zuzukommen. Dem kann auch die Theologie nicht uneingeschränkt widersprechen. Denn sie plädiert ihrerseits dafür, dass ein Verhältnis zu Gott missverstanden wird, wenn man seine Bedeutung nur oder primär anhand seiner für das Individuum wohltuenden Wirkungen oder seiner für die Gesellschaft nützlichen Folgen ermessen und daran seine Relevanz ablesen will. Nützlichkeit kann nicht der erste, alleinige oder letzte Maßstab eines Verhältnisses zur Wirklichkeit, zu den Mitmenschen oder zu Gott sein.

Allerdings folgt aus dieser Position ein weiteres, für die Theologie nicht weniger prekäres Problem. Wenn Gott zunächst um seiner selbst willen es wert ist, ein Verhältnis zu ihm zu haben, und nicht wegen einer Funktion, die dieses Verhältnis mehr oder weniger gut erfüllt, was unterscheidet dann ein Gottesverhältnis letztlich von einer Beziehung zu einer für die menschliche Lebenspraxis völlig belanglosen Größe? Ist das Belanglose nicht identisch mit dem Unnützen, Wertlosen, Überflüssigen? Wenn ein Gottesverhältnis nicht als Mittel taugt für das Erreichen lebenspraktischer Ziele und Zwecke, sondern ein Verhältnis zum Unverzweckbaren darstellt, wie kann man zeigen, dass es nicht belanglos oder folgenlos ist, sich für das Unverzweckbare zu interessieren? Wenn ein Gottesverhältnis im Kontext zweckrational organisierter Lebensverhältnisse ein „Fremdkörper“ bleibt, wie lässt sich vermeiden, dass dann das Reden von ihm nur in einer unverständlichen „Fremdsprache“ erfolgt?

Wie die Theologie das Sprechen von Gott angesichts der Bestreitung seiner Relevanz für innerweltliche Herausforderungen rechtfertigen kann, ist die Grundfrage der vorliegenden Studie. Mit ihr gekoppelt ist die existenzielle Frage, wie ein Gottesverhältnis gelebt werden kann, das bereits sprachlich „befremdet“. In der Aufnahme dieser Fragen will diese Studie sowohl im Blick auf die theologische Zunft als auch im Blick auf die Religionskritik in die Kunst der Bestreitung einführen. Bestreiten heißt: Vorbehalte anmelden, Selbstverständlichkeiten in Frage stellen, einen Konsens aufkündigen, Revision beantragen, eine Sache neu aufrollen.

Bestritten wird die Berechtigung eines theologischen Redens von Gott, das ihn ohne eine Welt denken will, die auf ihre Autonomie und Säkularität pocht und somit ohne Gott gedacht werden will (Kapitel 1). Neu aufgerollt wird von den biblischen Texten her das Plädoyer für einen Denk- und Redestil, der Front macht gegen Gottesbilder, die nicht die radikale Andersheit und Unverzweckbarkeit Gottes zur Geltung bringen. Ausgehend von der unabdingbaren Erfüllung des „Bilderverbotes“ wird plädiert für eine „theologia negativa“ als einer Diskursform, die den intellektuellen und existenziellen Herausforderungen einer „postsäkularen“ Kultur am ehesten gerecht werden kann (Kapitel 2). Sie bewährt sich auch bei der religions- und metaphysikkritischen Bestreitung eines philosophischen Denkhorizontes, innerhalb dessen der Vernunft zumutbar werden soll, was der Glaube artikuliert. Das Bilderverbot verlangt, Gott in gleicher Weise von „etwas“ und „nichts“ zu unterscheiden. In einer „theologia negativa“, welche diese Unterscheidung im Kontext der „metaphysischen“ Unterscheidung von Sein und Nichts zur Geltung bringen will, geht es darum, diesen Unterschied als einen Widerstreit auszulegen, in den Gott und Mensch „verstrickt“ sind. Denn für den Menschen bedeutet „am Leben sein“, sein Leben zu führen in der Einheit von Leben und Tod. Aber diese Einheit umschließt einen Gegensatz, der größer nicht gedacht werden kann. Diese Einheit wird für den Menschen offensichtlich unausweichlich zu Gunsten des Todes entschieden. Ist ein solches Leben, in dem der Mensch sich letztlich nur den Tod holen kann, letztlich akzeptabel? Wie lässt sich angesichts dieser Konstellation von Sein und Nichts noch die Frage nach Gott, Sein und Sinn verhandeln, wenn man der existenziellen Problematik der Daseinsakzeptanz nicht vorab durch naturalistische Hinweise auf die „Nichtigkeit“ eines endlichen und befristeten Lebens ausweichen will (Kapitel 3)?

Dies ist nicht der einzige Widerstreit, auf den sich eine theologische Kunst der Bestreitung von Gehalt und Relevanz des Gottesgedankens einlassen muss. Eine sich dem Bilderverbot verdankende Gottesrede hat in der Gegenwartskultur etliche Anlässe, sich an buchstäblich „weltanschaulichen“ Debatten zu beteiligen. In einer Zeit, in der Mensch und Welt so aussehen, wie man sie ansieht, und in der sich „Ansichtssachen“ inflationär vermehren, bedarf es einer Kritik an fatalen Gleichungen. Wie das biblische Bilderverbot die Verehrung von „religiösen“ Medien der Verehrung Gottes kritisiert, sofern sich diese Medien an die Stelle des zu Verehrenden setzen, so hat heute eine theologische Kritik „säkularer“ Medien der Welterschließung deutlich Einspruch zu erheben gegen die mediale Einebnung der Unterschiede zwischen dem Realen, Imaginären, Virtuellen und Fiktiven. Und zugleich ist sie gefragt, wie sie gerade angesichts des „iconic turn“ in den Kulturwissenschaften, welcher auf den metaphysikkritischen „linguistic turn“ der Philosophie gefolgt ist, das Moment des Ästhetischen gegen eine falsche Anschaulichkeit im Wirklichkeits- und Gottesverhältnis des Menschen zur Geltung bringen kann (Kapitel 4).

Theologie als „Kunst der Bestreitung“ ist zwar auch dem Ideal der Ausgewogenheit verpflichtet, indem sie Gegenstimmen zu Wort kommen lässt. Aber dennoch ergreift sie engagiert Partei für ihre Anliegen. Das ihr gemäße Schlusswort kann daher nur in der Weise eines Plädoyers formuliert werden. Damit wird jedoch kein Element eingeführt, das mit diskursiver Urteilsbildung unverträglich ist. Denn ein Plädoyer als Element eines Prozesses nimmt nicht ein Urteil vorweg, sondern will für eine Urteilsbildung nur eine (möglichst überzeugende) Vorlage liefern. Den Urteilsspruch über die verhandelte Sache muss es anderen überlassen. Es kann nur an die Urteilskraft seiner Adressaten appellieren und ihnen eine bestimmte Entscheidung nahelegen. Wer ein Plädoyer führt, darf daher auch am Ende eine akademische Distanz zu seiner Sache und seinen Adressaten aufgeben. Von dieser Erlaubnis macht das Schlusswort Gebrauch (Kapitel 5). Es enthält eine biographische Notiz über meinen Weg zu einer „theologia negativa“ – und mit ihr.

Bei der Schlussetappe zur Fertigstellung dieses Buches haben mich Claudia Rott und Martin Dürnberger unterstützt. Ihnen sei dafür herzlich gedankt. Zwar teilen sie in manchen Punkten nicht meine Position. Aber da Streiten auch verbinden kann, bereichern solche Differenzen das Miteinander.

Köln, im Sommer 2008

Hans-Joachim Höhn

Inhalt

I.   Abschied von Gott?
Theologie an den Grenzen der Moderne

1.  Provokationen:
Die Passion des Wortes „Gott“

1.1.  Enteignungen:
Vom Verbrauch des Wortes „Gott“

1.2.  Bestreitungen:
Für und wider die Notwendigkeit Gottes

1.3.  Aufbegehren:
Auf den Gedanken kommen, (an) Gott zu denken

2.  „Gott“ als AdVerb:
Perspektiven einer postsäkularen Rede
von Gott

2.1.  Versuchungen:
Die Rede von Gott – nach ihrem Ende

2.2.  Plädoyer:
Rehabilitierung einer theologia negativa

II.  Biblische Aufklärung:
Offenbarung als Bestreitung

1.  Da – Sein – Werden:
Das Wort „Gott“ und der Name Gottes

2.  Gott sehen:
Etwas vor sich haben – das Nachsehen haben

3.  Gottes Unheimlichkeit:
Erschlichene und errungene Identität

4.  Bild des Unsichtbaren:
Bilderverbot und Gottebenbildlichkeit

4.1.  Versuchungen:
Der wahre Gott und die falschen Bilder

4.2.  Widerspruch?
Schöpfung und
Selbstoffenbarung Gottes

4.3.  Entsprechungen:
Offenbarung als Erfüllung
des Bilderverbotes

III.   Philosophischer Kontext:
   Gott denken im Widerstreit von Sein und Nichts

1.  Welt ohne Gott:
Versteht sich die Welt von selbst?

2.  Gott im Nichts?
Dem Dasein auf den Grund gehen

3.  Vor dem Nichts stehen:
Gottes Widerfahrnis?

4.  Verschränkungen:
Transzendenz und
Immanenz grundlosen Daseins

IV.  Ästhetische Kontroversen:
Wahre Bilder? – Bilder der Wahrheit?

1.  „Wir sehen uns!“ Zeit des Zeigens – Zeichen der Zeit

2.  Bilder? Verbieten? Medienkritische Aspekte des Bilderverbotes

3.  Kultkritik und Bilderstreit:
Religionskritische Aspekte des Bilderverbotes

4.  Gottes Wort im Bild:
Das Wagnis einer ästhetischen Gottesrede

V.  Epilog:
Gott – bestritten und vermisst

Auswahlbibliographie

I.

Abschied von Gott?
Theologie an den Grenzen
der Moderne

Theologie ist Rede von Gott. Selbstverständlich! Aber versteht man deswegen auch, wovon sie spricht? Selbstverständlich nicht! Denn es versteht sich heute keineswegs von selbst, wer oder wie Gott ist. Darum müssen Theologen viele Worte machen, um verstanden zu werden. Sie erwecken damit den Eindruck, gut Bescheid zu wissen über Gott. Und zugleich wird ihnen diese Beredsamkeit zur Gefahr. Es kommt zu einer unseligen Redseligkeit. Gedankenlose Geschwätzigkeit macht sich breit. Die Theologie vermag trotz ihres Redeflusses nicht mehr, Gott oder das „Wort Gottes“ zur Sprache zu bringen. Beide werden totgeredet. Auf diese Weise bereitet sich die Theologie ihr Ende selbst. Es bedarf keiner religionskritischen Vehemenz, um ihr Ableben zu befördern. Das Ende der Theologie fängt dort an, wo sie geschwätzig wird und viele Sätze über Gott schneller gesagt als gedacht sein lässt.1 Auf diesem Wege wird sie letztlich nichtssagend. Den Nichtssagenden aber gehen die Worte niemals aus. Darum setzt sich theologisches Gerede einstweilen fort, auch wenn es nichts und niemandem mehr etwas sagt.

Aber was wäre die Alternative? Ihre Sache zu verschweigen, im Diskurs der Wissenschaften zu verstummen, sich aus dem Stimmengewirr der Öffentlichkeit zurückzuziehen, nicht mehr von Gott, sondern nur noch über „Religion“ zu reden würde ebenfalls ihr Ende bedeuten. Ein solches Schweigen wäre nicht beredt, sondern ein betretenes und verschämtes Verstummen. Da sie nicht schweigen will und darf, setzt die Theologie ihr Geschäft fort, viele und große Worte von Gott zu machen. Ihr kommt dabei die Hoffnung zu Hilfe, dass sich dort, wo die Worte sind, auch die Sache einstellt, die sie bezeichnen. Allerdings ist diese Hoffnung trügerisch. Im Reich der Worte werden viele Dinge oft unbedacht ausgesprochen. Hier lässt das Reden das Denken hinter sich. Wo aber das Denken das Reden nicht mehr einholt, droht die Gefahr, dass man gedankenlos daherredet. Das gilt auch für „Berufschristen“, für Religionslehrer/innen, Pfarrer und Theologieprofessoren. In ihrem Worteifer kann es passieren, dass sie sich nichts mehr dabei denken, wenn sie von Gott reden. Dann aber sind sie erst recht nicht mehr bei ihrer Sache. Und sie verfehlen auch das, was an der Zeit ist.

1. Provokationen:
Die Passion des Wortes „Gott“

Das Ende der Theologie beginnt dort, wo sie nur noch redet, aber nicht mehr hinhört auf das, was ihr die Zeit aufträgt. Das Wort „Gott“ gibt in dieser Zeit mehr zu denken als zu reden. Es ist ein in höchstem Maße „bedenkliches“ Wort geworden. Für den jüdischen Religionsphilosophen MARTIN BUBER (1878–1965) ist es das am meisten belastete aller Menschenworte: „Welches Wort der Menschensprache ist so mißbraucht, so befleckt, so geschändet worden wie dieses! All das schuldlose Blut, das um es vergossen wurde, hat ihm seinen Glanz geraubt. All die Ungerechtigkeit, die zu decken es herhalten mußte, hat ihm sein Gepräge verwischt. Wenn ich das Höchste ‚Gott‘ nennen höre, kommt mir das zuweilen wie eine Lästerung vor.“2 Dennoch will M. Buber auf dieses Wort nicht verzichten – um des Menschen willen. Die Blutspur, die sein Missbrauch in der Geschichte hinterlassen hat, erzählt von der Passion des Menschen. Für dieses Wort wurden Menschen getötet und mit diesem Wort auf den Lippen haben Menschen getötet. An diesem Wort klebt Blut. Bereits um der Erinnerung an die Passion des Menschen willen darf dieses Wort nicht vergessen werden. Was das Wort „Gott“ bedenklich macht, ist aber nicht allein die Leidensgeschichte des Menschen und die Kriminalgeschichte einer Religion, sondern auch die Passion Gottes.

die passion des wortes GOTT

das blutet aus allen wunden

das wird vergewaltigt noch und noch

das ist verraten zertrampelt zerschossen geköpft

gerädert gevierteilt gezehnteilt

verlorene glieder wurden durch monströse prothesen ersetzt

das ist sich selber und uns und allem entfremdet

ist schizo und neuro und psycho

zerstochen über und über von nadeln mit denen

fremde substanzen injiziert worden sind

das agonisiert ohne ende

ist vielleicht schon tot oder noch nicht oder

das consilium der ärzte diskutiert noch zur zeit

und ALSO wurde das wort GOTT

zum letzten der wörter

zum ausgebeutetsten aller begriffe

zur geräumten metapher

zum proleten der sprache3

Dem Wort, das in der Geschichte der Menschen dazu verwandt wurde, dem höchsten Wert, dem Grund allen Seins und dem Ziel der Geschichte einen Namen zu geben, ist Gewalt angetan worden, weil mit ihm Menschen vergewaltigt wurden. Der Missbrauch des Wortes „Gott“ ist aber nicht nur ein Vergehen am Menschen und an seiner Sprache, sondern auch ein Fall von „Gottesmissbrauch“. Mit dem Wort „Gott“ vergeht sich der Mensch an Gott. Gott selbst wird hintergangen, betrogen, ausgenutzt, wo man das Wort „Gott“ zum Bedeutungsträger für reichlich „gottlose“ Unternehmen macht. Dabei handelt es sich um ein doppeltes Vergehen, denn es führt in die religiöse Blasphemie und ist ebenso ein Akt der Unvernunft: Es ist ein Akt der „Gotteslästerung“, ihn zum Erfüllungsgehilfen menschlicher Vorhaben zu machen – erst recht dann, wenn sie die Inhumanität des Menschen bezeugen.4 Es bedeutet einen Anschlag auf die Vernunft, wenn ihr Fragen, die grundsätzlich in die Kompetenz rationaler Weltauslegung und Weltgestaltung gehören, entzogen und in den Bereich des Glaubens überwiesen werden. Zwar gilt, dass man das, was man glaubt, auch widerspruchsfrei denken können muss. Aber daraus folgt nicht, dass man Glauben und Denken gleichsetzen darf oder dass der Glaube das Denken ersetzen kann.

Gegen diesen doppelten Grundsatz ist von den Glaubenden immer wieder verstoßen worden – vom Ruf „Gott will es“ als Auftakt der Kreuzzüge über das so genannte „Gottesgnadentum“ feudaler Herrscher bis hin zur Inschrift „Gott mit uns“ auf dem Koppel deutscher Weltkriegs-Soldaten. Blasphemisch war auch die ausdrückliche Berufung auf eine göttliche Mission seitens der sich zum Islam bekennenden Terroristen vom 11. September 2001. Die von evangelikalen Predigern in den USA aufgebotene Rhetorik für einen Kreuzzug gegen den Terrorismus war es nicht minder.5 Man muss sich nicht wundern, dass angesichts dieses Gottesmissbrauchs viele Menschen das Wort „Gott“ für ein korrumpiertes und kontaminiertes Wort halten.

Dies gilt auch für die zahllosen Versuche, Gott als „Moralverstärker“ ins Spiel zu bringen. Wenn der kategorische Imperativ der praktischen Vernunft in seiner Verbindlichkeit nicht überbietbar ist, welchem Ziel dienen dann Versuche, eine solche autonome Moral bzw. Moral der Autonomie mit religiösen Mitteln in Frage zu stellen? Kritische Beobachter dieser Bemühungen fragen an, ob es überhaupt eine moralisch gute Tat gibt, die exklusiv religiösen Motiven zugeschrieben wird, ohne dass sie auch von „gottlosen“ Menschen vollbracht werden könnte. Verhält es sich nicht eher umgekehrt, dass auch ohne Gott anständige Menschen anständig und unanständige Menschen unanständig sind, aber dass es der Berufung auf Gott bedarf, um anständige Menschen dazu zu bringen, andere zu unterdrücken, zu bespitzeln, zu tyrannisieren?6

Jedes Reden von Gott birgt in der Tat ein Verführungspotential. Dagegen ist es nur gefeit, wenn es sich erhebt gegen jeden „Gottesmissbrauch“ im Sprechen und Handeln unserer Zeit – gleichgültig ob in seinen zynisch-politischen oder fromm-bigotten Versionen, die sich auch in Christentum und Kirche eingenistet haben. Denn nicht wenige „Gottesgläubige“ haben auf ihre Weise dazu beigetragen, Menschen- und Gottesverachtung im Namen Gottes zu praktizieren. Aus einem Wort, das etwas zu bedenken gibt, hat auch die Kirche zu oft ein Wort gemacht, das etwas beglaubigt. Sie benutzte dieses Wort bedenkenlos zur Rechtfertigung ihrer Selbstbehauptungsinteressen, die sie als Sache Gottes ausgab.7 Die Theologie hat dabei oft mitgespielt oder tatenlos zugesehen. Sie hatte keine Einwände, weil ihr in der Rolle als Pflichtverteidigerin der Kirche keine Einspruchsmöglichkeit blieb. Eine starre Dogmatik ließ zudem kaum mehr etwas übrig, was es theologisch noch zu bedenken gab. An die Stelle des Streitgespräches und des Diskurses trat der Kommentar, das Selbstzitat, die willfährige Unterweisung.

Jedes Reden von Gott hat heute verspielt, das nicht in Opposition steht zu einer Einstellung, die nicht mehr – im positiven Sinn – „begriffsstutzig“ sein will. Auch die Theologie muss immer wieder stutzig werden, Anstoß nehmen an den vielen Formen, Gott für eine irritationsresistente Praxis in religiösen und säkularen Angelegenheiten in Anspruch zu nehmen und die eigentliche Zumutung dieses Wortes auszuschlagen, die jeglichen Redefluss unterbricht und in Frage stellt. Theologinnen und Theologen sollten es als Ehrentitel auffassen, wenn sie von kirchlichen Würdenträgern als „Bedenkenträger“ kritisiert werden, womit in der Regel eine unwirsche Beschreibung für unbequeme und nachdenkliche Mitmenschen verbunden ist. Man hält sie für Nörgler, Beckmesser und Querulanten. Viele ihrer Kritiker können gar nicht verstehen, warum es etwas zu kritisieren gibt. Sie halten ihre Sache für eine große Selbstverständlichkeit. Bedenkenträger aber erinnern daran, dass sich keineswegs alles von selbst versteht. Das ahnen auch ihre Kritiker unter den Kirchenfürsten und im Kirchenvolk. Sie merken, dass die traditionelle Gottesrede auf Probleme stößt. Aber sie reagieren meist anders – jedenfalls selten mit Nachdenklichkeit und Selbstkritik. Denn für sie ist die Wirklichkeit Gottes etwas Fragloses, Unstrittiges, Unbezweifelbares. Gott ist für sie über jeden Zweifel erhaben. Diese Überzeugung ist heute jedoch immer schwerer vermittelbar. Das wissen auch die Überzeugten und darum bekräftigen sie immer wieder das, wovon sie überzeugt sind. Das ist auf den ersten Blick auch verständlich: Wer auf Anhieb nicht verstanden wird, obwohl er/sie meint, etwas Selbstverständliches zu sagen, sieht sich genötigt, dasselbe noch einmal zu sagen. Man wiederholt sich. Wiederholungen aber langweilen. Und wer sich langweilt, schaltet ab.

Genauso ergeht es der Kirche seit geraumer Zeit mit ihrer Rede von Gott. Sie versteht nicht, warum sie nicht verstanden wird. Und darum wiederholt sie das oft Gesagte, sie fasst zusammen, sie beschwört, sie schärft ein, sie droht – und am Ende gibt sie für das gleichwohl fortbestehende Unverständnis den Anderen die Schuld. Man macht den Anderen, den Religions- und Kirchenfernen jene Vorwürfe, die man an sich selbst adressieren müsste. Ein solches Reden von Gott ist unkommunikativ. Kommunikation lebt davon, dass man sich Fragen stellen lässt. Die besten Fragen sind stets die unbequemen. Ihnen aus dem Weg zu gehen ist ebenso unklug wie feige. Es ist unklug, weil man bekanntlich durch Fragen klug wird. Und es ist feige, denn wo nicht gefragt wird, wird nichts riskiert. Und wo nichts riskiert wird, gibt es auch nichts zu gewinnen. Wer all dem aus dem Weg gehen will, ist in der Theologie fehl am Platz. Theologie beginnt mit unbequemen Fragen, die sie sich stellen lässt und die sie anderen stellt.

Jedes Reden von Gott hat in dieser Zeit verspielt, das sich nur noch an jene richtet, die noch etwas mit dem Wort „Gott“ anfangen können oder wollen. Theologie, die ernst genommen werden will, braucht das Gespräch mit jenen Zeitgenossen, die dieses Wort aus ihrem Vokabular gestrichen haben. Sie muss die Ursachen und Gründe erfragen, dass es zum „Gottesverdruss“, zur Aversion oder Gleichgültigkeit gegenüber diesem Menschheitswort gekommen ist. Die Theologie muss solidarisch sein mit den Nachdenklichen – sowohl unter den „Frommen“ als auch unter den „Ungläubigen“ – und auf beiden Seiten um wechselseitiges Verständnis werben. Nur so ebnet sie dem Verständnis ihrer Sache einen Weg.

Den Anfang des Verstehens bildet gleichwohl das Nicht-Verstehen. Erst das Klarwerden über das, was unklar ist, ebnet den Weg zu Einsichten.8 Dazu gehört auch die Prüfung, ob das, was jeweils selbstverständlich erscheint, auch wirklich der kritischen Nachfrage standhält. Erkenntnis beginnt mit dem Problematisieren des scheinbar Selbstverständlichen. Darum kommt es der Theologie zu, dass sie gegenüber dem Umgang mit dem Wort „Gott“ zunächst Bedenken anmeldet. Anders kann sie ihrer Zeit und ihrer Sache nicht gerecht werden. Sie hat mit der Frage zu beginnen, ob das, was in dieser Zeit „Gott“ genannt wird oder mit diesem Wort bestritten wird, in Wahrheit verdient, so genannt und bestritten zu werden. Sie hat den Schwierigkeiten nachzugehen, welche das Reden von Gott in der Moderne in die Krise gebracht haben, und sie muss die großen Enteignungen des Christentums im Blick behalten. Diese betreffen den Nachweis der Entbehrlichkeit Gottes für die Erklärung der Welt und ihres Entstehens, den Nachweis der Verzichtbarkeit Gottes für die Begründung einer menschendienlichen Moral und den Nachweis für den fehlenden Bedarf des Wortes „Gott“ in unserer Sprache. Eine der Wahrheitsfrage verpflichtete Wissenschaft kann nicht anders, als mit Infragestellungen und nicht mit Wahrheitsbehauptungen zu beginnen.

1.1. Enteignungen:
Vom Verbrauch des Wortes „Gott“

Was dem Glauben selbstverständlich ist, erscheint vielen säkularen Zeitgenossen heute als unverständlich. Von der Wirklichkeit Gottes auszugehen und darüber wahre Aussagen machen zu wollen, erachten sie als ein Ding der Unmöglichkeit. Mehr noch: Sie halten bereits die Wirklichkeit Gottes für etwas Unmögliches. Dennoch darüber zu reden gilt ihnen als eine nicht zu rechtfertigende Zumutung. Folglich erweist sich ihnen auch der Glaube an Gott als ein „Ding der Unmöglichkeit“, da der Bezug auf etwas Unmögliches selbst wiederum unmöglich ist und allenfalls als Illusion oder Projektion zu betrachten ist. Wenn der Glaube aber heute tatsächlich einen Wahrheitsanspruch erhebt, muss er das, wovon er redet, von etwas Unmöglichem unterscheiden können.

Dagegen war in früheren Zeiten die Bedeutung des Wortes „Gott“ anscheinend klar und eindeutig. Die Rede von Gott bezeichnete nicht nur etwas, das zu denken möglich war. Sie meinte auch etwas, das zu denken notwendig war: Gott ist im Rahmen einer Welterklärungstheorie das „erste Unbewegte, aber alles Bewegende“, der letzte und weltjenseitige Grund alles Seienden und als solcher auch der Garant einer Ordnung der Werte und Normen. Gott ist die notwendige Bedingung für alles Bedingte, die unabdingbare Ermöglichung alles Möglichen und Wirklichen, der Bürge für die Gültigkeit von Recht und Gesetz. In Gestalt der „Gottesbeweise“ versuchte die Theologie, durch rationale Argumentation das dem Glauben Selbstverständliche (d. h. die Existenz Gottes) in eine dem Denken zumutbare Erkenntnis zu überführen. Zumindest sollte jede/r Denkende der vom Glauben für selbstverständlich gehaltenen Rede von der Existenz Gottes am Ende mit so viel Verständnis begegnen können, dass sie als „nicht-unvernünftig“ qualifizierbar erscheint. Dabei wurde von unstrittigen Erfahrungen (z. B. von der Kontingenz der Welt) ausgegangen, die in eine Argumentation eingingen, deren Akzeptanz unabhängig von jedem Glauben ein Gebot der Vernunft darstellt und am Ende dazu führen sollte, dass zwischen Denkenden und Glaubenden ein rationales Einverständnis hinsichtlich der widerspruchsfreien Vertretbarkeit des Gottesgedankens entsteht.9 Eine solche Argumentation hatte zwar nie eine „konstitutive“, aber oft eine „propädeutische“, meist eine „explikative“ und zuweilen auch eine „verifikative“ Funktion.10 Es ging nicht darum, die Überzeugung von Gottes Existenz diskursiv zu erzeugen, sondern die Berechtigung und Verantwortbarkeit dieser (prädiskursiven) Überzeugung zu demonstrieren. Die „verifikative“ Funktion der Gottesbeweise darf hierbei ebenso wenig überschätzt werden wie die Falsifikation dieser Funktion: Denn sollte ein Gottesbeweis misslingen, ist damit zwar die Verifikation einer religiösen Überzeugung fehlgeschlagen, nicht aber diese Überzeugung selbst schon falsifiziert. Auf den Fehlschlag eines Gottesbeweises reagieren die Nachdenklichen unter den Glaubenden darum auch nicht mit der Aufgabe ihres Glaubens. Vielmehr bemühen sie sich um neue und bessere Argumente zur Rechtfertigung ihrer Überzeugung.

Im Übrigen ist das existenziell (und religiös) Gewisse nicht deckungsgleich mit dem rational Zwingenden. Der Gottesglaube zählt zu jenen existenziellen Gewissheiten, auf die Menschen „nichts kommen lassen“. Die Wege, auf denen man zu solchen Gewissheiten kommt, sind nicht allein die Wege stringenter rationaler Argumentation. Das Leben kennt noch andere Lehrmeister als die Vernunft! Wozu man auf Wegen gekommen ist, die nicht die Wege der Vernunft sind, dazu muss man dennoch auf vernünftige Weise stehen können. Überzeugungen, die im Widerspruch zu den Prinzipien kritischer Rationalität stehen, können auf Dauer niemanden überzeugen, bringen sich um ihre Geltungsfähigkeit und diejenigen, die sie nicht aufgeben, letztlich um ihren Verstand.11 Darum gilt der Grundsatz „nihil credendum nisi prius intellectum“ (P. ABAELARD): Nichts kann als Gegenstand des Glaubens ausgegeben werden, das nicht zuvor auf seine Verstehbarkeit und Vertretbarkeit hin geprüft wurde. Gottesbeweise sind Ausdruck einer solchen „fides quaerens intellectum“, d. h. intellektueller Bemühungen um die (rationale) Rechtfertigung einer von der Vernunft nicht hervorzubringenden Überzeugung (dass Gott existiert), die gleichwohl vernunftgeleiteter Wirklichkeitserfahrung und -deutung entspricht.12

In der Moderne sind jedoch die Voraussetzungen für solche Füllungen des Wortes „Gott“ weitgehend kollabiert. Jede für unbezweifelbar gehaltene Prämisse menschlichen Denkens, Wollens und Tuns, die etwa in den kosmologischen, physikotheologischen und ontologischen Gottesbeweis einging, lässt sich seit I. KANTS „Kritik der reinen Vernunft“ mit guten Gründen in Frage stellen.13 Seitdem steht die Auffassung, das Bemühen der theoretischen Vernunft um eine widerspruchsfreie Beschreibung der Welt und ihres Herkommens könne ohne religiös-metaphysische Zusatzannahmen nicht erfolgreich sein, auf sehr schwachem Fundament. Es ist signifikant, dass Kants Alternativentwurf, die Gottesfrage vor der Instanz der praktischen Vernunft zu verhandeln,14 mit einer Verschiebung des Beweisziels einhergeht. Die Konklusion dieser Argumentation lautet nicht: „Also existiert Gott bzw. das, was alle ‚Gott‘ nennen.“ Sein „postulatorischer“ bzw. ethico-theologischer Gottesbeweis führt vielmehr zu der Schlussfolgerung: „Also sollte man als Vernunftsubjekt so denken und handeln, als ob es Gott gebe!“ Gott ist nicht länger Gegenstand eines Wissens, einer objektiven Erkenntnis, sondern einer Sinnoption bzw. einer Hoffnung, die philosophisch verantwortbar ist, weil sie die praktische Vernunft um ihrer eigenen Rationalität und Moralität willen unterstellen muss: Die moralischen Forderungen der praktischen Vernunft sind für den Menschen nur dann rational zumutbar, wenn die Erfüllung dieser Forderungen zu einem Ergebnis führen wird, dem er mit Vernunftgründen zustimmen kann. Der hierfür notwendige Nexus zwischen moralischer Gesinnung, moralischer Tat und rational akzeptablen Handlungsfolgen ist aber nur dann gegeben, wenn die naturgesetzlich bestimmte Wirklichkeit mit der vom Sittengesetz bestimmten Welt letztlich zusammenstimmt bzw. mit ihr vermittelbar ist. Auf diese Vermittlung muss die praktische Vernunft notwendig setzen, wenn sie die Forderungen des Sittengesetzes für rational zumutbar halten will. Das Postulat der Existenz Gottes formuliert jene unerlässliche Bedingung, um die praktische Vernunft vor einem Widerspruch zu bewahren, in dem sie sich selbst aufheben würde.15

Die einzelnen Argumentationsschritte stellen sich wie folgt dar: (1) Die praktische Vernunft enthält eine unbedingte Verpflichtung (kategorischer Imperativ) zur Herstellung einer „moralischen“ Welt, deren Verpflichtungskraft durch sich selbst gegeben ist und einleuchtet (Autonomie der Moral). (2) Gegen die Erfüllbarkeit dieser Vernunftpflicht sprechen empirische Umstände (Endlichkeit des Menschen, Schicksalsschläge, naturgesetzliche Determinierung der Welt), die das Erreichen des moralisch gebotenen Zieles grundsätzlich verhindern können und dies de facto nur zu oft auch tun. (3) Kein Mensch könnte und dürfte dieser unbedingten Verpflichtung folgen, wenn die Herstellung einer „moralischen Welt“ faktisch unmöglich wäre oder ihm nur Nachteile brächte. Sie wäre selbst „unvernünftig“, wenn durch sie ein Widerspruch zwischen dem von der Vernunft unbedingt Gebotenen und dem vom Menschen in seiner Lebenspraxis (aus Klugheitsgründen) zu Vermeidenden bzw. zum empirisch und geschichtlich Möglichen entstehen würde. (4) Weder darf aus Vernunftgründen die Verpflichtungskraft des kategorischen Imperativs relativiert werden noch darf aus Vernunftgründen das Faktum der empirischen Nichtherstellbarkeit einer „moralischen Welt“ ignoriert werden. (5) Die Unbedingtheit des kategorischen Imperativs verlangt nach seiner „kontrafaktischen“ Umsetzung. Die rationale Unbedingtheit des Sittengesetzes (kategorischer Imperativ) und die rationale Zumutbarkeit seiner kontrafaktischen Erfüllung setzen eine Instanz voraus, welche die Befolgung des Sittengesetzes angesichts des o. a. Widerspruchsproblems erst möglich macht. (6) Die gesuchte Instanz kann zwar in der Erfahrungswelt nicht gefunden werden. Von ihr müssen jedoch sowohl das Vermögen zur Überwindung des Kontrafaktischen als auch zur Erfüllung des Sittengesetzes ermöglicht werden. (7) Ohne das Postulat der Existenz Gottes bzw. einer „eschatologischen“ Vollendung als Bedingung der Möglichkeit einer kontrafaktischen Erfüllung des Sittengesetzes kann die unbedingte Geltung des Sittengesetzes und Verpflichtungskraft der Vernunftpflichten diese Zerreißprobe nicht bestehen.

Allerdings ist auch dieser Ansatz nicht vor einem Einwand gefeit, der die Gottesbeweise der theoretischen Vernunft an ihrer empfindlichsten Stelle trifft. Was als denknotwendig behauptet wird, ist damit noch nicht als seinsnotwendig erwiesen. Und falls dies dennoch gelingen sollte, wäre dies wiederum nur eine gedachte Notwendigkeit. Auch der Gottesgedanke der praktischen Vernunft gründet nicht in einer dem moralischen Bewusstsein vorgegebenen und von ihm real verschiedenen, objektiven Wirklichkeit. Vielmehr konstituiert das moralische Bewusstsein diese Wirklichkeit als ein „Postulat“, das letztlich nur einen bewusstseins- und sprachimmanenten Ausdruck der Logik und Struktur ethischer Rationalität darstellt. Hier wird nicht thematisiert, was ihr vorgegeben ist, sondern was ihr mitgegeben ist. In seinem moralischen Bewusstsein weiß sich das Vernunftsubjekt zwar auf eine ihm transzendent (d. h. transsubjektiv) erscheinende Wirklichkeit bezogen. Allerdings weiß es darum nur in der Weise einer bewusstseinsimmanenten bzw. „intramentalen“ Vergegenwärtigung, so dass es über deren transsubjektiven oder transzendenten („übernatürlichen“) Realitätsstatus nichts sagen kann, was dem Risiko ihrer Projektion als einer selbständigen Größe entgeht. „Als bewusstseinsimmanentes Verhältnis bezieht das Gottesbewusstsein den semantischen Gehalt des Ausdrucks ‚Gott‘ auf den nur ihm gegebenen Mentaleindruck, ohne dass dieser eine Beziehung auf eine extramentale selbständige Realität implizierte.“16 Selbst wer aus Gründen der Vernunft auf ein „Gottespostulat“ setzt, muss auf die Einlösung von Geltungsansprüchen verzichten, welche über die Sprach- und Bewusstseinsimmanenz der Rede von Gottes Wirklichkeit hinausgehen. Man muss zwar nicht so weit gehen und behaupten, hier werde Gott bloß ausgedacht. In diesem Fall wäre das kantische „Gottespostulat“ grandios missverstanden. Aber zumindest wird er vom und im Denken hervorgedacht.

Diese Problematik stellt sich in jüngster Zeit neu und verschärft durch die Experimente der so genannten „Neuro-Theologie“17. Mit ihnen ist es gelungen, durch bildgebende Verfahren die Veränderung einzelner Felder in spezifischen Hirnarealen während religiöser Praktiken sichtbar zu machen. Dabei handelt es sich um Areale, in denen Prozesse ablaufen, die über die räumliche Orientierung, Bewegung und Selbstwahrnehmung der Probanden entscheiden. Durch entsprechende Stimulierungen dieser Areale ist es möglich, dass für die Probanden die Grenze zwischen Ich und Welt verschwindet und die Orientierung in Raum/Zeit-Bezügen aufgehoben wird. Was die Mystiker unterschiedlichster religiöser Traditionen berichten – das „ozeanische Gefühl“ der Versenkung, die Erweiterung von Bewusstseinsgrenzen, die Vereinigung mit einer allumfassenden Wirklichkeit –, lässt sich offenkundig rekonstruieren als Resultat einer via Meditation erfolgenden Stimulation entsprechender Hirnlappen. Der Beweis scheint erbracht, dass es sich bei mystischen Erlebnissen nicht um „Einbildungen“, sondern um empirisch nachweisbare Tatsachen handelt. Allerdings kippt dieser „Beweis“ sogleich in eine religionskritische Anfrage um. Denn er wirft die Frage auf, ob sich in mystischen Erfahrungen ausschließlich hirnimmanente Ereignisse manifestieren, die Ausdruck einer Selbstbeschäftigung des Gehirns sind, oder ob diese Erfahrungen eine „Außenreferenz“ haben (z. B. in der Weise, dass dieses „Außen“ das neuronale Geschehen affiziert oder mental verursacht), wie religionsapologetische Deutungen nahelegen wollen. In ihrer religionskritischen Variante zieht die Neurobiologie gleichwohl eine „Naturalisierung“ der Gottesvorstellung nach sich, welche am Ende ihren Gehalt als etwas allein vom Bewusstsein Hervorgebrachtes erscheinen lässt, das wegen einer fehlenden Außenreferenz nicht mehr von einer Illusion oder Projektion unterschieden werden kann. Allerdings behauptet dieser Ansatz zu viel, wenn er die Frage nach der Geltungsfähigkeit und Plausibilität der Inhalte mystischer Erfahrungen bzw. des Glaubens abhängig macht von ihrer Genese („genealogischer Fehlschluss“).

Ein entsprechend problematischer Syllogismus lautet: (1) Alles, was dem Menschen bewusst ist, ist ihm durch neuronale Prozesse bewusst bzw. von ihnen bedingt. (2) Religiöse Überzeugungen („Gott existiert“) sind Inhalte bzw. Gegenstände menschlichen Bewusstseins. (3) Also sind religiöse Überzeugungen dem Menschen durch neuronale Prozesse bewusst bzw. von ihnen bedingt.

Ein Fehlschluss tritt dort auf, wo die Korrelation von neuronalen Prozessen, religiösen Vollzügen und deren Gehalt im Sinne einer konditionalen Kausalität und/oder Identität gedeutet wird. In bestimmten Fällen entsprechen die neuronalen Muster religiöser Praktiken (Meditation, Gebet, Liturgie) zwar durchaus den Mustern pathologischer Prozesse (z. B. Epilepsie). Aus solchen Korrelationen ist aber weder eine Identität pathologischer und religiöser Bewusstseinsvorgänge oder -zustände ableitbar („Religiöse Ekstase ist nichts anderes als eine Spezialform von Schädellappenepilepsie“), noch ist eine konditionale („wenn/dann“) Verknüpfung zwingend nach dem Muster „Wenn x anfällig ist für Epilepsien, dann ist x auch disponiert für Mystik“.

Selbst wenn bei einem religiösen Menschen über bildgebende Verfahren ein (hirn)pathologischer Befund diagnostiziert wird und es erwiesen ist, dass diese Pathologie religiöse Vorstellungen generiert, so ist damit im strikt logischen Sinne aber noch nicht erwiesen, dass das Generierte selbst etwas Pathologisches (d. h. Inakzeptables, Irrationales, Vernunftwidriges, Unverantwortbares) darstellt. Die neuro-biologische Rekonstruktion von neuronalen Erregungszuständen, welche religiöse Bilder und Empfindungen generieren, ersetzt nicht den philosophischen Nachweis, dass und warum es sich um Lug- und Trugbilder handelt, d. h. was das Verlogene und Trügerische an ihnen ist.

Die Reflexion auf die evolutionäre Bedingtheit oder neuronale Basis eines religiösen Phänomens besagt nichts über die Geltungsgrundlage seines Fortbestehens und auch nichts darüber, ob mit seinem Gehalt ein vertretbarer Geltungsanspruch einhergeht. Für die Klärung dieser Frage fehlt den Neurowissenschaften jede Kompetenz. Um dies über eine Analogie zu verdeutlichen: An einer Schultafel findet sich die mit Kreide aufgetragene Rechenoperation 2 × 2 = 5. Als empirische Gegebenheit lässt sie sich beschreiben als eine „spezifische Verteilung von Kreidepartikeln“. Man mag als Erklärung für diese Verteilung und ihre Bedeutung nun Erklärungen aus dem Bereich Physik, Wahrscheinlichkeitstheorie, Ästhetik oder Graphologie suchen und finden. Für die Ungültigkeit dieser Rechenoperation ist aber ein mathematischer Beweis zu führen. Die psychologische Rekonstruktion, warum sich jemand verrechnet, ersetzt ebenso wenig den mathematisch-logischen Nachweis, dass und warum das Ergebnis falsch ist, wie die physikalische Erklärung, warum Kreide an der Tafel anhaftet, von einem graphologischen Gutachten erwartet werden kann.

Insofern muss auch zumindest offenbleiben, ob und inwiefern in der Selbstreferenz eines Subjekts eine „Außenreferenz“ konstitutiv eingeschlossen sein kann, die verschieden ist von der Außenreferenz sinnlicher Wahrnehmungen. Ob die Alternative „Selbstreferenz oder Außenreferenz“ selbst alternativenlos bleibt, hängt an der Entscheidbarkeit der Frage, ob subjektimmanente Ereignisse derart mit einer „transsubjektiven“ Struktur versehen sind, dass sie konstitutiv auf ein „Außerhalb“ verweisen. Die spezifische Logik von „Unbedingtheitserfahrungen“ im religiösen Kontext könnte in diese Richtung weisen: Wenn für religiöse Erfahrungen eine Wahrnehmung dessen charakteristisch ist, „was uns unbedingt angeht“ (P. Tillich), wird dabei nicht „etwas Unbedingtes“ erfahren (nach Art eines sachhaften oder personalen Gegenübers), sondern die spezifische Form bzw. das besondere Format eines Angegangenseins, d. h., es wird Unbedingtheit erfahren. Die Erfahrung solcher Unbedingtheit wäre somit ihrer Ereignishaftigkeit nach subjektimmanent, ihrem Modus und ihrer Struktur nach transzendierte sie die Bedingtheit des Subjekts und hätte in diesem Sinne eine Außenreferenz. Allerdings wäre erneut und eigens zu klären, worin der („onto-logische“?) Wirklichkeitsstatus dieses „Außenbezuges“ besteht.

Dabei wäre zu überlegen, ob etwa der „ontologische Gottesbeweis“ ANSELMS VON CANTERBURY (1033–1109) hierfür eine Vorlage liefern könnte. Anselm ist überzeugt, dass es (mindestens) einen Denkakt gibt, dessen Inhalt als unabhängig vom Denkvollzug gedacht werden muss; mehr noch: Der Vollzug dieses Denkens wird vom Inhalt dieses Aktes erst in Gang gesetzt. Dieser Inhalt besagt zudem, dass er nicht bloß als Gegenstand des Denkens gedacht werden kann. Denn dieser Inhalt lautet: „das worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“ (id quo maius cogitari non potest), d. h., er nötigt das ihn denkende Subjekt, jede Bewusstseinsimmanenz zu transzendieren und etwas Unüberbietbares zu denken. Das Denken bzw. der Denkakt ist zwar ein bewusstseinsimmanentes Geschehen, der Inhalt dieses Denkaktes aber bezieht sich auf etwas, das nicht bewusstseinsimmanent sein kann. Der Gedanke von etwas Unüberbietbarem muss mehr als bloß ein Gedanke (bzw. etwas Gedachtes) sein, weil Gedanken überbietbar sind. Etwas Unüberbietbares hat man erst dann gedacht, wenn man seine Existenz annimmt und wenn man sein Nicht-Sein nicht denken kann. Die Außenreferenz dieses Denkens transzendiert darum auch jeden Bereich, innerhalb dessen etwas kontingent Wirkliches – und mag es noch so großartig sein – als Außenreferenz (z. B. sinnlicher Wahrnehmungen) vorkommen kann. Denn auch zu ihm ist sie als ein „quo maius“ zu denken. Das Kontingente mag real sein, aber es ist nicht notwendigerweise real (dies macht ja gerade seine Kontingenz aus). Daher ist das Unüberbietbare „jenseits“ alles Kontingenten zu denken und wenn es denk- und seinsmöglich ist, dann muss es eo ipso „immer schon“ sein.18

Dass diese Überlegungen heute nur noch im Konjunktiv formuliert werden können, verweist auf einen für die Theologie einst unstrittigen Sachverhalt, der in den Gottesbeweisen affirmativ artikuliert wurde und gegenwärtig nur noch in Frageform begegnet: Gibt es einen kritischen Maßstab, mit dem die Theologie den Gottesglauben hinsichtlich seiner „Gegenstandsfähigkeit“ verifizieren kann, so dass er sich nicht in bloß individuellen Gewissheiten und reiner Bewusstseinsimmanenz erschöpft? Lässt sich tatsächlich der Nachweis führen, dass Mensch und Welt in ihrer Kontingenz („Geschöpflichkeit“) auf eine sie bedingende und ermöglichende Größe verweisen, auf die sie „real“ bezogen und von der sie zugleich „real“ unterschieden sind? Bilanziert man die neuzeitliche Erkenntnis- und Metaphysikkritik,19 dann sind der Theologie nahezu alle Kriterien und Möglichkeiten abhandengekommen, diese Fragen anzugehen. Jeder der einst für unausweichlich und unbestreitbar gehaltenen Erfahrungs- und Denkansätze muss hinsichtlich seiner anscheinend ebenso unbestreitbaren Deutungen (inklusive ihrer Prämissen und Schlussfolgerungen) mit Vorbehalten versehen werden.

• Woher wissen wir, dass unser Denken nicht nur für den Bereich der innerweltlichen Erscheinungen erkenntnisfähig ist, sondern auch für deren Möglichkeitsbedingungen, die in der „Transzendenz“ angesiedelt sind?

• Woher wissen wir, dass das Dasein der Welt nicht doch einer Kette von Zufällen entspringt? Gibt es nicht genügend Anzeichen für die Absurdität unseres Daseins, für das Fehlen einer in die Natur eingelassenen „Grundordnung“ der Werte und Normen?

• Woher wissen wir, dass unsere Sprache die Wirklichkeit so erfasst, wie sie „wirklich“ ist? Ist nicht alles Denken ein Konstruieren? Trifft nicht auch der Gedanke des Notwendigen und Unabdingbaren nur etwas Gedachtes? Ist das Wort „Gott“ nicht bloß eine „Kopfgeburt“?

Wenn alle diese Denkvoraussetzungen des Wortes „Gott“ in die Krise geraten sind, muss dies Folgen haben für den Denkinhalt des Wortes „Gott“.20 Die christliche Rede von Gott hat aus ebendiesem Grund heute erhebliche Probleme, sich verständlich zu machen. Es sind bereits die Verstehensvoraussetzungen dieser Rede und nicht erst ihr Inhalt, welche die Gottesrede prekär erscheinen lassen.21 Die christliche Botschaft ist gerade deswegen für viele Zeitgenossen zu einer unassimilierbaren Fremdsprache geworden. Weggefallen, zerbrochen sind jene Plausibilitätsstrukturen und sozio-kulturellen Selbstverständlichkeiten, deren das Evangelium offensichtlich bedarf, um Gott zur Sprache bringen zu können. Die christliche Rede von Gott ist zu einem Text ohne Kontext geworden.

Je schneller sich die Moderne modernisiert, umso mehr wird Gott für sie ein Fremder. Aus den wissenschaftlichen Plausibilitäten wurde er vertrieben und für Moralbegründungen entbehrlich; ausgeschieden ist er aus dem Kalkül der Ökonomie und sperrig geworden beim Ausfüllen metaphysischer Reflexionslücken.22 Das philosophische Reden von Gott hat sich schon lange verfangen in den Schleppnetzen der Religionskritik. Und auch die Logik der Theologie schafft es immer weniger, den Gottesgedanken zusammenzudenken mit den Katastrophen der Geschichte. Das Bild eines allmächtigen und guten Gottes will nicht passen zu einer Welt, die seine Schöpfung sein soll und dennoch von einer Blutspur unschuldigen Leidens gezeichnet ist.2324