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Rainer Bucher

Hitlers Theologie

Rainer Bucher

Hitlers
Theologie

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„So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“

Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925

„An der Spitze unseres Programms steht nicht das geheimnisvolle Ahnen, sondern das klare Erkennen und damit das offene Bekenntnis. Indem wir aber in den Mittelpunkt dieser Erkenntnis und dieses Bekenntnisses die Erhaltung und damit Fortsicherung eines von Gott geschaffenen Wesens stellen, dienen wir damit der Erhaltung eines göttlichen Werkes und damit der Erfüllung eines göttlichen Willens, und zwar nicht im geheimnisvollen Dämmerschein einer neuen Kultstätte, sondern vor dem offenen Antlitz des Herren.“

Adolf Hitler, Rede auf dem Reichsparteitag, 1938

„Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden. Wie die Umstände es fügen, daß das unergründliche Ressentiment, die tief schwärende Rachsucht des Untauglichen, Unmöglichen, zehnfach Gescheiterten, des extrem faulen, zu keiner Arbeit fähigen Dauer-Asylisten und abgewiesenen Viertelskünstlers, des ganz und gar Schlechtweggekommenen sich mit den (viel weniger berechtigten) Minderwertigkeitsgefühlen eines geschlagenen Volkes verbindet, welches mit seiner Niederlage das Rechte nicht anzufangen weiß und nur auf die Wiederherstellung seiner ,Ehre‘ sinnt; wie er, der nichts gelernt hat, aus vagem und störrischem Hochmut nie etwas hat lernen wollen, der auch rein technisch und physisch nichts kann, was Männer können, kein Pferd reiten, kein Automobil oder Flugzeug lenken, nicht einmal ein Kind zeugen, das eine ausbildet, was not tut, um jene Verbindung herzustellen: eine unsäglich inferiore, aber massenwirksame Beredsamkeit, dies platt hysterisch und komödiantisch geartete Werkzeug, womit er in der Wunde des Volkes wühlt, es durch die Verkündigung seiner beleidigten Größe rührt, es mit Verheißungen betäubt und aus dem nationalen Gemütsleiden das Vehikel seiner Größe, seines Aufstiegs zu traumhaften Höhen, zu unumschränkter Macht, zu ungeheueren Genugtuungen und Über-Genugtuungen macht – zu solcher Glorie und schrecklichen Heiligkeit, daß jeder, der sich früher einmal an dem Geringen, dem Unscheinbaren, dem Unerkannten versündigt, ein Kind des Todes, und zwar eines möglichst scheußlichen, erniedrigenden Todes, ein Kind der Hölle ist.“

Thomas Mann, „Bruder Hitler“, 1939

„Jedes Wort, das aus Hitlers Munde kommt, ist Lüge. Wenn er Frieden sagt, meint er Krieg, und wenn er in frevelhaftester Weise den Namen des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen, den gefallenen Engel, den Satan. Sein Mund ist der stinkende Rachen der Hölle, und seine Macht ist im Grunde verworfen.“

IV. Flugblatt der „Weißen Rose“, 1942

Vorwort

Abgrenzungen

I „Hitlers Theologie“:
Um was es dabei geht und um was nicht

II Hitlers Theologie und die katholische Kirche

III Hitler und die Theologie der „völkischen Bewegung“

Strukturen

IV Die „Vorsehung“: die Geschichtstheologie Hitlers

V Hitlers Gottesbegriff

VI Der „Glaube“: die Formierung des Einzelnen

VII Hitlers Theologie und die Vernichtung
des europäischen Judentums

VIII Kirchenreform mit Hilfe von Hitlers Theologie

Konsequenzen

IX Hitler, die Religion, die Politik:
Hitler und die Moderne

X Sehnsüchte und Versuchungen:
eine praktisch-theologische Gewissenserforschung

Persönliches Nachwort

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Vorwort

Hitlers Theologie ist intellektuell krude, ihr Rassismus ist erbärmlich und ihr Gott ein numinoses Monster. Es gibt keine Gnade und keine Barmherzigkeit in ihr und daher auch keinen Frieden.1 Aber sie wurde, worauf tatsächlich alle Theologie zielt: praktisch. Das ist nicht der einzige, aber der unabweisbare Grund, sich mit ihr zu beschäftigen.

Der „Zivilisationsbruch“2, den Hitlers nationalsozialistisches Projekt bedeutete, betraf alle und alles, geschah aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und mit großer und lang anhaltender Unterstützung ihrer Eliten wie breiter Schichten der Bevölkerung.3 Der Gott Hitlers besaß eine große Macht. Erst die vereinten Armeen der Sowjetunion, Amerikas, Englands und vieler anderer haben sie gebrochen. Niemand konnte das übrigens garantieren. Der Gott Hitlers hätte durch Hitler auch siegen können.4

Es ist nicht notwendig, Hitlers Theologie zu widerlegen: Das hat sie selber getan. Aber es ist notwendig, sich mit ihr zu beschäftigen. Schließlich gilt: „Hitler hat tiefere Spuren in unserem Jahrhundert hinterlassen als jeder andere.“5 Jenseits aller berechtigten Fragen, wie es diesem äußerlich unscheinbaren, komplexbeladenen, formal ungebildeten, kleinbürgerlichen Ausländer ohne wirkliche Berufserfahrung und Organisationstalent gelingen konnte, zum mächtigsten Mann des Deutschen Reiches und zeitweise Europas zu werden, welche gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Stimmungen ihn an die Spitze trugen, wie er sie erahnte, benutzte und steuerte, bleibt das Faktum: Der Nationalsozialismus war Hitlers Projekt, er hat es durchgesetzt und niemand kam auch nur annähernd an Hitlers singuläre Machtstellung heran.6 Schließlich ist ihm das ganze Land – mit Ausnahme der tapferen Männer und Frauen der wenigen Widerstandsgruppen – bis in den Untergang gefolgt.

Dieses Buch ist von einem katholischen Theologen geschrieben. Ich habe mich mit Hitler wissenschaftlich beschäftigt, weil ich wissen wollte, warum er einige „fortschrittliche“ Theologen der 1930er Jahre faszinierte. Was brachte innovative, gegenwartssensible, später auch zu Recht berühmte Theologen dazu, Hitler enthusiastisch zu begrüßen? Daraus folgte die Frage: Welche religiösen Strukturen und welche theologiehaltigen Diskurse wies Hitlers Gesellschaftsprojekt selbst auf, dass es für sie so attraktiv werden konnte?

Die Modernisierungsdynamik und personale Zugriffsintensität des Nationalsozialismus faszinierten nicht nur die eigenen Anhänger. Hitlers Angebot war für die Zeitgenossen attraktiver, als es im Rückblick und im Bewusstsein seiner monströsen Verbrechen erscheinen mag. Hitler schien Modernisierung ohne Pluralisierung und damit ohne Relativierung eigener Geltungsansprüche und ohne liberale Freisetzung des Subjekts zu versprechen.

Mein persönliches Interesse an Hitler verdanke ich der katholischen Jugendarbeit in meiner Heimatstadt Bayreuth. 1973, noch zu Zeiten des kommunistischen Regimes, reiste der damalige Kaplan Josef Kraus mit uns nach Polen. Wir besichtigten Breslau, Krakau, Tschenstochau – und auch die Gedenkstätte des KZ Auschwitz. Dass der zivilisatorische Boden unter unseren Füßen dünn und dass er nicht von den Rändern der Gesellschaft, sondern von ihrer Mitte her gefährdet ist, das wurde mir dort klar und hat mich seitdem nicht losgelassen.

Basis dieses Buches sind Forschungen, die ich bereits vor einiger Zeit im Zusammenhang mit meiner pastoraltheologischen Habilitationsschrift „Kirchenbildung in der Moderne. Konstitutionsprinzipien der deutschen katholischen Kirche“7 unternommen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt habe. Die Ergebnisse wurden erweitert und aktualisiert und werden hiermit einem breiteren, historisch und theologisch interessierten Publikum vorgelegt.

Ottmar Fuchs, Maximilian Liebmann, Lucia Scherzberg, Norbert Reck, Katharina von Kellenbach und Claus-Eckehard Bärsch danke ich für den anregenden Gedankenaustausch über die Fachgrenzen hinweg, ebenfalls Elmar Klinger, der mich als Erster auf Hitler als Thema der Theologie hingewiesen hat. Meine Mitarbeiterin Frau Ingrid Hable hat dieses Buch mit großer Sorgfalt redigiert und zur Veröffentlichungsreife gebracht: hierfür herzlichen Dank!

Ich widme dieses Buch Ernst Ludwig Grasmück zu seinem 75. Geburtstag in dankbarer Erinnerung an die Jahre an seinem kirchenhistorischen Lehrstuhl.

Graz, Januar 2008

Abgrenzungen

I

„Hitlers Theologie“:
Um was es dabei geht
und um was nicht

1. Hitlers Projekt

Der Nationalsozialismus war etwas wirklich Neues: ein für viele faszinierendes Amalgam von technischer Modernisierung, nationalem Gemeinschafts- und sozialem Gleichheitsversprechen, voller ästhetischer Faszinationsangebote und individueller Heroismusanmutung. In ihm schien wieder verbunden, was spätestens in der forcierten Modernisierung der Weimarer Republik, wie viele meinten, auseinandergedriftet war: Individualität und Kollektiv, Modernität und Traditionsanschluss, Freiheit – etwa gegenüber dem altbackenen Christentum – und Gebundenheit ans große Alte. Vor allem aber versprach der Nationalsozialismus die identitätsstiftende Idylle einer „Volksgemeinschaft“ auf kulturell vertrauter, einheitlicher Basis.

Dass solch ein Projekt in einer differenzierten Gesellschaft nur mit massiven Gewalt- und Ausschlussmechanismen funktioniert, war von Anfang an klar und wurde vom Regime auch nie versteckt. Die offene Gewaltbereitschaft all jenen gegenüber, die nicht mitmachen wollten, war spätestens seit dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 und den ihm folgenden Verhaftungswellen offenkundig. Die Ermordung inner- und außerparteilicher Machtkonkurrenten Ende Juni / Anfang Juli 1934, vom katholischen Staatsrechtler Carl Schmitt kurz darauf mit aller juristischer Finesse („Der Führer schützt das Recht“) legitimiert,1 und die früh einsetzende Diskriminierung der jüdischen Deutschen zeigten sehr schnell: Wer nach Hitlers Meinung nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehörte oder nicht dazugehören wollte, der wurde zuerst hinaus- und bald schon in die Vernichtung geschickt. Freilich: Lange wollten sehr viele in Deutschland, und nicht nur dort, dazugehören.2

Der deutsche Nationalsozialismus war in seinem Erfolg zuerst Adolf Hitlers Projekt. Er hat es mit Macht und Geschick durchgesetzt und bis zu seinem Tod nicht aufgegeben. Programmatisch gesehen gilt sicher: Das „Phänomen existierte, bevor jemand von Hitler gehört hatte, und hätte auch weiterhin existiert, wenn er ein ‚Niemand aus Wien‘ geblieben wäre“3. Aber Erfolg hatte es nur mit und durch Hitler. Das lag an der rücksichtslosen Raffinesse, mit der Hitler die Macht errang, aber auch an der spezifischen Färbung, die er der „völkischen Bewegung“ im Nationalsozialismus gab.

Das bedeutet freilich weder, dass alles, was im teilweise polykratisch strukturierten und zunehmend chaotisch regierten „Dritten Reich“ tatsächlich passierte, unmittelbar auf Hitler zurückzuführen wäre, noch umgekehrt, dass alles, was Hitlers Projekt vorsah, auch tatsächlich verwirklicht wurde.4 Ein großer Spielraum substantieller Abweichung dürfte freilich nicht existiert haben. „Sobald er Staatschef war, diente Hitlers persönliche ‚Weltanschauung‘ … als Handlungsanweisung für die Entscheidungsträger überall im Dritten Reich.“5 Hitler selbst gaben, wie Ian Kershaw schreibt, die „Unflexibilität und quasi-messianische Verpflichtung auf eine ‚Idee‘, ein Bündel von Glaubenssätzen, die unveränderlich, einfach, in sich geschlossen und umfassend waren“, die „Willensstärke und das Wissen um das eigene Schicksal, das alle Menschen, die mit ihm in Kontakt kamen, so stark beeindruckte.“6

Hitler hat nie verborgen, was er wollte.7 Im Gegenteil: Wirklich außergewöhnlich war er, außer in der Skrupellosigkeit, nur als Redner. Hitler hat immer wieder öffentlich gesagt, was er plante und dachte. Zu Hitlers Projekt gibt es viele Projektbeschreibungen: Um sie geht es, speziell um ihre theologischen Anteile und deren Stellung in diesem Projekt.

Eberhard Jäckel versuchte 1969 als Erster, die innere Schlüssigkeit von „Hitlers Weltanschauung“8 aufzuzeigen. Jäckel identifiziert die „Eroberung des Lebensraums im Osten“ sowie die „Entfernung der Juden“, wie Jäckel formuliert, als Hitlers zentrale Anliegen.9 Hitler wollte so die von ihm mit allem Hass denunzierten gesellschaftlichen „Dekadenz“-Zustände einer liberalen und pluralistischen Demokratie beseitigen. Radikale Demokratiekritik übten freilich auch die fundamentalkonservative Rechte bis hinein in die Kirchen und, in anderer Weise, die radikale Linke. Was unterschied Hitler von beiden?

Hitler lehnte, wie die Linke und anders als die Rechte, die reaktionäre Restauration vorrevolutionärer Zustände, seien dies nun jene vor 1919 oder gar vor 1789, ab und glaubte an die Unumkehrbarkeit, ja Wünschbarkeit der jeweiligen Revolutionen. Hitler suchte eine neue, nicht-restaurative, aber eben doch anti-pluralistische gesellschaftliche Integrationsbasis. Er wollte mehr als bloß die konservative Restauration vormoderner Ordnungsstrukturen. Anders als die Linke aber suchte er diese Integrationsbasis nicht auf marxistischer „Klassenbasis“, sondern auf der Basis eines noch fiktiveren Konstrukts: der „arischen Rasse“.

Schon in der Begriffsfügung „Nationalsozialismus“ wird der Versuch deutlich, dem seit der Französischen Revolution gebräuchlichen politischen „Links-Rechts“-Schema nach vorne zu entkommen. Damit gerät Hitler in die Nähe zu den zeitgenössischen Theoretikern der so genannten „Konservativen Revolution“.10 Von ihnen unterscheidet sich Hitler aber nicht nur in der Radikalität seines Denkens, sondern vor allem in dessen konkreter Operationalisierbarkeit. Denn konkret politisch umsetzbar waren die reaktionären Visionen der „Konservativen Revolution“ nicht: Über literarisch-kulturelle Wirksamkeit kam sie nie hinaus. Hitler wusste dies nur zu gut.

Indem Hitler wichtige Elemente des nachfeudalen gesellschaftlichen Modernisierungsprogramms in sein Projekt übernimmt, verhindert er, dass es zu einer bloßen konservativen Utopie verkommt. Hitler wollte kein verloren gegangenes vorrevolutionäres Paradies restaurieren, Utopien, wie sie etwa auch in kirchlichen Kreisen gepflegt wurden.11 Die faszinationsgeleitete Einführung neuer Technologien, das Programm einer auf wissenschaftlicher und technischer Dauerinnovation beruhenden Industriegesellschaft, zentrale anti-konservative Ideen wie jene der Chancengleichheit, der Erhöhung vertikaler und horizontaler sozialer Mobilität bis hin zu egalitären Tendenzen etwa im Bildungssystem: mit all dem wurde Hitler anschlussfähig an die Weimarer Republik,12 beerbte er vor allem die Glücksversprechungen der Moderne, einschließlich des Versprechens von deren technologischer Produzierbarkeit und sozialer Zugänglichkeit für alle.

Die Basis von all dem freilich und „heißer Kern“ des Hitlerschen Politikprojekts war ein scharfer rassistischer Anti-Universalismus. Hitlers Projekt läuft auf eine nach innen „harmonisch“ geeinte, nach außen kriegerisch-heroische, rassisch definierte „Volksgemeinschaft“ hinaus. Für sie brauchte er den „Raum im Osten“, aus ihr müssen Angehörige „minderwertiger Rassen“, „Minderwertige“ der eigenen „Rasse“ und vor allem die Juden entfernt werden, aber natürlich auch jene, die sich diesem Projekt entgegenstellen.

Diese deutsche oder arische Volksgemeinschaft ist, so meint Hitler, auf Grund ihrer rassischen Überlegenheit, die sich nicht zuletzt in ihrer kulturellen Überlegenheit zeige, zu nichts weniger denn zur Weltherrschaft berufen. Grundiert und vielleicht auch motiviert13 ist dies alles bei Hitler, dem verhinderten Kunstmaler, mit einem kulturell-ästhetischen Anti-Modernismus, der die Künste, vor allem die bildende Kunst14, aber auch die Musik15 auf den Geschmack der (damaligen) unteren Mittelschichten hin reduziert und trivialisiert.

2. Hitler und die Kirchen

Die Kirchen haben Hitler nicht gewollt, aber auch nicht verhindert.16 Die katholische Kirche konnte zwar weitgehend die Nazifizierung ihrer eigenen Strukturen abwehren, und sie schaffte es, sich, allerdings sehr eingeschränkte, Freiräume zu sichern, die der Herrschaft der Partei mehr oder weniger entzogen waren. Grundlage hierfür war die im Bereich der katholischen Kirche und vor allem im politischen Katholizismus bis 1933 weit verbreitete Ablehnung der Gesinnung, der Ziele und der Methoden der NSDAP. Ausnahmen, wie der Rektor der Anima in Rom, Bischof Alois Hudal17, der berüchtigte Abt Schachleitner18 sowie die so genannten „braunen Priester“19, blieben tatsächlich Ausnahmen.

Ebenso dürfte aber unbestreitbar sein, dass die katholische Kirche weder in Deutschland noch in Österreich die Nazifizierung der gesellschaftlichen Strukturen irgendwann ernsthaft verhindern wollte, als Hitler erst einmal an die Macht gekommen war. Die katholische Kirche unternahm als gesamte und unter der Führung ihrer Bischöfe nie den Versuch, die nationalsozialistische Herrschaft zu stürzen oder auch nur ihre Konsolidierung in den Anfangsjahren zu verhindern.

Im Sinne eines differenzierten Widerstandsbegriffs20 kann der katholischen Kirche als Ganzer also zugesprochen werden, in vielem ein „rivalisierendes Loyalitätszentrum“ geblieben zu sein; auch gab es regional mehr oder weniger spontan kirchlich organisierte Verweigerung und in seltenen Fällen auch aktiven Protest, nie aber offene oder subversive Widerstandstätigkeit, die auf den Sturz des Nationalsozialismus hinarbeitete. Im Sinne dieser höchsten Ebene des Widerstandsbegriffs gab es wohl Widerstand von Katholiken und Katholikinnen, aber keinen Widerstand der katholischen Kirche in ihrer amtlichen Führung.

Aber auch die Katholikinnen und Katholiken waren nach der Konsolidierung des Regimes in den Jahren 1934 bis weit in den Krieg hinein nicht unbedingt partei-, aber doch in hohem Maße staatsloyal. Die unbestreitbaren „Anfangserfolge“ des Regimes (Abbau der Arbeitslosigkeit, Saarabstimmung 1936, Rheinlandbesetzung 1936, Olympische Spiele 1936; Remilitarisierung, erfolgreiche Annexionen der Vorkriegszeit knapp unter der Schwelle zum Krieg; Anschluss Österreichs 1938) verfehlten auch auf die Katholiken und Katholikinnen ihre Wirkung nicht. Ein kritisches politisches Bewusstsein gegenüber der Herrschaftsform Diktatur als solcher war zudem im katholischen Bereich nur bei sehr wenigen vorhanden.

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Der Gehorsam gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit war auch im 19. Jahrhundert von der katholischen Kirche in Lehre und Verkündigung stets betont worden.21 Andere moraltheologische Traditionen, die etwa die Legitimität eines Tyrannenmordes durchaus denken konnten, kamen demgegenüber nicht zum Zug. Überhaupt hatte das kirchliche Lehramt im 19. Jahrhundert zur Abwehr der modernen Pluralität und Liberalität Gehorsam und Unterordnung als die herausragenden katholischen Tugenden gepredigt. Solch eine extreme Herausstellung des Autoritätsprinzips förderte natürlich obrigkeitsstaatliche Traditionen, ja schien sie geradezu zu rechtfertigen. Demokratie und Liberalismus wurden von weiten Teilen der katholischen Kirche als Gegner, nicht als zu verwirklichende Zielgrößen betrachtet.

Es gab zudem in den 30er Jahren eine gewisse gesamtkirchliche Anfälligkeit für autoritäre Regime. Die Kirche war in Italien und Spanien offen als Partnerin des Faschismus bzw. Francos und in Österreich als Protektorin, ja Ideengeberin des autoritären Ständestaates aufgetreten. Wenn sich auch der deutsche Nationalsozialismus deutlich vom romanischen Faschismus und noch mehr vom österreichischen Ständestaat unterschied und es daher auch nie zu einem vergleichbaren Bündnisschluss zwischen Kirche und Nationalsozialismus kam, so war die mangelnde internationale Faschismusabwehr der katholischen Kirche für die deutsche katholische Kirche und die prodemokratischen Kräfte in ihr, etwa im Laienkatholizismus, dennoch eine schwere Hypothek.

Das im Juli 1933 geschlossene deutsche Reichskonkordat zwischen Hitler und dem Papst schien die gefährdete Besitzstandswahrung der kirchlichen Institution zu garantieren. Diese Sicherung der institutionellen Integrität wurde als vorrangig und letztlich genügend angesehen.22 Hitler hatte immer nur eine kleine Minderheit in den beiden großen Konfessionen als Gegner. Die Mehrheit arrangierte sich mit ihm.

Die Wertung dieser Tatsache differiert bis heute erheblich. Das ist nicht weiter erstaunlich, insofern die Wertungshorizonte historischer Tatsachen und letztlich schon ihre Entdeckungszusammenhänge stark von vorgegebenen Ausgangspositionen abhängen. Bei einer selbst mit hohem moralischem Anspruch und lange auch enormer gesellschaftlicher Sanktions- und psychischer Regulierungsmacht auftretenden Institution wie der katholischen Kirche differieren diese Wertungshorizonte umso sehr, nicht zuletzt übrigens auch theologie- und kirchenintern.

Die Differenz läuft im Kern darauf hinaus, ob man zur Bewertung des Verhaltens der kirchlichen Akteure die damals dominierende, stark institutionalistische und apologetische Ekklesiologie zu Grunde legen soll, was das kirchliche Handeln zumindest moralisch in einem günstigeren Licht erscheinen lässt, oder die nachkonziliare, stärker an einer Menschenrechtsoption orientierte pastorale Aufgabenbeschreibung der Kirche als „universales Heilssakrament“, was die Entsolidarisierung der Kirche gegenüber jenen, die ihr nicht angehörten, und auch teilweise gegenüber ihren eigenen Angehörigen, etwa getauften „Nicht-Ariern“, zu einem fundamentalen Versagen vor der eigenen Botschaft macht. Historisch und individual-ethisch betrachtet liegt Ersteres nahe, theologisch Letzteres. Freilich können die kritischen Ansätze nachweisen, dass die nachkonziliare universalistische Position damals zwar nicht dominant, aber eben doch auch präsent war, etwa bei Bischof Preysing23 oder dem sog. „Ordensausschuss“24, und damit just bei jenen, die eine Alternative zur offiziellen Politik der Bischofskonferenz vertraten.25

3. Der „nationalsozialistische Kult“

Dass der Nationalsozialismus den Kirchen auch auf ihrem eigenen Gebiet, der religiösen Formierung des Lebens, Konkurrenz machte, fiel ihnen bald auf. Vor allem die „neu-heidnischen“, gerade in der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung starken anti-christlichen Tendenzen beunruhigten die Kirchen. Man hatte davor gewarnt, dass sich „eine neue Weltanschauung an die Stelle des christlichen Glaubens setzen“26 wolle. Zumal diese nicht nur Theorie und „Weltanschauung“ blieb, sondern auch alternative religiöse Praktiken hervorbrachte.

Dabei erwies sich der Versuch des Nationalsozialismus, unmittelbar in christliche Domänen, etwa das Weihnachtsfest, einzudringen, als nicht sehr erfolgreich: Er blieb im Wesentlichen auf die eigene Kernanhängerschaft beschränkt. Es gelang etwa nie wirklich, christliche Weihnachtslieder flächendeckend durch sublim nationalsozialistische Neuschöpfungen ohne christlichen Bezug („Hohe Nacht der klaren Sterne“)27 zu ersetzen.28

Erfolgreicher war da schon der umgekehrte Weg: der Import christlicher und außerchristlicher Ritualtraditionen (Weihen, Prozessionen, Wallfahrten, Gedächtnisfeiern) in die nationalsozialistische Herrschaftspraxis. Dass zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik kultische Inszenierungen auf den verschiedensten Ebenen und in den verschiedensten Varianten ganz wesentlich gehörten, das wurde früh erkannt und in den letzten Jahren auch detailliert analysiert.29

Das Spezifische des Nationalsozialismus waren dabei nicht nur die Monumentalität und der hemmungslose Wirkungswillen, sondern auch die Radikalität, mit der neueste technische Mittel für die kultischen Inszenierungen eingesetzt wurden. Spektakuläres Beispiel dieser Inszenationskraft und technischen Innovationsphantasie sind etwa die „Lichtdome“ der Reichsparteitage. Am Abend des fünften Tages stand die nächtliche Weihestunde der „Politischen Leiter“, also der kleineren und mittleren Parteifunktionäre, auf dem Programm. Seit der Premiere des „Lichtdoms“ 1934, beim „Reichsparteitag des Willens“, galt diese von Albert Speer geschaffene imaginäre Kathedrale als Höhepunkt jedes Parteitages und als Intensiverfahrung der nationalsozialistischen Liturgie.

Mit Einbruch der Dämmerung formierten sich über 100 000 Funktionäre in einem dichten braunen Block auf dem „Zeppelinfeld“ des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes; auf den Tribünen um sie herum wartete noch einmal die gleiche Zahl an Zuschauern. Ein Fanfarenstoß kündigte Hitler an. Hunderte rote Parteifahnen flatterten im Wind, angestrahlt auch sie. Der Säulengang der Haupttribüne war von innen indirekt ausgeleuchtet, auf den Eckpfeilern der Tribüne loderten Feuer.

Just zu dem Zeitpunkt, da Hitler die Tribüne hinaufschritt, entstand der riesige „Lichtdom“. Im Abstand von zwölf Metern waren um das ganze Feld 152 Flakscheinwerfer postiert, die acht Kilometer hoch ihr Licht warfen. Der Eindruck überwältigte. Nach einem Moment der Stille wurden dann die 25 000 Fahnen aller NS-Ortsgruppen, kunstvoll ausgeleuchtet auch sie, hereingetragen, dazu vergoldete Adler auf Standarten. Es folgten Totenehrung und Weihlied, dann eine kurze Ansprache Hitlers, Heilrufe und die Nationalhymne. So wurde man kleiner NS-Funktionär.

Wie bisweilen bei allzu Erhabenem, ist auch hier das Lächerliche nicht weit. Albert Speer „erfand“ den „Lichtdom“, weil, im Unterschied zu den disziplinierten und schlanken Männern von SS und Wehrmacht, die braunen Funktionäre zumeist „ihre kleinen Pfründen in ansehnliche Bäuche umgesetzt“ hatten, wie Speer in seinen „Erinnerungen“ schreibt, weshalb er eben vorgeschlagen habe, sie „in der Dunkelheit aufmarschieren“30 zu lassen.

Ohne Zweifel: Die Nationalsozialisten verstanden etwas von Kult und Liturgie, und der Nationalsozialismus hat nicht nur durch Terror und Gewalt, sondern auch durch erlebbare Faszination und ästhetische Verführung geherrscht. Er erschloss seinen Anhängern kultische Erlebnisintensitäten, insofern er das Religiöse primär ästhetisch und in kollektiven Erfahrungsorgien vermittelte. Mit dieser Strategie unterlief er sowohl die aufklärerische Religionskritik des 18. und 19. Jahrhunderts wie den Rationalismus einer sich in das neuscholastische, anti-aufklärerische Ghetto flüchtenden katholischen Theologie und Kirche.

Die liturgisch-kultische Kompetenz des Nationalsozialismus, in Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm „Triumph des Willens“ aus dem Jahre 1935 noch einmal verdichtet, konserviert und verbreitet, war ebenso schlagend wie auffällig. Auch ihr Zusammenhang mit Hitlers Theologie ist offenkundig: nicht nur, weil Hitler es war, der im Mittelpunkt der allermeisten dieser Liturgien stand und sie, wenn nicht selbst inszenierte, doch akribisch überwachte. Vor allem: Hitlers Liturgien waren die liturgische Feierseite seiner Theologie, inszenierten sie als mächtiges Erlebnis. Das aber legt die Frage nahe: Welche Theologie feiert hier ihren Glauben? Welcher Glaube verleiht sich hier ästhetische und rituelle Gegenwart?

4. „Hitlers Religion“

Diese Frage ist freilich zu unterscheiden von jener nach „Hitlers Religion“. Es geht in diesem Buch nicht um den von Hitler persönlich zutiefst geteilten Glaubensinhalt oder gar um seine persönliche Religiosität im Sinne seines Glaubensvollzugs.31 Aussagen über persönlich geteilte Glaubensinhalte oder über persönliche Glaubensvollzüge, und die müssten gewagt werden, wollte man wirklich von „Hitlers Religion“ sprechen, sind ausgesprochen schwer zu treffen und noch schwerer zu belegen, von historischen Personen gleich gar. Denn sie betreffen, wie immer man auch Religion definieren mag, das Innerste des Menschen, seine tiefsten Überzeugungen, sein Verhältnis zu Welt und Kosmos überhaupt. Es geht in diesem Buch um das, was Hitler gesagt und geschrieben hat.

Manche Indizien sprechen allerdings dafür, dass Hitler an das, was er zu Gott, Vorsehung, Glaube, Erwählung und ähnlichen Themen geschrieben und gesagt hat, auch persönlich glaubte, es sich also um von ihm geteilte Anschauungen handelte. So fällt etwa die Häufigkeit wie auch die geradezu unheimliche Konstanz seiner entsprechenden Aussagen auf. Mit nur kleinen Varianten finden sie sich von den frühen Reden der so genannten „Kampfzeit“ über „Mein Kampf“ bis zu seinen letzten Schriften und Äußerungen in den ersten Monaten des Jahres 1945.

Zudem wurde das, was ich im Folgenden als „Hitlers Theologie“ zu rekonstruieren versuche, offenkundig handlungsleitend. Es ist ebenso auffällig wie erklärungsbedürftig, dass Hitler die Ermordung des europäischen Judentums fanatisch weiterbetrieb, selbst als auch für ihn unübersehbar war, dass dies Deutschland und ihn selbst vernichten würde und ein anderer Einsatz der letzten Ressourcen, etwa für die Landesverteidigung, eigentlich näher gelegen hätte.32 Das lässt auf tiefere, ereignisunabhängige, in hartnäckigen Überzeugungen wurzelnde Handlungsgründe schließen.

Sicher: Hitler instrumentalisiert auch religiöse Praktiken und Inhalte mit einigem Zynismus und Raffinesse. Seine Auftritte bei den nationalsozialistischen Massenliturgien etwa sind einstudiert und von kühler Rationalität. Andererseits aber verfällt Hitler offenkundig auch seinen eigenen Inszenierungen und bejaht in seinen Äußerungen überdeutlich die Authentizität des Religiösen. Hitler hat sich bekanntlich selbst als „gottgläubig“ bezeichnet, und niemand Geringerer als Kardinal Faulhaber hat es ihm nach seinem Besuch auf dem Obersalzberg am 4.11.1936 bescheinigt: „Der Reichskanzler lebt ohne Zweifel im Glauben an Gott“33, so Faulhaber in einem Schreiben an die bayerischen Bischöfe. Hitlers Einstellung zu konkreten religiösen Praktiken wird man daher vielleicht am ehesten als „semi-instrumentell“ bezeichnen können.

Hitlers Theologie orientiert die Prioritäten seines Handelns. Sie wurde zwar nicht zur offiziellen Doktrin des Nationalsozialismus, da gab es immer auch andere, wenn auch verwandte Entwürfe, etwa von Himmler34, Ley35 oder Rosenberg36: Rassistisch waren sie alle, unterschiedlich aber in ihrer Nähe und Distanz zum „völkischen Neuheidentum“, zum Monotheismus oder generell zur Frage nach dem Verhältnis von Rationalität und Glaube. Himmler etwa war Monotheist und gleichzeitig Anhänger okkulter Praktiken, Hitler Monotheist und Gegner alles Okkulten, andere waren tatsächlich polytheistische „Neuheiden“.

Zudem bekannte sich die NSDAP offiziell zum „positiven Christentum“, was immer das auch genauer sein sollte. Für Hitler selbst aber war seine Theologie offenkundig ein gültiger Maßstab: Immer wieder kommt er darauf zurück, immer wieder orientiert er sich an ihren Grundgedanken, immer wieder auch veröffentlicht er sie. Selbst als die Wirklichkeit sich ganz anders zeigt, als es seine Theologie erwarten ließ, gibt er sie nicht auf, eher schon sich und das deutsche Volk. Hitler wählt nicht den Weg des „Abfalls“, sondern jenen der Selbst- und, zumindest intentional, auch der Weltvernichtung. Wort und Tat stimmen bei ihm durchaus überein. Hitler hat nach seiner Theologie gehandelt: Einen stärkeren Beweis für ihre persönliche Relevanz kann es rein immanent betrachtet kaum geben.

Es wird darum gehen, von welchem Gott diese Theologie spricht und welche Anweisungen er gibt. Nicht Hitlers schwer eruierbare persönliche Religiosität wird also rekonstruiert werden, sondern Hitlers politische Projektbeschreibung und ihre theologischen Begründungsstrukturen. Das aber kann nachgeprüft werden: Denn Hitler hat immer wieder davon gesprochen.

5. Nationalsozialismus als „Politische Religion“

Nun hatten bereits Zeitgenossen den Nationalsozialismus als Ganzes als „Politische Religion“37 begriffen und damit versucht, ihn primär von einer religionswissenschaftlichen Perspektive her zu verstehen. Der Erste, der diesen Analyseansatz für den Nationalsozialismus wählte, war der emigrierte österreichische Philosoph und Staatsrechtler Eric Voegelin. In seinem Werk „Die politischen Religionen“38 bestimmt er sie als politische Massenbewegungen, die Innerweltliches wie Staat, Rasse oder Klasse mit dem Ziel sakralisieren, einen innerweltlichen Idealzustand herbeizuführen.

Voegelin vertritt die These, dass moderne Totalitarismen säkularisierte Formen ehemals absoluter kirchlich-religiöser Gewissheiten darstellten. Der Zerfall klassisch-kirchlicher Autorität in der Moderne habe zum Entstehen innerweltlicher Religionen geführt, die an die Stelle eines transzendenten Gottes immanente Phänomene setzten, welche für die Anhänger dieser „Politischen Religionen“ nun aber eben jenen religiösen Stellenwert besitzen, wie er einstmals den kirchlichen Glaubensinhalten zukam.

Politische Religionen verkörpern für Voegelin also Heilslehren, die, wie die klassischen Religionen, das Ganze der Geschichte erklären, anders als sie aber ein in der Geschichte erreichbares Endziel der Geschichte vorstellen. Diese Erreichbarkeit rechtfertigt nun aber absolute Gewalt, nicht als Ausbruch roher Leidenschaften, sondern als kalte Exekution einer erkannten Logik, als „Säuberung“ und „Befreiung“. Politische Religionen seien also nicht einfach ein Rückfall in frühere Grausamkeiten, sondern Ausdruck eines neuen immanenten, aber absoluten Glaubens.

Voegelins Ansatz wurde von Anfang an kritisch diskutiert. Die Einwände gegen Voegelin laufen darauf hinaus, seinen weiten Religionsbegriff zu kritisieren, der letztlich nur rein Immanentes umfasse, zudem absolut Grausames, ja Grausamstes, und bei der Anwendung auf den Nationalsozialismus davon ausgehe, dass dieser ein halbwegs geschlossenes, in sich konsistentes System gewesen sei.

Genau diese drei Voraussetzungen Voegelins – dass es sinnvoll ist, auch von rein immanenten Religionen zu sprechen, dass Religionen nicht nur das Höchste, sondern auch das Grausamste umfassen und dass der Nationalsozialismus zwar ein primitives, aber zumindest bei Hitler ein in sich relativ kohärentes System darstellt – dürften heute wieder plausibler geworden sein. Die totalitären politischen Projekte des 20. Jahrhunderts können als Risikovarianten einer aufgeklärtmodernen Trennung von Religion und Politik verstanden werden, insofern sie diese Trennung wieder zurücknehmen, Politik also resakralisieren, diesmal aber von der unabhängig gewordenen Sphäre des Politischen aus. Darauf wird noch einzugehen sein.

Dennoch: Der Ansatz dieser Untersuchung ist im gewissen Sinne bescheidener. Es geht hier nicht darum, Voegelins universalhistorischen Ansatz fortzuschreiben, sondern Hitlers Texte auf ihre theologischen Kategorien hin zu analysieren.

6. Zum verwendeten Theologiebegriff

Freilich, von einer „Theologie“ bei Hitler zu sprechen, provoziert. Es provoziert Theologen, denn sie finden sich plötzlich in einer Nachbarschaft, die schrecklicher nicht sein könnte. Es provoziert aber auch Christen und andere gläubige Menschen, denn das, woran sie glauben, Gott, wird scheinbar in die Nähe eines der größten Verbrecher der Weltgeschichte gerückt.

Nun wissen Theologen, dass „Theologie“ kein geschützter Begriff ist und es viele höchst unterschiedliche Theologien gab und gibt. Nach langen Jahrhunderten, da die christliche(n) Kirche(n) bestimmte(n), was Theologie ist und sein darf, öffnete sich das Feld der „Theologien“ im 18. Jahrhundert nach und nach wieder über das Christentum hinaus, zuerst für die Gelehrten, im 19. Jahrhundert aber in der Weite der Gesellschaft. Heute, nach dem definitiven Ende der kirchlichen Sanktionsmacht und der endgültigen Freisetzung zu religiöser Selbstbestimmung39, ist das „theologische Feld“ trotz der nach wie vor starken institutionellen Stellung der christlichen Kirchen breit, offen und vielfältig besetzt.

Gläubige können aus der Geschichte zudem lernen, dass Religion und ihre theoretischen Konzepte weder harmlos noch gewaltfrei sind. Eher im Gegenteil. „Die unkritische Gleichsetzung von Religion und Güte wird durch schlichte Fakten direkt widerlegt. Religion kann das Hauptinstrument des Fortschritts sein und ist es auch gewesen. Wenn wir aber das gesamte menschliche Geschlecht in Betracht ziehen, müssen wir betonen, dass es sich im Allgemeinen nicht so verhalten hat.“ Ja: „Religion ist die letzte Zuflucht menschlicher Grausamkeit.“40 Die aktuelle Remilitarisierung des Religiösen in spezifischen Weltgegenden lehrt zudem, dass dies keineswegs nur ein Phänomen der Vergangenheit ist. Im Gegenteil, Religion ist zurück und zeigt dabei, neben ihrem gütigen Antlitz, immer wieder auch ihr hässliches Gesicht: Scheinheiligkeit, Lieblosigkeit und Gewalttätigkeit. Die liberale Illusion jedenfalls, man ginge einer global säkularisierten Weltgesellschaft mit harmlos-friedlich individualisierter Religionspraxis entgegen, ist verblasst.

Theologie und Religion sind weder christliche Reservate noch an und für sich etwas Gutes. Von „Hitlers Theologie“ zu sprechen setzt also voraus, den Begriff Theologie nicht für ein Reden und Denken über Gott zu reservieren, dem man zustimmen kann, sondern für alles Reden über Gott und auch und gerade seine Folgen.

Es setzt zweitens voraus, dass man unter „Theologie“ nicht nur wissenschaftlich-akademische Theologie versteht. Die hat Hitler natürlich nicht betrieben, wenn er auch mit seiner berühmt-berüchtigten Halbbildung immer wieder selbst seinen wissenschaftlichen Gesprächspartnern imponieren konnte und, wie noch zu zeigen sein wird, der Ansicht war, dass seine Theologie auf wissenschaftlicher, letztlich naturwissenschaftlicher Basis stünde. Hitlers Theologie weist aber eben doch, bei aller Vulgarität und Primitivität, eine gewisse innere Konsistenz und Kohärenz auf.

Den Begriff „Theologie“ nicht nur für ein zustimmungsfähiges Reden über Gott zu reservieren und auch nicht auf wissenschaftlich-akademisches Reden über Gott einzuschränken ist heute eher unüblich. Das war aber nicht immer so. Im gewissen Sinne war es ganz am Anfang der Christentumsgeschichte sogar umgekehrt. Die frühe Christenheit etwa hat den Theologiebegriff ausdrücklich zurückgewiesen. Im ganzen Neuen Testament findet er sich nicht und noch bei den frühen Kirchenvätern wird er negativ-kritisch gebraucht. Denn so, wie er in der griechischen Umwelt vorlag, war er für die christliche Reflexion des Glaubens schlicht nicht annehmbar. Es war die Nähe zu nicht-christlichen, mythisch-kultischen Zusammenhängen, welche die frühen Theologen des Christentums davon abhielt, den Theologiebegriff auf sich und das, worum es ihnen ging, zu beziehen.41

Theologie wird im Folgenden wörtlich verstanden als „Rede von Gott“, allerdings, und das entspricht wieder heutigem Allgemeinverständnis, als Rede von Gott mit individueller Relevanzoption, mit persönlichem Konsequenzpotential, auch bis hin zur Rede zu Gott, also dem Gebet. Denn gerade dies kann man Hitler nicht absprechen.

Natürlich ist Hitler kein christlicher und auch kein wissenschaftlicher Theologe, aber er verkündigt sein Politikprojekt im Namen eines Gottes, und das vom Beginn seines öffentlichen Redens bis zu seinen letzten dokumentierten Äußerungen. Die Theologie dieser Verkündigung kann man erheben. Die Texte Hitlers verkörpern einen genuinen theologischen Diskurs im genannten Sinne. Leider verkörpern sie mehr als bloß eine wirkungslose Privatmythologie.

7. Nur Rhetorik?

Dass Hitlers Rhetorik42 zentral mit Stilelementen der religiösen Sprache43 und mit theologischer Begrifflichkeit arbeitete, wurde ebenfalls früh notiert. Kenneth Burke, der amerikanische Kommunikationstheoretiker, stellte bereits 1939 in seinem brillanten Essay über „Die Rhetorik in Hitlers ‚Mein Kampf‘ “ fest: „Hitlers Denkschemata sind nichts anderes als pervertierte oder karikierte Formen religiösen Denkens.“444546