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Christian Hennecke · Dieter Tewes · Gabriele Viecens
Herausgeber

Kirche geht …

Die Dynamik
lokaler Kirchenentwicklungen

Christian Hennecke
Dieter Tewes · Gabriele Viecens

Herausgeber

Kirche

geht …

Die Dynamik
lokaler Kirchenentwicklungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund
Umschlagbild: Gettyone
Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de)
Druck und Bindung: CPI, Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-429-03590-7 (Print)
ISBN 978-3-429-04694-1 (E-Book PDF)
ISBN 978-3-429-06093-0 (e Pub)

Inhalt

Christian Hennecke: Einleitung

Hinwege

Franz Weber: Ja, Kirche geht …

Valentin Dessoy: Kirche könnte gehen …

Weltkirchliche Wegerfahrungen

Jean Paul Russeil: Ein Weg des Glaubens in der Sendung der Kirche: die örtlichen Gemeinden

Gisèle Bulteau: Örtliche Gemeinden begleiten

Eric Boone: Aus- und Weiterbildung der örtlichen Gemeinden

Bischof Gilles Côtés SMM: Die Kirche zu den Menschen bringen!

Wegmarken

Hermann J. Pottmeyer: Der Wandel des Kirchenbildes im und nach dem II. Vatikanum

Christian Hennecke: Was meint Lokale Kirchenentwicklung – ein theologischer Werkstattbericht

Weggeschichten

Martin Piller, Marianne Reiser, Priska Blattmann: Wie hat sich die Kirche in Maria Lourdes, Zürich-Seebach, in den letzten 10 Jahren entwickelt?

Matthias Eggers, Christiane Kreiss, Cathrin Kuffner: Wolfenbüttel – Von Wegen lokaler Kirchenentwicklung

Marktplatz – Weg-Geschichten lokaler Kirchenentwicklung

Aufbruch

Alfons Vietmeier: Eine Vision gewinnt Gestalt – Merkmale der Kirche der Zukunft, vor Ort

Franz Weber: (Eindrücke und Rückblicke) – Wahrnehmungen und Ermutigungen

Schlusswort

Christian Hennecke: Kirche geht weiter – Schlusswort

Christian Hennecke

Einleitung

Das Symposion in Lingen war das dritte in einer Serie von theologisch-praktischen Vergewisserungen. Die Absicht und das Ziel wiesen in eine Richtung: Es ging darum, immer tiefer in eine weltkirchliche Lernbewegung einzutreten. Es ging präziser noch darum, theologisch zu reflektieren und zu vertiefen, was hinter der Erfahrung und Faszination des weltweiten kirchlichen Phänomens der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ steckt.

Ein weltkirchlicher Aufbruch

In einem ersten Lernschritt war seit 2008 deutlich geworden, dass Kleine Christliche Gemeinschaften und kirchliche Basisgemeinschaften als Sozialformen gelebten Kircheseins einerseits ganz in der Linie einer geistlich-theologischen Rezeptionsbewegung des II. Vatikanischen Konzils liegen, der es um eine spirituelle Erneuerung aus dem Wort Gottes geht. Was weltweit Praxis geworden ist, und im Begriff des „gospel sharings“ (Bibelteilen – Gemeinschaft im Wort) einen Weg beschreibt, wie alle Christen im Raum der Gegenwart des Auferstandenen gemeinsam das Wort des Lebens „berühren“ können, konnte theologisch beschrieben und verantwortet werden im Rückgriff auf die Lehre der „loci theologici“ und damit den unterschiedlichen Erkenntnisorten und Erkenntniswegen Gottes. Damit war auch klar, dass die Kirche in ihrem Umgang mit der Schrift sich ergänzende Zugänge kennt. Das Bibelteilen findet so seinen Ort in den Prozessen der Ekklesiogenese, als „ecclesia ex auditu“ gewissermaßen, inmitten einem Gefüge der Schriftauslegung zwischen Exegese und öffentlicher Verkündigung.

Kleine Christliche Gemeinschaften tragen in ihrer Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum einen ekklesiopraktischen Code in sich, der sie praktisch zu spirituellen Selbsthilfegruppen werden ließ. Sie traten in eine Lücke, die die an vielen Orten spürbare spirituelle Erschöpfung einer klassischen Gemeindegestalt ließ. Kleine Christliche Gemeinschaften scheinen so einer praktischen Interpretation der Communiotheologie verpflichtet, in der Communio verstanden wird als bergende Gemeinschaft, die dann aber zum einen leicht abgeschlossen ist – und die eigentliche Sendung draußen läßt. Genau diese Herausforderung ließ sich ja allüberall entdecken: Wieso ist nicht nur im deutschsprachigen Raum das Risiko so hoch, dass lokale Formen des Kircheseins ihre Sendungsdimension vergessen, wieso wurde in der deutschsprachigen Rezeption des Bibelteilens, aber auch in anderen Wegen wie der lectio divina, die Dimension des gemeinsamen Handelns ausgeblendet, oder doch einfach individualisiert?

Kirche in der Nachbarschaft

Genau diesen Fragen widmete sich das 2. Symposion im Jahr 2010: Unter dem Stichwort der „Rückkehr der Verantwortung“ wurde zum einen deutlich, dass die Rede von den Kleinen Christlichen Gemeinschaften nicht auf eine neue Kleinegruppenstruktur bestehender Gemeinden zielt, sondern auf eine Kirchenentwicklung, die sich als Gemeinschaft im Dienst an der Nähe des Reiches Gottes versteht. Was pastoraltheologisch mit der Rede von der „Pastoralgemeinschaft“ gemeint ist, kann hier praktisch entfaltet werden. Und genau das entspricht den Zeichen einer Zeit, in der Community-organizing und solidarische Nachbarschaftsinitiativen ganz gegen die Einschätzung depressiver Zeithermeneutik auf Potentiale der Solidarität und der Hingabefähigkeit verweisen, die häufig nicht gewürdigt werden.

Sind Kleine Christliche Gemeinschaften also nicht zuerst spirituelle Selbsthilfegruppen und verbleiben sie nicht im Dunstkreis selbstgenügsamer Gemeinschaftsfindung, dann geht es hier in der Tat um eine Neuausrichtung des Kircheseins am Ort – und damit um eine pastorale Vision und einen pastoralen Ansatz, der umfassender als vermutet Entwicklungsprozesse der Kirche fördern will, die auf eine praktische Alltagsrezeption prophetischer Intuitionen des II. Vatikanischen Konzils zielen.

Auf dem Weg zu einer Lokalen Kirchenentwicklung

„Your Germans have a further step to do“, so sagte uns schon im Jahr 2008 Estela Padilla, die Theologin des philippinischen Pastoralinstituts Bukal Ng Tipan. Sie hatte recht: Was wir rezepiert hatten, war eine Faszination und eine Sozialform. Was wir übersehen hatten, das war die theologische und ekklesiogenetische Architektur, die solche Entwicklung ermöglicht. Und in der Tat: Die weltkirchliche Faszination greift ja zu kurz, wenn sie Basisgemeinden und Kleine Christliche Gemeinschaften als Pastoralprodukt und Methode installieren will, ohne wahrzunehmen, dass dahinter langfristig angelegte Prozesse der Kirchenentwicklung standen, die in Diözesen und Kontinentalkirchen meist lange Anwege der Bewußtseinsbildung und pastoraler Bildungs- und Entwicklungsarbeit bedeuteten.

Es wurde uns immer deutlicher, dass es jeweils um einen inkulturierten Ansatz einer Kirchenentwicklung ging, der Grundwerte und Grundoptionen des II. Vatikanischen Konzils aufgriff, die 50 Jahre nach dem Konzil und angesichts der Umbrüche der Kirche im deutschsprachigen Raum neu zum Leuchten kommen wollen: Die Erfahrungen im Dialog mit dem französischen Bistum Poitiers ließen uns verstehen, dass die Taufwürde und die Orientierung an der Vertiefung der eigenen Taufexistenz notwendiger Hintergrund eines kirchlichen Neuaufbruchs vor Ort sind. Der asiatische Pastoralansatz (AsIPA), auf dem die Entwicklung Kleiner Christlicher Gemeinschaften in Asien ruht, entfaltet eine Kirchenkultur, die durch ein Höchstmaß an Partizipation gekennzeichnet ist. Durch die Begegnungen auf Exposurereisen wurde auch immer klarer, dass ohne eine achtsame Inkulturation dieser Kultur das Risiko ekklesialer Sonderwelten droht.

Resonanzen

Die Konsequenz lag auf der Hand: Weil es nicht um kirchliche Substrukturen in größeren Pastoralräumen geht – und schon gar nicht um eine spirituelle Gruppenbewegung, sondern um einen zu entwickelnden visionär orientierten und ekklesiopraktischen Pastoralansatz –, trat die Rede von Kleinen Christlichen Gemeinschaften zurück. In den Vordergrund trat die Entwicklungsdynamik der Kirche vor Ort. Wir fanden den Begriff der Lokalen Kirchenentwicklung.

Seit dem Jahr 2011 entwickelt dieser Begriff eine erstaunliche Dynamik im deutschsprachigen Raum. Auslöser sind Erfahrungen im Bistum Hildesheim, die in einer pastoralen Richtungnahme mündeten. Im Frühjahr 2011 veröffentlichte Bischof Norbert Trelle ein Hirtenwort unter dem Leitwort der Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung und beschrieb darin wichtige Orientierungen im Blick auf eine Kultur des Kircheseins. Diese Kultur und diese Dynamik des Kircheseins genauer zu fassen, sie theologisch zu reflektieren und in Erfahrungen zu evaluieren, darum ging es beim Symposion in Lingen.

Es steht im Kontext einer erstaunlichen Resonanzbewegung: Die Erfahrungen bei Dekanatstagen und Tagungen, die Workshops und Summerschools, die wir in den letzten Jahren initiiert haben, die weltkirchlichen Pastoralexposure von Missio erlebten ein ungeheuer großes Interesse in Diözesen des gesamten deutschsprachigen Raums. Es verweist auf einen vorsichtigen Stimmungswechsel: von einer eher depressiven Ratlosigkeit hin zu einer vorsichtigen Hoffnung, vor allem hin zu dem Wunsch nach Neuorientierung. Das läßt sich ganz leicht an Zahlen ablesen: Das Symposion in Lingen wurde von Anmeldungen geflutet, und auch der im Februar 2013 stattfindende ökumenische Kongress Kirche2 war schon Monate vor Anmeldeschluss mit über 1000 Anmeldungen ausgebucht.

Wie Kirche geht

Auf diesem Hintergrund wollte das Symposion in zwei Richtungen die Linien weiter ausziehen und theologische Klärungsarbeit leisten. Dabei ging es zum einen darum, die sich weiter konturierende ekklesiologische Vision einer partizipativen Kirche zu konkretisieren: Wenn dieses Bild einer Kirche im Dienst am Reich Gottes farbig erfahren und beschrieben werden kann – und die weltkirchlichen Erfahrungen geben uns dabei eine gute Sehhilfe, um die eigene Entwicklung in diese Richtung zu entdecken –, dann geht es nun darum, tiefer von der Prozessdynamik zu lernen. Die Erfahrungen der pastoralen Entwicklung im Erzbistum Poitiers wie auch der Pastoralprozess in Papua Neuguinea ermöglichten tiefe Einblicke in Prozesse, die auch im deutschen Sprachraum an der Zeit sind.

Zum anderen aber standen anfanghafte Erfahrungen konkreter Pastoralprozesse im Mittelpunkt des Kongresses: Was in den vergangenen Jahren in Zürich und Wolfenbüttel gewachsen ist, verweist auf eine inkulturierte Lokale Kirchenentwicklung. Appetizer aus verschiedensten Pfarreien machten deutlich, dass „Kirche geht“.

Auf der Schwelle …

So sehr es wichtig ist, eine Vision immer neu zu vergegenwärtigen, damit die theologische Rückbindung an die große Tradition der Kirche vertrauensvolle und mutige konkrete Schritte auf dem Weg möglich macht, so sehr ist in Lingen deutlich geworden, dass die Kirche in Deutschland in Bewegung geraten ist, nicht chaotisch, sondern verheißungsorientiert. An vielen Orten wird sichtbar, dass Neues wächst. Zugleich aber tritt ein neuer Stil der Theologie hervor, der in Lingen anfanghaft zu spüren war. Theologie, Spiritualität und Ekklesiopraxis verbinden sich zu einem Gefüge: Das Teilen der Schrift, der Austausch der Glaubenserfahrungen, die Feier der Liturgie und das gemeinsame Nachdenken bilden ein Gefüge kirchlicher Erfahrung, die ja genau auch dem pastoralen Weg einer Lokalen Kirchenentwicklung entspricht.

Hinwege

Franz Weber

Ja, Kirche geht …

Ein persönliches und pastoraltheologisches Bekenntnis zur Dynamik lokaler Kirchenentwicklung

Geht Kirche wirklich? Wer „macht“, wer bewirkt, dass Kirche auch heute „geht“? Am Beginn dieses Symposions seien hier als erster Impuls zur Thematik dieses Symposions einige Gedanken formuliert, die biographischer und theologisch spiritueller Natur sind und die den Blick bewusst über den Horizont der katholischen Kirche in Deutschland in die Weltkirche hinein weiten wollen.

Nehmen wir zunächst für die gesellschaftliche Situation der Kirche im deutschsprachigen Raum nüchtern zur Kenntnis: Für viele Menschen hierzulande geht Kirche nicht mehr. Und sie ziehen daraus die Konsequenz, dass sie gehen, weggehen und austreten. Sie tun das mit Gründen, die sie konkret benennen, aus Enttäuschung, vielleicht auch verletzt, manche mit einer klaren Entscheidung, weil sie in dieser Kirche, wie sie lebt und erlebt wird, nicht die Gemeinschaft finden, die sie suchen, andere auch leichtfertig und leichtsinnig, ohne tiefere Motivation und häufig eben auch nur aus finanziellen Gründen. Bis in die Kernschichten unserer Pfarreien hinein sind Menschen von der Kirche enttäuscht, weil in ihr offensichtlich nichts weitergeht, weil diese Kirche nicht mehr geht, sondern steht, stehen geblieben ist. Diesen Eindruck haben viele, und das wohl nicht ganz zu Unrecht.

Das ist freilich nur die eine Seite der Realität unserer katholischen Weltkirche, zu der sich weltweit weit über eine Milliarde Menschen bekennt. Jedes Jahr kommen – rein statistisch gesehen – einige Millionen dazu. Es ist auch eine Tatsache, dass unsere Kirche für viele Menschen als Kirche vor Ort ganz konkret als ein Stück Heimat, als ein Ort von Lebens- und Beziehungskultur erfahren wird, als Gemeinschaft, die trägt, als Gestalt der Solidarität und der Hoffnung. Viele sagen es – in den Kirchen des Südens häufiger als bei uns: „Wir sind Kirche, katholische Kirche.“ „We are Catholics“, und sie sagen es etwa in Afrika, überzeugt und mit einem gewissen Selbstbewusstsein und nicht nur unter vorgehaltener Hand, nicht mit Scham und Minderwertigkeitsgefühlen, wie das bei uns nicht so selten der Fall ist. Sie entschuldigen sich nicht dafür, dass sie katholisch sind.

Unsere Kirche befindet sich bei näherem Hinsehen – weltweit gesehen – nicht in einem Niedergang, sondern in einem vielgestaltigen Prozess der Ekklesiogenese (Leonardo Boff), einer Gestaltwerdung von Kirche. Sie ereignet sich immer wieder neu, an alten und neuen Orten von Kirche, in Pfarreien, die sich vor allem in den Kirchen des Südens häufig als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ verstehen, in neuen geistlichen Gemeinschaften, vor allem aber in unzähligen „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“, die – global gesehen – wahrscheinlich den „Normalfall von Kirche“ darstellen. Geht Kirche also doch?

Bekenntnis zur Möglichkeit und Zukunftsfähigkeit von Kirche

Auf der Basis meiner eigenen Begegnung mit ganz verschiedenen Sozialgestalten von Kirche und christlicher Gemeinde, die mir – und ich formuliere das bewusst gnadentheologisch – im Laufe meines Lebens geschenkt wurden, auf der Grundlage eines theologischen Kirchenbildes, das von neutestamentlichen Gemeindeerfahrungen, vor allem aber von der Kirchenvision des II. Vatikanischen Konzils geprägt ist, formuliere ich ein Credo, das meinen Glauben an die Zukunftsfähigkeit und Hoffnungsgestalt der Kirche zum Ausdruck bringt:

Ja, Kirche geht! Kirche ist unter ganz verschiedenen kulturellen, gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Voraussetzungen, ja selbst unter – menschlich gesehen – unmöglichen Bedingungen möglich, weil Gott sie möglich macht, weil sein Geist Kirche als Gemeinschaft, als Gemeinde in Gestalt erfahrbarer communio stiftet und den Menschen Geistesgaben schenkt, die sie – wie in neutestamentlicher Zeit – zum Aufbau von Gemeinden vor Ort einsetzen.

Kirche lebt und wird am Leben bleiben, weil sie aus dem Geheimnis von Tod und Auferstehung Jesu lebt. Sie ist keine statische unveränderliche, sondern eine historische Wirklichkeit, die dem Lebensgesetz des Weizenkorns unterworfen ist. Ihre äußere Sozialgestalt muss immer wieder vergehen, damit neues Leben aufbrechen und für die Menschen Frucht bringen kann. Kirche ist auf ihrem Weg durch die Zeit nicht deshalb am Leben geblieben, weil sie unwandelbar, sondern wandlungsfähig war.

Dieses mein Credo, mein Kirchenbekenntnis kommt nicht zuerst aus historisch theologischen Einsichten, sondern hat seinen Sitz in meinem Leben als katholischer Christ, Ordensmann, Missionar und Theologe.

Ich habe Kirche und christliche Gemeinde in sehr verschiedenen Gestalten erlebt und wahrgenommen:

– In neun Jahren als Pfarrer in der Begleitung Kirchlicher Basisgemeinden im Nordosten Brasiliens und an der Peripherie von São Paulo.

– Im unmittelbaren Erleben von „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ bei Forschungsaufenthalten in Südafrika, Mosambik, Uganda, Kenia und Tanzania.

– In der Wahrnehmung und Erforschung verschiedener Gemeindeerfahrungen aus Asien in der Begleitung von Diplom- und Doktorarbeiten von Theologen aus verschiedenen Ortskirchen.

– In der Wahrnehmung der Entstehung von „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ und neuer Gemeindeerfahrungen im deutschsprachigen Raum, eine Entwicklung, die mich – gerade im Kontext der gegenwärtigen Glaubwürdigkeitskrise unserer Kirche und mancher ihrer Umstrukturierungsprozesse – hoffnungsvoll stimmt.

Das alles und vieles mehr lässt mich zur Überzeugung kommen, dass Kirche „auch heute geht“, dass sie aber dynamisch verstanden und gelebt werden muss, als pilgerndes Volk Gottes, das nicht kleingläubig aus Angst vor Glaubens- und Identitätsverlust wie gelähmt stehen –, sondern auf dem Weg bleiben und sich aus der Kraft des Geistes verändern und neu gestalten muss.

Theologische Grundlagen für ein dynamisches Verständnis von Ortskirche

Auf diesem Symposion wird mit Recht und theologisch legitim von der „Dynamik lokaler Kirchenentwicklung“ gesprochen, eine Redeweise, die nach meinem Verständnis ihre Basis in der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils hat. Diese Kirchenvision hat – bei aller bleibenden Bruchstückhaftigkeit – in der Weltkirche ihre Verwirklichung gefunden.

Unsere Kirche ist weltweit de facto nicht eine zentralistisch straff und hierarchisch organisierte internationale Institution, sondern eine multikulturelle Gemeinschaft von Teilkirchen und Ortsgemeinden, in denen sich die eine katholische und apostolische Kirche auf je verschiedene Art und Weise inkulturiert und sichtbar Gestalt annimmt. Nur so wird sie für Menschen verschiedener Völker und Kulturen erfahrbar und lebbar.

Katholizität, wie sie das Konzil versteht, bedeutet Einheit, aber nicht Uniformität. Das Marken- und Gütezeichen der katholischen Kirche ist ihre spannende und deshalb auch spannungsreiche Vielfalt. Das gilt vor allem für die Gemeindeentwicklung, durch die die eine katholische und apostolische Kirche vor Ort sehr verschiedene Sozialgestalten angenommen hat. Das ist theologisch legitim und pastoral lebensnotwendig.

Ohne hier die Einzelheiten der Ortskirchentheologie des II. Vatikanischen Konzils zu entfalten, sei nur darauf verwiesen, dass nach der Lehre des Konzils „diese Kirche wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend ist“ (II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, n. 26).

Das Konzil hat dann in derselben Nummer der Kirchenkonstitution in einer prophetischen Vision auf eine Gestalt der Kirche hingewiesen, die inzwischen millionenfach Wirklichkeit geworden ist: „In diesen Gemeinden, auch wenn sie arm und klein sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig“ (Kirchenkonstitution, n. 26).

Kraftvolle Bilder und Vergleiche für die Dynamik gegenwärtiger Kirchen- und Gemeindeentwicklung

Unsere Kirche ist nicht mehr das „Haus voll Glorie“, nicht die aus „ewigem Stein“ erbaute Festung und Trutzburg des Glaubens, die sicher, unnahbar und uneinnehmbar „oben“ auf einem Felsen thront: Sie ist pilgerndes Gottesvolk, die „unten“ bei den Menschen lebt und mit ihnen geht durch die Niederungen menschlicher Existenz. Dort, wo „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution, n. 1) zuhause sind, dort schlägt sie ihre Zelte auf, die man auch wieder abbrechen und anderswo aufbauen kann. Kirche bleibt nicht stehen, sie zieht mit. „Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die in Christus geeint auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden“ (ebd.)

Unsere Kirche ist nicht wie ein unbeweglicher Felsblock, an dem die Strömungen der Zeit vorbeifließen. Sie hat diese Strömungen als „Zeichen der Zeit“ zu erforschen und im Licht des Evangeliums zu deuten (vgl. Pastoralkonstitution, n. 4) und als Folge daraus auch ihre Gestalt zu verändern.

Unsere Kirche ist nicht ein mit Kanonen besticktes Kreuzzugsschiff, das ausläuft, um die Feinde des Glaubens zu besiegen. Sie ist aber auch kein Luxusdampfer, auf dem religiöse Bedürfnisse von wohlhabenden Individualisten befriedigt werden. So bequem darf Kirche nicht zu haben sein.

Kirche, wie sie sich heute vielerorts in der Weltkirche darstellt, ist eine „Kirche der Armen“, eine „Kirche der kleinen Leute“ und ist als solche oft recht armselig unterwegs.

Sie segelt meist auf unruhigen Gewässern. Sie bemüht sich Kurs zu halten, kämpft sich durch die Wellen und dreht sich manchmal im Kreis. Sie ist meist auf kleineren, und nicht immer sehr seetüchtigen Schiffen und Booten unterwegs. Aber sie nimmt doch die Schiffbrüchigen aller Art an Bord und verwirklicht vor allem dadurch eine Mission, die Jesus Christus ihr vorgelebt hat.

Unsere Kirche ist keineswegs überall „im gleichen Schritt und Tritt“ auf dem Weg, auch wenn manche in ihr das entschieden fordern. Sie marschiert nicht nach den Takten eines römischen Einheitsmarsches und funktioniert nicht auf Kommando einer zentralen Kirchenleitung.

Sie tanzt vor Ort nach den Klängen lokaler Gesänge und Musikinstrumente. Und sie tanzt oft in mehrfachem Sinn aus der Reihe. Sie nimmt die Lebensfreude und Lebenssehnsucht der Menschen wahr und feiert mit ihnen.

Sie hört aber besonders auch auf die vielen Schreie der Armen und Unterdrückten dieser Erde und macht sich zur Stimme derer, die keine Stimme haben. Sie hat ein Ohr für die lauten und leisen Töne menschlicher Not und Verzweiflung. Ihre Gemeinden vor Ort kennen diese Musik und machen sie zu Gottes Melodie und zu ihrer Kirchenmusik.

Unsere Kirche serviert die erlösende und befreiende Botschaft des Evangeliums und ihre Tradition des Glaubens nicht als Eintopf und Einheitsbrei. Sie verleiht ihrer Glaubensverkündigung durch die Verwendung lokaler Gewürze einen je eigenen Geschmack.

Geht Kirche noch? Ja, wenn sie zu den Menschen geht

Ja, sie geht nur dort in den Spuren Jesu, wo sie – wie er – zu den Menschen geht, wo der „Weg der Kirche der Mensch“ (Johannes Paul II.) ist. Kirche geht dort, wo sie bei Jesus Christus und seinem Evangelium in die Schule geht. Sie bleibt dort am Leben, wo sie am Leben bleibt, am Leben der Menschen dran bleibt. Wo sie sich vom Menschen entfernt, wird sie bedeutungslos und stirbt.

Wie das geht und vor Ort gehen kann, das leben uns in der Kirche von heute Millionen kleiner christlicher Gemeinschaften vor. Es ist gut, ja lebensnotwendig für die Kirche in Deutschland und im deutschsprachigen Raum, dass wir uns in der Kirchen- und Gemeindeentwicklung vor Ort im Vertrauen auf das schöpferische Wirken des Geistes Gottes etwas sagen lassen und neue Wege gehen. „Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2, 7) – diese siebenmal wiederkehrende Aufforderung und Ermutigung an die Gemeinden am Ende des 1. christlichen Jahrhunderts, wie sie uns in der Offenbarung des Johannes begegnen, sind auch Aufforderung und Ermutigung an dieses Symposion.

Was wir voneinander hören, was wir uns gegenseitig an lokalen Kirchen- und Gemeindeentwicklungen mitteilen, kann unserer Kirche „Beine machen“, bringt uns als Kirche zum Gehen. Verfallen wir aber nicht einem gemeindetheologischen praktischen Atheismus und Pragmatismus, in der wir unsere Kirche nur als das Ergebnis von Kirchendisziplin und Strukturreformen neu erfinden und „produzieren“ wollen, „etsi Deus non daretur“ – „als ob es Gott nicht gäbe“. Vergessen wir nie, dass in unserer Kirche nicht nur Menschengeist weht, sondern der Geist Gottes in ihr und in ihren Gemeinden am Werk ist, dass unser Bruder und Herr Jesus Christus – wie mit den Jüngern von Emaus – mit uns geht und zu uns steht. Ihm und seinem Geist verdanken wir letztlich die Dynamik lokaler Kirchenentwicklung.

Franz Weber, geboren 1945, ist Professor für interkulturelle Pastoraltheologie und Missionswissenschaft an der Universität Innsbruck. Als Combonimissionar verfügt er über eine reiche Erfahrung im Bereich der Kirchlichen Basisgemeinden in Lateinamerika, Asien und Afrika. Häufige Veröffentlichungen zum Thema. Grundlegend: Weber, Franz; Fuchs, Ottmar (2007): Gemeindetheologie interkulturell. Lateinamerika – Afrika – Asien. Mainz a. Rhein: Matthias-Grünewald-Verlag (= Kommunikative Theologie 9).

Valentin Dessoy

Kirche könnte gehen …

Kirche ist Organisation und „braucht Organisation um ihrer selbst willen“ (Lames 2012, 228). Als Organisation verkörpert Kirche symbolisch den Ursprung: Bekenntnis und Auftrag Jesu Christi werden in der Welt sichtbar. Zugleich verweist sie zeichenhaft auf das angebrochene Reich Gottes (vgl. Lames 2012). Erinnerung und Verweis auf Dauer zu stellen, ist die Kernfunktion von Kirche als Organisation.

Systemisch betrachtet, kann Kirche diese Aufgabe nur dann realisieren, wenn sie sich mit ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt koppelt. Kirchenentwicklung, die Entwicklung der Organisation Kirche, ist unabdingbar, sofern sich Gesellschaft verändert. Der vorliegende Beitrag fokussiert Kirche als Organisation, soll die Fremdperspektive eintragen. Basierend auf sozialwissenschaftlichen Konzepten und ausgehend von Erfahrungen aus kirchlichen Entwicklungsprozessen werden Kriterien skizziert, wie Kirche als Organisation in Bewegung kommen und bleiben kann.

1. Was passiert, wenn Kirche geht

Zunächst drei Vorbemerkungen zum Stichwort „gehen“, um die Grundrichtung zu skizzieren.

(1) Kirche entsteht

Für Kirchenmenschen ist es provokativ, für Systemiker dagegen selbstverständlich: Es gibt – für uns endliche Menschen könnte man einschränkend sagen – keine Wirklichkeit an sich.

Systeme, Wirklichkeit und damit auch Wahrheit im semantischen Sinn – jenseits logischer Widerspruchsfreiheit – entstehen, wenn Menschen sich im Kommunikationsprozess selektierend beobachten, wechselseitig aufeinander beziehen und ihrem Verhalten auf diese Weise Sinn zuschreiben (Luhmann 1993). So entsteht Kirche, so entfaltet sich Offenbarung. Wohlgemerkt, Kirche bzw. Offenbarung ist diese Kommunikation.

Wenn sich Getaufte auf den Weg machen und zusammenkommen, um ihre (Glaubens-)Erfahrungen auszutauschen und zu reflektieren, dann sind sie Kirche, betreiben sie Kirchenentwicklung und zeigen: „Kirche geht!“. Damit ist alles gesagt. Es geht um ein im Schwerpunkt verändertes Kirchenverständnis. Exemplarisch hierfür mag die Emmausgeschichte (Lk 24, 13–35) stehen. Das II. Vatikanische Konzil benutzt dafür die Bilder des pilgernden Gottesvolkes und der Communio, der lebendigen Gemeinschaft (u. a. LG 4).

(2) Kirche lernt

Sprache speichert Wissen. Daher lohnt ein genauer Blick auf das Wort „gehen“. Die Wortwahl ist Programm. Etymologisch geht das Verb „gehen“ auf die idg. Wurzel ĝhē[i] zurück, die „klaffen, leer sein, verlassen, [fort]gehen“ bedeutet. Ich kann nur gehen, wenn ich etwas verlasse, also los- oder zurücklasse.

Gehen hat viel mit „lernen“ zu tun. Das Verb „lernen“ leitet sich aus ahd. leisten ab und bedeutet ursprünglich „einer Spur nachgehen, nachspüren“. Lernen geht nur über „Er-fahrung“, ist also ein aktiver, selbstgesteuerter Vorgang. Wenn Kirche geht, macht sie (neue) Erfahrungen und dadurch lernt sie.

Gehen hat auch mit „führen“ und „leiten“ zu tun. Die idg. Wurzel leit[h] steht für „gehen, dahingehen“. Im ahd. und mhd. entspricht dieser Bedeutung das Wort „leiden“, erst unter christlichem Einfluss wird daraus „dulden, ertragen, Schmerz, Kummer empfinden“. Das Verb „leiten“ ist das Veranlassungswort zu „leiden“, bedeutet ursprünglich „gehen oder fahren machen“. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort „führen“, dem Veranlassungswort zu „fahren“. Das also ist die Kernaufgabe von Führung und Leitung: Nicht von oben zu bestimmen, was zu tun ist, sondern in Bewegung zu bringen, Erfahrung zu ermöglichen, Lernen in Gang zu setzen und den Übergang zu gestalten.

(3) Kirche bleibt

Zurück zum Titel des Kongresses: „Kirche geht“. Der Titel lässt unterschiedliche Assoziationen zu. Zwei scheinen besonders prägnant und in unserem Zusammenhang von Bedeutung zu sein.

Die erste: „Kirche geht“ ist eine (generalisierende) Feststellung, ein Fazit: Kirche funktioniert! Das ist – selbst für den geneigten Beobachter – eine steile These. Die Realität sieht anders aus. Von außen hat man eher den Eindruck, dass sich die Kirche bei uns im fortgeschrittenen Stadium der Auflösung befindet. Ist man etwas näher dran, hört man von den Verantwortlichen, dass sie gerade nicht wissen, wie es geht. Aber alle wissen: Kirche (wie wir sie kennen) geht nicht mehr.

Die zweite Assoziation: „Kirche geht“ ist eine Beschreibung: Kirche macht sich auf den Weg, kommt in Bewegung, ist (schon) unterwegs. Die Aussage ist bescheidener, öffnet den Blick auf Zukunft hin. Sie verweist auf Aufbrüche, gemeinsame Wege und neue Erfahrungen. Unvollständigkeit und Ungewissheit, Irrwege und Sackgassen gehören mit ins Bild.

In der Verknüpfung beider Assoziationen liegt das Entscheidende: „Kirche geht nicht, wenn sie stehen bleibt“ also „Kirche vergeht, wenn sie bleibt (festhält)“, und umgekehrt, „Kirche bleibt, wenn sie geht“ oder anders „Kirche geht (funktioniert), wenn sie geht (loslässt)“. Der Satz „Kirche geht, wenn sie geht“ ist weder tautologisch, noch trivial. Er ist nicht tautologisch, weil „gehen“ Unterschiedliches bedeutet. Es ist wie im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Matthäus 25,1–13): Kirche hat eine Zu-Kunft, Gott kommt auf sie zu, wenn sie sich auf den Weg macht. Und der Satz ist nicht trivial, weil der Mainstream anders gepolt ist: 90% der jährlich etwa 4,5 Mrd. Euro an Kirchensteuern werden in die Aufrechterhaltung des Status Quo gesteckt, in der Hoffnung, zu bleiben.

2. Warum es wichtig ist, dass Kirche jetzt geht

Die Kirche befindet sich – nicht ohne eigenes Zutun – in einer Situation, die sehr zeitnah entschlossenes Handeln erfordert.

(1) … um aus dem Funktionsmodus in den Lernmodus zu kommen

Organisationen sind Systeme, die auf Dauer ausgerichtet sind. Mit ihren Routinen sorgen sie dafür, dass Personen austauschbar bleiben und die Muster der Kommunikation reproduziert werden. In diesem Sinne sind Organisationen immer darauf ausgerichtet, stabil und funktional zu bleiben.

Zugleich stehen Organisationen mit ihren Umwelten im Austausch von Materie, Energie und Information. Ändern sich die Umwelten, müssen sich Organisationen verändern, indem sie sich mit den Logiken der relevanten Umwelten koppeln. Veränderung (Lernen) ist systemisch gesehen die Bedingung von Stabilität (Funktionalität).

Die große Herausforderung besteht dabei in der stetig ansteigenden Komplexität und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse. Klaus Doppler formuliert das so: „Wir leben quasi in einem permanenten Ausnahmezustand. Das Leben in instabilen, turbulenten, unkalkulierbaren Umwelten ist die Normalität – und zwar aller Voraussicht nach auf Dauer“. In dieser Situation wird Lernen, also Gehen, immer wichtiger, zur Schlüsselkompetenz.

(2) … um den vorhandenen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum zu nutzen

Die Kirche existiert seit zweitausend Jahren und hat sich dabei immer wieder grundlegend und umfassend verändert. Heute, unter den Vorzeichen der Postmoderne, tut sie sich damit besonders schwer. Sie hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in ihrem Bemühen, den volkskirchlichen Status Quo zu erhalten, sehenden Auges immer tiefer in eine Sackgasse manövriert.

Die Folgen sind dramatisch: Die Kirche hat ihre Anschlussfähigkeit an die Menschen von heute weitgehend verloren. Die Auswirkungen sind unübersehbar, eine fortschreitende, generalisierte Dysfunktionalität.

Tempo und Dynamik der Veränderungen werden bis heute massiv unterschätzt. Mental und organisatorisch auf maximale Stabilität und Funktionalität programmiert, sehen sich die Akteure Umwälzungen gegenüber, die für die Kirche (bei uns) in absehbarer Zeit existenzbedrohend sein werden.

Noch sind hinreichend personelle, finanzielle und infrastrukturelle Ressourcen vorhanden. Noch gibt es substantielle Gestaltungsspielräume. Es bleibt allerdings nur noch wenig Zeit, bis das System umkippt.

(3) … um die vorhandene Kluft zur Umwelt nicht zu groß werden zu lassen

Übergänge in komplexen, dynamischen Systemen verlaufen sprunghaft, insbesondere dann, wenn ihnen eine lange Phase der Stabilität vorausgeht, die Organisation das Lernen verlernt hat, und sich gleichzeitig die Kontextparameter sehr stark und sehr schnell verändern.

Um lernen zu können, müssen Systeme von bestehenden Routinen abweichen und neue Wege erproben. Nur induktiv (experimentell) über „Versuch und Irrtum“ können innovative Lösungen gefunden werden, Lösungen, die einen Unterschied machen (vgl. Dessoy, Lames 2012). Abweichungen nützen der Organisation zwar auf Dauer, weil dadurch neue Lösungen gefunden werden können, die eine bessere Umweltpassung ermöglichen, wirken jedoch im Alltagsgeschäft zunächst immer als „Störung“ und erzeugen Stress.

Je größer die Kluft ist, die es zu überbrücken gilt, je größer und grundlegender also der Lernbedarf der Organisation ist, umso mehr muss aufgegeben werden, ohne bereits neue Lösungen gefunden zu haben. Ängste und Widerstände wachsen, der Druck, (kurzfristige) Lösungen nach bewährten Mustern zu generieren, steigt und die Wahrscheinlichkeit einer innovativen Anschlusskommunikation sinkt. Daher ist es so wichtig, dass Kirche jetzt geht. Aber wie?

3. Wie Kirche gehend gemacht werden kann

Damit keine Missverständnisse entstehen: Die folgenden Kriterien sagen nichts darüber aus, wie Kirche (operativ) gehen, also Pastoral in veränderter Zeit betrieben werden kann! An dieser Stelle geht es ausschließlich um die Frage, wie Kirche gehend gemacht werden kann, also um die organisatorisch-kulturellen Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, damit Kirche innovativ werden, sich wirksam erneuern und in veränderten gesellschaftlichen Kontexten wirkungsvoll und nachhaltig bewegen kann (vgl. Dessoy 2012 [a]).

(1) Kriterium 1: Kirchenbild und Offenbarungsverständnis – Umkehr, Macht, Sinn

Erneuerung setzt die grundlegende Bereitschaft voraus, miteinander zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Der neutestamentliche Begriff dafür ist Umkehr, Metanoia (vgl. Lames 2003). Sie gründet in der Erkenntnis, dass es für uns Menschen keinen unmittelbaren Zugang zu absoluten Wahrheiten und damit auch keine endgültigen Lösungen gibt. Kirche und Offenbarung sind stets geschichtlich und kulturell vermittelt. Aber wie soll das gehen?

Für den Prozess der Neuformulierung und Validierung ihrer Botschaft und ihres Handelns kennt die Kirche aus ihrer Geschichte zwei Wege, die eng mit dem dazugehörigen Kirchenbild (vgl. LG 4) verknüpft sind: den diskursiven von unten nach oben (man denke an das Apostelkonzil in Apg 15,1–41) und den institutionellen von oben nach unten („Du bist Petrus, der Fels …“, Mt 16,18). Angesichts des fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Krise der Institutionen generell und der Institution Kirche im Besonderen scheint die dialogische Glaubensvergewisserung alternativlos, um den Anschluss nicht schon durch das Verfahren zu verlieren. Die frz. Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger nennt das „gemeinschaftliche Glaubensvalidation“ im Gegensatz zur vorherrschenden „institutionellen Glaubensvalidation“ (Hervieu-Léger 2004, 123 ff.).

Um in der Terminologie Luhmanns zu bleiben: Kirche kann sich heute für die Validierung und Plausibilisierung ihrer Botschaft und ihres Handelns nicht länger des Kommunikationsmediums der „Macht“ bedienen (vgl. Bucher 2008, 274–291). Sie versucht es bis heute, wie die Entscheidung zur Kirchenzugehörigkeit im Zusammenhang mit der Kirchernsteuer erneut gezeigt hat. Sie hat jedoch das Macht- und Wahrheitsmonopol längst verloren: Es interessiert einfach niemanden mehr! Die einzige Chance, sich in einer pluralen emanzipierten Gesellschaft zu Gehör zu bringen und Anschlusskommunikation wahrscheinlicher zu machen, ist, die Sinnhaftigkeit der Botschaft in heutiger Zeit jenseits abgedroschener Formeln in differenzierter Weise dialogisch zu ermitteln und darzustellen. Dazu müssen die Akteure diese selbst erst wieder neu entdecken, also umkehren, hingehen und lernen. Das setzt Demut voraus.

(2) Kriterium 2: Reformparadigma – langfristig, offensiv, missionarisch

Die Kirche denkt in Jahrhunderten. Sie kommt aus einer langen Phase des Überschusses und der Massenproduktion. Auf dieser Folie folgen Kirchenreformen seit den 1980er Jahren einem festen Muster: Für eine schwindende Zahl von Gläubigen soll mit abnehmenden personellen und finanziellen Mitteln das überkommene Portfolio in traditionellen Bezügen möglichst flächendeckend aufrechterhalten werden. Die Reformen sind kurzfristig angelegt, defensiv motiviert und bleiben auf die Binnensicht beschränkt. Tradierte Produkte, nicht Bedürfnisse von Menschen sind das Kriterium. Der Mangel soll durch Zentralisierung, Konzentration und Verdichtung ausgeglichen werden.

Dieser Reformansatz ist gescheitert. Der Abbruch generalisiert und beschleunigt sich. Die Reformzyklen werden immer kürzer, die Spielräume immer enger. Die Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft wird immer weiter, die ungelösten Fragen immer grundsätzlicher. Der erforderliche qualitative Sprung wird immer größer und die Lösungsansätze werden im Gegenzug vielfach noch defensiver. Eine weitere Verdichtung ist sinnlos. Das bisherige Reformparadigma führt die Kirche ins gesellschaftliche Abseits.

Kirchenreformen, die dem österlichen Sendungsauftrag (Mt 28,19) und den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerecht werden, erfordern ein Reformparadigma, das langfristig-strategisch, offensiv-missionarisch und experimentellwirkungsorientiert angelegt ist. Der qualitative Sprung: Kirche muss (neu) lernen, sich von der Zukunft her zu denken, Veränderung und Entwicklung als zentrale und bleibende Aufgabe zu verstehen. Dreh- und Angelpunkt ist die Frage, wie die Menschen heute für die Frohe Botschaft und für die Mitarbeit am Reich Gottes gewonnen werden können (vgl. Dessoy 2010 [a]).

(3) Kriterium 3: Umweltstrategie – dialogisch, lebensweltorientiert, kleinräumig

Systeme überleben, wenn sie in der Lage sind, nachhaltig Umweltreferenz herzustellen. Die Kirche hat immer wieder kulturelle Gegebenheiten und gesellschaftliche Impulse aufgegriffen und in die bestehende Systemlogik integriert. In den ersten Jahrhunderten wurde die christliche Botschaft in unterschiedlichste Kulturen eingetragen. Durch Kopplung mit der Umwelt, die Transformation von Bildern und Begriffen, durch Reflexion und Normierung entstand der Kanon und in der Folge die kirchliche Tradition.

Durch fortschreitende Institutionalisierung und Traditionsbildung wurde der Spielraum für Variationen allerdings zusehends geringer. Exklusion und Assimilation entwickelten sich im Mittelalter zu den vorherrschenden Kommunikationsstrategien, um sich mit Unterschieden (Fremdheit) auseinander zu setzen und den erreichten Status Quo abzusichern.

Inzwischen hat sich Gesellschaft emanzipiert. Die Exklusionsstrategie ist wirkungslos, die Assimilationsstrategie versagt angesichts der zunehmenden Differenzierung und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse. Stattdessen findet „Exkulturation“ statt, eine „wachsende (Selbst-)Distanzierung von kulturellen, ästhetischen und sozialen Erfahrungsräumen und Ausdrucksformen der Menschen“ (Spielberg 2008, 76, 417).

Kirche muss sich entscheiden, ob sie den Weg der Weiterentwicklung im Dialog mit der Gesellschaft gehen will oder den individualistisch und spirituell ausgerichteten Weg der Innerlichkeit und der Abgrenzung von Gesellschaft, der nicht selten doktrinäre Züge aufweist und in ein Nischendasein mündet. Kirchensysteme, die auf Dialog setzen, müssen realisieren, dass sie sich im Markt bewähren müssen, weil sich die Menschen in dieser Logik bewegen. Kirchliches Handeln (Botschaft, Kult, Praxis) muss dann auch – ähnlich, wie in der Frühzeit – dauerhaft und stetig kleinräumig und experimentell im Blick auf Lebenswirklichkeiten und ästhetischen Orientierungen transformiert werden.

Mission geschieht an Hecken und Zäunen. Sie wird nur funktionieren, wenn die Kirche ihre Umweltstrategie von Exklusion und Assimilation auf Inklusion und Differenzierung umstellt (vgl. Lames 2012).

(4) Kriterium 4: Produktstrategie – projekthaft, prototypisch, experimentell

Ein System kann nicht zugleich maximal funktionieren und optimal lernen. Produktivität und Lernen verlaufen antizyklisch. Wenn ein System lernt, funktioniert es nicht (optimal). Es wird viel ausprobiert. Lösungen sind pragmatisch. Entscheidungen gelten für begrenzte Zeit und können revidiert werden. Fehler bzw. Störungen sind erlaubt und willkommen. Prozesse, Ergebnisse und Wirkungen werden kommuniziert und evaluiert.

Ganz anders Systeme im Zustand hoher Funktionsfähigkeit, im Status der Massenproduktion: Output ist das Kriterium. Es liegen Routinen vor, die effizienzoptimiert sind. Störungen und Fehler sind lästig, müssen abgestellt werden. Am Fließband gibt es keine Möglichkeit, zurückzutreten, zu reflektieren, zu kommunizieren oder gar Änderungen vorzunehmen.

Die Kirche tut alles, um genau in diesem Modus zu bleiben. Wie soll sie da lernen? Die Prioritäten müssen neu justiert werden: Nicht Produktion und deren Steuerung, Innovation und Entwicklung werden gebraucht. Mindestens 2/3 der verfügbaren Ressourcen sind in die Gestaltung von Lern- und Entwicklungsprozessen zu investieren, die geeignet sind, bestehende Routinen zu stören, produktive Unterschiede hervorzubringen und Neukunden zu gewinnen. Die Pastoral der Zukunft ist experimentell: Ästhetische Differenzierung des Portfolios, innovative Projekte und prototypisches Arbeiten sind gefordert. Mit den Worten von Linus Pauling, dem zweimaligen Nobelpreisträger: „To have a good idea, you must have lots of ideas”.