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Rainer Bucher
Renate Oxenknecht-Witzsch (Hg.)

Was fehlt?

Leerstellen
der katholischen Theologie
in spätmodernen Zeiten:
ein Experiment

Rainer Bucher
Renate Oxenknecht-Witzsch (Hg.)

Was fehlt?

Leerstellen
der katholischen Theologie
in spätmodernen Zeiten:
ein Experiment

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Gedruckt mit Unterstützung der
Karl-Franzens-Universität Graz

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Hain-Team (www.hain-team.de)
Satz: Patrick Kummer, Eichstätt
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN
978-3-429-03880-9 (Print)
978-3-429-04830-3 (PDF)
978-3-429-06247-7 (ePub)

Inhalt

Renate Oxenknecht-Witzsch/Rainer Bucher

Vorwort

I. Anfragen von außen

Raúl Fornet-Betancourt

Zum Nachdenken über die Frage: „Was fehlt?“

Ferdinand Rohrhirsch

Was fehlt?
Leer- und Lehrstellen der Theologie in und für spätmoderne Zeiten.

Philosophisch-theologische Anmerkungen aus der Beratungsperspektive

Klaus Wiegerling

Quid est homo?

Der Mensch in Zeiten seiner körperlichen Transformation

II. Grundsätzliche Selbstanfragen

Maria Elisabeth Aigner

Die Leerstelle als Anfrage – pastoralpsychologische Streiflichter

Birgit Hoyer

Theologie ohne Gott.

Annäherung durch Unterbrechung im Nachdenken von Eberhard Jüngel

Renate Wieser

Zurück- und nicht Zurechtbiegen.

Über die Notwendigkeit der Ausbildung eines reflexiven theologischen Habitus

Hans-Joachim Sander

Sieben Fehlanzeigen – Oder: Wie man der gefährlichen Profession und kritischen Berufung der Theologie ausweichen kann

Michael Rasche

Leerstellen der Theologie – Leerstellen der Sprachlichkeit.

Möglichkeiten einer hermeneutischen und dekonstruktiven Theologie

III. Exemplarische Leerstellen

Ottmar Fuchs

Ist „Gott“ ein „A…“?

Zur „Lücke“ ungeschönter alltagsprachlicher Gotteskritik

Michael Schüßler

„Leerstelle“ Wahrhaftigkeit?

Was man mit Foucaults Parrhesia (nicht nur) jugendpastoral entdecken kann

Regina Ammicht Quinn

Der Frauenkörper als Aushandlungsort.

Vom nötigen neuen theologischen Sprechen über Schwangerschaftsabbrüche

Stefanie Knauß

Fragmente, Körper, Blicke – Auseinandersetzung mit Kultur als Leerstelle in der Theologie

Joachim Kügler

Was fehlt der Bibelwissenschaft?

Einige Gedankensplitter ausgehend von der Offenbarungskonstitution Dei Verbum

Maria Neubrand

Christsein ohne Bibel?

Was in der Bibelwissenschaft und Pastoral heute fehlt

Sabine Demel

Kirchenrecht im Dienst der christlichen Freiheitsordnung

IV. 50 Jahre theologische Existenz: Perspektiven des Geehrten

Alexius J. Bucher

Defiziterfahrungen in biographischer Hinsicht.

Ein theologiekritischer Rückblick

Alexius J. Bucher

Priesterliche Existenz zwischen Predigt und Vorlesung.

Predigterfahrung in biographischer Analyse

Alexius J. Bucher

Predigt – Gottesdienst im Rahmen der Tagung „Was fehlt? Lehrstellen der Theologie in der späten Moderne“

Stichwortverzeichnis

Autorinnen und Autoren

Vorwort

I.

Der Theologie geht es als wissenschaftlicher Disziplin auf den ersten Blick gar nicht schlecht. Sie funktioniert kirchlich wie universitär leidlich gut. Die einschlägigen Empfehlungen des Deutschen Wissenschaftsrates aus dem Jahre 2010 haben ihre Stellung eher gestärkt und nicht die Verabschiedung der christlichen, sondern die Integration neuer Theologien, etwa der islamischen, in das Wissenschaftssystem empfohlen.

Deshalb lautete die Frage des hier dokumentierten Symposiums auch nicht diagnostisch „Woran leidet die Theologie?“ oder therapeutisch „Was hilft der Theologie?“, sondern „Was fehlt der (katholischen) Theologie?“. Diese Frage konstatiert keine Krise, sondern sucht eine und setzt dabei voraus, diese Frage weder für sinnlos zu halten, noch vor möglichen Konsequenzen der Antworten Angst zu haben. Ein Experiment ist diese Frage aber allemal.

Nun ist offenkundig, dass die Frage nach Leerstellen einen Horizont voraussetzt, innerhalb dessen sie erkennbar werden. Es geht darum, wie man sich Theologie auch vorstellen könnte, darum, über das gegebene Design der Theologie hinaus zu denken und jenen „Möglichkeitsraum“ zu öffnen, der sich nicht an dem orientiert, was ist und nahe liegt, sondern an dem, was sein könnte und begründet sein sollte. Solche Erwartungshorizonte können entweder zu eng sein, dann wiederholen sie wohlfeile Wünschbarkeiten, oder zu weit, dann zeichnen sie Kreise, die von niemandem zu durchschreiten sind.

Dazwischen sollte das Symposium angesiedelt sein. Es ging um Beiträge und Statements, in denen essayistisch, experimentell, gewagt ausgelotet wird, was der katholischen Theologie in unseren Breiten gegenwärtig bezogen auf ihren Gegenstand und bezogen auf ihre grundlegende Aufgabe im Volk Gottes fehlt. Die vorliegenden Beiträge spiegeln in Thematik und Genus diese Bandbreite wider.

Es war eine der guten Erfahrungen des Symposiums, dass es gelang, die inhaltlich wie stilistisch bisweilen provokativen Antworten bei ihren Stärken zu nehmen: deren grundlegende war, tatsächlich etwas aufzubrechen und hervorzurufen. Dafür sei nicht nur den Referentinnen und Referenten, sondern auch allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Symposiums herzlich gedankt.

II.

Ein wissenschaftliches Symposium zum Thema „Was fehlt? – Leerstellen der Theologie in spätmodernen Zeiten“ zu Ehren von Prof. Dr. em. Alexius J. Bucher in Zusammenarbeit mit dem Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz, dem Institut zur interdisziplinären und interkulturellen Erforschung von Phänomenen sozialer Exklusion (ISIS) und der Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt bildete einen guten Rahmen, Leerstellen der Theologie nicht nur aus der Sicht der Theologie, sondern im interdisziplinären Diskurs zu suchen und zu erfragen.

Die Kooperation gilt vor allem dem geehrten Alexius J. Bucher. Das Seminar „Armut-Ethik-Befreiung“, das im Rahmen des von Raúl Fornet-Betancourt begründeten Philosophischen Dialogprogramms im April 1995 stattfand, war der Startpunkt einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen der Fakultät für Soziale Arbeit und dem Geehrten. In seinem damaligen Beitrag „Kirche fordert Armut – Armut fordert Kirche“ thematisierte er die weltweite Armut als Herausforderung für die Kirche, eine heute noch aktuellere Herausforderung.

Diese Zusammenarbeit setzte sich im Rahmen des 1998 gegründeten Instituts ISIS, zunächst unter der Vorstandschaft von Prof. Dr. Horst Sing (Fakultät für Soziale Arbeit) und Alexius J. Bucher und inzwischen unter der Vorstandschaft von Prof. Dr. Dr. Raúl Fornet-Betancourt und Dr. Monika Pfaller-Rott (Fakultät für Soziale Arbeit) in weiteren Tagungen fort.

III.

Für die Zusammenarbeit mit ISIS und die Unterstützung des Symposiums danken wir Raúl Fornet-Betancourt sehr, der nicht nur dem Geehrten, sondern auch der Fakultät für Soziale Arbeit seit über dreißig Jahren in Lehre und Forschung durch zahlreiche Tagungen und Veröffentlichungen verbunden ist.

Die Herausgeber danken sehr herzlich zudem Herrn Dipl. Theol. Patrick Kummer MA, Eichstätt, der mit großer Sorgfalt die redaktionelle Arbeit besorgte und eine verlagsgerechte Druckvorlage erstellte. Frau Ingrid Hable MA, Graz, las Korrektur, auch hierfür unseren besten Dank.

Eichstätt/Graz, im Juni 2015

Renate Oxenknecht-Witzsch

Rainer Bucher

Anfragen von außen

Zum Nachdenken über die Frage: „Was fehlt?“

Raúl Fornet-Betancourt, Aachen/Bremen

1.Vorbemerkung

„Was fehlt?“ Leerstellen der Theologie in spätmodernen Zeiten, so lautet der Titel des Symposiums, das zu Ehren von Alexius J. Bucher abgehalten wird.

Zur Frage und Aufgabe dieses wissenschaftlichen Austausches aus festlichem Anlass geben die Organisatoren in der „Einführung“ zum Programm folgende erklärende Hinweise: „Es fällt nicht leicht, in den Rücken der eigenen Arbeit zu gelangen und blinde Flecken des eigenen Tuns zu identifizieren. Aber mehr und mehr drängen sich Fragen und Problemkreise auf, die ahnen lassen, dass und wo Theologie hinter dem zurückbleibt, was sie angesichts ihrer Verpflichtung gegenüber Tradition und Gegenwart leisten könnte und sollte. So verwirrend plural Tradition und Gegenwart erscheinen mögen: Das Symposion will diese Zonen eines theologischen Defizits erkunden und sich ebenso vorsichtig wie mutig den momentanen Leerstellen der wissenschaftlichen Theologie annähern. Die Philosophie ist hierfür der Theologie seit langem eine bewährte Gesprächspartnerin. Dieses Symposion geht davon aus, dass auch in spätmodernen Zeiten Theologie mehr denn je auf eine Philosophie verwiesen bleibt, die ‚an der Zeit ist‘“1.

Dieser Text, so meine ich, bringt die Aufgabe des Symposiums deutlich und genau auf den Punkt. Zu meiner eigenen Vergewisserung darf ich sie kurz zusammenfassen: Vor dem Hintergrund neuer Fragen und Probleme handelt es sich um den Versuch der Identifizierung von blinden Flecken, um die Erkundung möglicher „Leerstellen“ der heutigen wissenschaftlichen Theologie. Diese Aufgabe soll zugleich, wie der zitierte Titel des Symposiums nahezulegen scheint, als der Versuch verstanden werden, Antworten auf eben die Frage, „was heutiger Theologie fehlt“ zu wagen oder zumindest Perspektiven für die Suche nach Auswegen vorzubereiten.

Aber der Text benennt nicht nur die Aufgabe und die Bedeutung, die ihre Erörterung für die Zukunft der Theologie hat. Eine aufmerksame Lektüre zeigt zudem, dass der Einführungstext noch einen methodischen Hinweis für die Behandlung der gestellten Aufgabe gibt, indem er auf die Philosophie als „bewährte Gesprächspartnerin“ der Theologie setzt. Mit der kulturgeschichtlichen Bemerkung über die „spätmodernen Zeiten“ gibt der Text darüber hinaus noch einen kontextuellen Hinweis zum Verständnis der geistigen und geschichtlichen Situation, in deren Rahmen die Aufgabe zu sehen ist.

Die Formulierung der Aufgabe, die Hinweise zu deren Behandlung sowie die damit verbundenen Erwartungsperspektiven lassen zudem aber ebenfalls erkennen, dass der Einführungstext philosophische und theologische Voraussetzungen impliziert, die sich meines Erachtens sowohl für eine tiefere Einsicht in den Sinn der Frage als auch für eine breitere Suche nach Potenzialen noch möglicher Orientierung als nachteilig erweisen können, und zwar deshalb, weil sie, wie es mir erscheinen will, eurozentrisch sind.

Mir ist allerdings bewusst, dass auf den ersten Blick dieser Vorwurf unvermittelt, ja völlig deplaziert erscheinen mag. Mit dieser Veranstaltung halten wir doch ein „deutschsprachiges“ Symposium ab, das sich zur Aufgabe gemacht hat, über die Situation der Theologie im gegenwärtigen Kontext einer (europäischen) „spätmodernen“ Gesellschaft nachzudenken. Und dennoch soll hier der Eurozentrismusvorwurf für keine billige Polemik stehen. Mein Motiv dafür ist vielmehr die begründete Überzeugung, dass das Fragen christlicher Theologie, zumal wenn sie sich als katholisch bekennt, kontextuell sein soll, nicht aber regional bzw. provinziell sein darf.

Fragen katholischer Theologie sollten ja den weltgeschichtlichen, offenen Horizont der Katholizität, zu der die „Ecclesia“ christlichen Glaubens berufen ist und beruft, niemals aus den Augen verlieren. Mehr noch: Katholizität, hier verstanden als qualitative kommunikative Bewegung auf Universalität hin, muss Element und Medium ihres Fragens sein. Zwar: Schon aufgrund des „Sitz im Leben“-Prinzips, das für die Lebendigkeit und Authentizität der katholischen Theologie allgemein als notwendig anerkannt wird, sollte diese bei der Auseinandersetzung mit Fragen vom kontextuellen Zusammenhang ausgehen, dabei aber die kontextuelle Auseinandersetzung gleichzeitig im Bewusstsein davon führen, dass sie aus Tradition in der Denken und Handeln normierenden Verpflichtung der Katholizität steht. Und das bedeutet eben: Katholische Theologie hat kontextuelle Theologie zu sein, wohl aber im Bewusstsein davon, dass sie immer schon Theologie einer zur Katholizität berufenen und berufenden Gemeinschaft ist.

Das Fragen katholischer Theologie wird daher immer dann verengt, wenn es mit den Fragen resignierter Welt und Geschichte aus ihrer Vereinsamung heraus lesender Theologen verwechselt wird. Das Fragen katholischer Theologie, gleich wo es sich kontextuell artikuliert, ist vielmehr Bestandteil des Geschehens der Katholizität im Werden und vor dieser muss es sich in jedem Kontext verantworten. Die auf das Unendliche hinweisende Weite, die das Fragen katholischer Theologie trägt, bedeutet deshalb für die Theologen die Pflicht zu überprüfen, ob die Art und Weise, wie sie Fragen kontextuell verstehen und formulieren, Verengungen mit sich bringen.

Also: In der Absicht dazu beizutragen, über die im Mittelpunkt des Symposiums stehende Frage von einem umfassenderen Erfahrungshintergrund aus nachzudenken, um so vielleicht auch ihre fundamentale Bedeutung als Grundfrage christlicher Existenz deutlicher in den Vordergrund zu rücken, möchte ich zunächst auf die angesprochene Problematik des Eurozentrismusverdachts bei den Voraussetzungen, die nach meinem Verständnis dem Einführungstext zu Grunde liegen, kurz eingehen.

Meinerseits, so muss ich dazu gleich hinzufügen, werde ich dabei die Sicht der interkulturellen Philosophie voraussetzen. Da ich hier allerdings auf diese Voraussetzung nicht eingehen kann, darf ich nur die zwei Gründe benennen, weshalb die interkulturelle Philosophie in eben diesem Zusammenhang vorausgesetzt wird. Zum einen, weil ein wesentliches Anliegen der interkulturellen Philosophie darin besteht, mit den Menschen und ihren Kulturtraditionen zu lernen, die Fragen der Menschheit in ihren pluralen Formen zu verstehen, dabei jedoch immer nach dem möglichen gemeinsamen Grund derselben fragend; zum anderen, weil interkulturelle Philosophie Kontextualität und Universalität nicht als konträre Erfahrungen, sondern als zwei sich gegenseitig bereichernde Momente einer einzigen geschichtlichen Bewegung versteht. Kontextualität bedeutet für sie doch kein rein räumliches Geschehen, sondern die regressive Methode, durch die philosophisches Denken sich in die Geschichte der memoria passionis et liberationis der Menschheit einschreibt.

Memoriale Tiefe, nicht räumliche Ausdehnung bringt das Denken auf dem Weg zur Universalität.

Aber ich komme zum ersten Punkt, der in meinen Überlegungen – wie ich vorausschicken möchte – eigentlich nur als Hintergrundvorbereitung für die im dann folgenden zweiten Punkt dargelegten Betrachtungen gedacht ist. Dazu darf ich auch gleich klarstellen, dass es sich ausdrücklich um Betrachtungen zum Nachdenken über den Sinn der Frage „was fehlt?“ handelt.

Also: Bei der Aufgabe, mit der uns das Symposium konfrontiert, beschränke ich mich auf den Versuch, zur denkerisch vorbereitenden „Einstimmung“ auf den Sinn der Frage „was fehlt?“ beizutragen. Das ist die Intention der folgenden zwei Punkte meiner Ausführungen. Vielleicht muss sich Theologie doch erst fragen, ob sie in ihrer heutigen Verfassung die Frage „was fehlt“? überhaupt sinnvoll stellen kann. Wenn diese Vermutung stimmt, dann wäre der hier intendierte Versuch nicht abwegig, sondern tatsächlich der Anfang der Arbeit an der gestellten Aufgabe.

2.Welche Voraussetzungen sind gemeint und warum kann man sie als eurozentrisch betrachten?

Im Wesentlichen meine ich zwei Voraussetzungen: Erstens geht es um die Zeit- und Geschichtsauffassung, die der Hinweis auf die „spätmodernen Zeiten“ voraussetzt. Hierzu zwei Anmerkungen:

1) Im Kontext einer mitteleuropäischen katholischen Ortskirche mag richtig und sinnvoll sein, wenn katholische Theologen die kulturphilosophische Kategorie „Spätmoderne“ zeitdiagnostisch gebrauchen, um den sozialen, kulturellen und geistigen Wandel, den die Entwicklung der Geschichte in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, zusammenfassend zu charakterisieren. Nur: Dabei sollte klar sein, dass man mit dem Titel „Spätmoderne“ eigentlich nur die Entwicklung der hegemonialen kapitalistischen Gesellschaften des so genannten „globalen Nordens“2 benennen kann. Es ist doch eine Kategorie, die regionale Erfahrungen reflektiert, und dies zudem mit regionalen wissenschaftlichen Mitteln tut. Daher wäre es eine unzulässige Extrapolation, diese Kategorie als den Spiegel nehmen zu wollen, in dem sich die Situation der historischen Gegenwart der Menschheit insgesamt widerspiegelt. Ein explizites Bewusstsein von der phänomenologischen bzw. lebensweltlichen Grenze der Aussagekraft der Kategorie „Spätmoderne“ ist umso wichtiger für den Sinn des Fragens katholischer Theologie, als heute die historische Gegenwart der Mehrheit der Katholiken nicht unter den Bedingungen „spätmoderner Zeiten“ gelebt wird.

2) Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist aber, dass diese als mögliche Gefahr monierte Tendenz zum extrapolierenden Gebrauch der Kategorie „Spätmoderne“ im Grunde genommen erst dadurch möglich wird, dass man annimmt, dass „spätmoderne Zeiten“ für ein „weiter sein“, für die „neueste“ Entwicklungsstufe im Bewusstsein der Menschheit stehen; eine Annahme, die zugleich besagt: Auch wenn „Spätmoderne“ heute noch nicht die Gegenwart aller Menschen prägen würde, so wäre sie das Bild der Zukunft, auf die der Lauf der Geschichte der Menschheit hinsteuert. Das ist für mich der springende Punkt, weil er die angesprochene implizierte Zeit- und Geschichtsauffassung verdeutlicht. Und, wie gesagt, mein Verdacht ist, dass sie europäisch modern und eurozentrisch ist, weil dabei nur jene Zeitauffassung berücksichtigt wird, die sich mit der mitteleuropäischen, kapitalistisch organisierten Moderne durchsetzt und die Zeit nicht nur linear versteht, sondern auch und vor allem der Logik der beschleunigenden Chronologie des programmierten „Fortschrittes“ unterwirft. Die Erfahrung der „Memoria-Zeit“, die so grundlegend sowohl bei anderen Kulturen als auch bei der christlichen Tradition ist, findet hier keinen Platz. Mehr noch, sie muss im Lichte der Zeit des „Fortschrittes“ als ein Störfaktor erscheinen.

Im Zusammenhang dieser Anmerkung sei noch nebenbei ein Aspekt erwähnt. Zwei Mal wird im Einführungstext auf eine gewisse Opposition bzw. auf eine relativ deutliche Grenzlinie zwischen „Tradition“ und „Gegenwart“ angespielt, die aus meiner Sicht ebenfalls nur vor dem Hintergrund der Voraussetzung der europäisch modernen linearen Zeitauffassung verständlich ist. Setzt man dieses Verständnis nicht voraus, so ist nicht evident, dass man von Tradition und Gegenwart als von zwei verschiedenen Größen sprechen muss. Für Kulturen zum Beispiel, die ihre Mitte in der memoria haben, ist die Gegenwart Zeitigung von Tradition und umgekehrt. Aus der Sicht dieser Kulturen, die seit der mitteleuropäischen Moderne als „traditionelle“ Kulturen abschätzig apostrophiert werden, muss man daher eher von einer gegenseitigen Beziehung der Notwendigkeit zwischen Tradition und Gegenwart sprechen. Tradition drängt notwendig auf Gegenwart hin und Gegenwart bleibt geschichtlich notwendig auf Tradition verwiesen.3

Zweitens spreche ich vom Wissenschaftsverständnis, das für mein Dafürhalten die Voraussetzung für den Hinweis auf die Verwiesenheit „wissenschaftlicher“ Theologie auf Philosophie und für die damit implizit formulierte Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen beiden Disziplinen bildet. Hierzu auch ein kurzes Wort.

Zweifellos drücken dieser Hinweis und die damit verbundene Forderung ein berechtigtes Anliegen aus. Das ist nicht meine Frage. Worauf ich kritisch aufmerksam machen möchte, ist ein anderer Aspekt, der sich, wie gesagt, aus dem hier implizit wirkenden Wissenschaftsbegriff ergibt. Auch wenn uns heute das vorgebrachte Anliegen des interdisziplinären Gesprächs nicht nur logisch, sondern zudem gar wünschenswert erscheinen mag, so muss doch andererseits bedacht werden, dass es nur unter den Bedingungen eines bestimmten Wissenschaftsbegriffes und seiner Kultur wissenschaftlichen Arbeitens als sinnvoll und notwendig erscheint.

Auch an dieser Stelle hätte man methodische und inhaltliche Relativierungen und/oder Einschränkungen zumindest andeuten sollen. Es sei denn, wie mein Verdacht eben unterstellt, man lässt sich dabei doch von einer Auffassung von Wissenschaft leiten, zu deren Selbstverständnis gerade die Vorstellung gehört, dass menschliche Erkenntnis, will sie „exaktes“ Wissen hervorbringen, sich in methodisch autonomen und so auch mit in ihrem Erkenntnisinteresse reduzierten Rationalitätsformen arbeitenden „Fachdisziplinen“ spezialisieren muss. Nach dieser Auffassung, die ich für eine moderne europäische halte, ist Wissenschaft, worauf bereits Martin Heidegger4 hingewiesen hat, Forschen, und zwar spezialisiertes, disziplinmäßiges Forschen. Und das besagt weiter, dass wissenschaftliche Forschung ihr Wissen durch Isolieren und Abstrahieren gewinnt, was wiederum bedeutet, dass ihr Wissen einseitig ist, wie Max Weber zugegeben hat.5

Im Horizont der Vorherrschaft dieses Wissenschaftsbegriffes muss daher der Gedanke der Interdisziplinarität entstehen. Und er entsteht gerade als der Gedanke einer Perspektive für die Reparatur der Fragmentierung menschlicher Erkenntnis. Dort aber, wo Wissenschaft diese neuzeitliche mitteleuropäische „forschende“ Wendung nicht mitvollzieht, ist dieser Gedanke alles andere als selbstverständlich.6 Der Rekurs darauf sollte also erklärt und sein Anliegen im Spiegel anderer ganzheitlicher Wissenschaftskulturen überprüft werden.7

Aber im Rahmen dieser Bemerkung ist es nicht nötig, weiter auf das nach meiner Leseart hier vorausgesetzte Wissenschaftsverständnis einzugehen, zumal mit meiner diesbezüglichen kritischen Anfrage keine grundsätzliche Debatte über den heute vorherrschenden Wissenschaftsbegriff intendiert wird, sondern lediglich diese punktuelle These zur Diskussion gestellt werden soll: Die Erörterung der Frage, die im Mittelpunkt des Symposiums steht, verlangt die Überwindung des Verstehenshorizonts, der die Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen Philosophie und Theologie nötig macht, weil die Frage „was fehlt?“, wenn wir sie richtig stellen, weder nach Wissenssegmenten noch nach Realitätssegmenten noch nach der Möglichkeit der Akkumulation fragt. Aber wissen wir, was wir fragen, wenn wir fragen, „was fehlt?“? Das ist mein zweiter Punkt.

3.Besinnung auf den Sinn der Frage: „Was fehlt?“

Gegen Ende der Vorbemerkung, mit der die vorliegenden Ausführungen eingeleitet wurden, habe ich kurz auf die Gründe hingewiesen, weshalb beim Zugang zur Frage „was fehlt?“ meine Betrachtungen die Sicht der interkulturellen Philosophie voraussetzen. Dabei wurde der Grund hervorgehoben, dass ein zentrales Anliegen interkultureller Philosophie gerade darin besteht, die für Denken und Erkenntnis wohl konstitutive Dimension der Kontextualität nicht als Erklärung für die regionale Isolierung der Denkarten und ihrer Fragen zu interpretieren, sondern sie im Gegenteil als Bedingung für die Kommunikation und für die Suche nach einer intensiven Universalität neu zu verstehen.8 Am Leitfaden dieses Gedankens, der – wie mir scheint – auch Impulse für die geschichtliche Verwirklichung der Idee der Katholizität geben kann, soll im Folgenden versucht werden, einige Momente darzustellen, die dazu beitragen sollen, den Sinnhorizont und damit auch die Erfahrungsmöglichkeiten der Frage „was fehlt?“ zu erweitern.

Es geht, anders ausgedrückt, um Hinweise, die sozusagen „von einem anderen Ufer“ her kommen und die dazu anregen möchten, sich der Frage „was fehlt?“ als einer Frage anzunähern, die zur Teilhabe an einer Sinnsuche herausfordert, die ihrerseits uns als Fragende eben dieser Frage zu einer Bewegung der Überschreitung der Grenzen kontextueller Zugänge und ihrer verengenden Grenzziehungen – hier insbesondere jene, die durch einen europäisch-deutschen sozialpolitischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund geprägt sind – veranlasst. Und es dürfte dabei klar sein, dass diese Bewegung, die der Teilhabe an der in der Frage „was fehlt?“ drängenden Sinnsuche Gestalt gibt, nicht auf eine die Kontextualität verleugnende „Überführung“ der Frage ins Abstrakte abzielt, sondern vielmehr darauf, sie als eine Grundfrage zu verstehen, die in jedem Kontext die Latenz des Rufes dessen hütet, was in der abendländischen Philosophie seit Plato als Indikation der möglichen Fülle menschlicher Existenz in Erinnerung gebracht wird.9 Diesem möglichen Missverständnis wollte ja der Hinweis auf das Verständnis von Kontextualität in der interkulturellen Philosophie vorgreifen.

In diesem Sinne folgen nun die angesprochenen Momente, die, wie ich betonen darf, vor dem Hintergrund des Gesagten in den kritischen Anmerkungen zu den im „Einführungstext“ zur Frage des Symposiums vermuteten eurozentrischen Voraussetzungen formuliert werden, und zwar in ergänzender Absicht. Es sind die Folgenden:

3.1 Besinnung auf die Geschichtlichkeit der Frage

Freilich fragt das Symposium nach dem, was Theologie heute in „spätmodernen Zeiten“ fehlt, aber Theologie, die ihre Tradition nicht ganz vergessen hat, muss auch wissen, dass sie dabei eine Frage wiederholt, die wesentlich zu ihrer eigenen Geschichte gehört. Angesagt wäre daher zunächst, über die Geschichte der Frage nachzudenken, um so bewusst in Erinnerung rufen zu können, warum und wie Theologie (als „zweiter Akt“ der Glaubenspraxis einer Gemeinschaft10) in ihrer Geschichte um eine Antwort auf die Frage „was fehlt?“ ringt.

Wie viele Reformbewegungen und Erneuerungsansätze, angefangen bei der franziskanischen Armutsbewegung bis hin zur Theologie der Befreiung, zeigen, drückt sich in der Frage „was fehlt?“ eine Erfahrung des Unbehagens und der Revolte aus. Sie kann deshalb als ein Leitfaden in der Geschichte der Theologie betrachtet werden, um die Rebellion des (theologischen) Logos vor dem „Status quo“ in Welt und Kirche historisch zu rekonstruieren. Die Besinnung auf die Geschichte der Frage „was fehlt?“ würde so verdeutlichen, wie diese Frage zum Ringen der Theologie um ihr eigenes Selbstverständnis gehört, vor allem jedoch hätte sie für heutige Theologie die Konsequenz, dass beim Wiederholen der Frage diese mit dem tradierten Anliegen der Revolte konfrontiert wäre.

3.2 Besinnung auf die Kontextualität der Frage

Wer um die Geschichtlichkeit menschlicher Fragen weiß, der hat auch ein Bewusstsein davon, dass die jeweilig eigene Lebensgegenwart der Menschen die Kontextualität ihres Lebens und der Fragen, denen sie sich zu stellen haben, nicht erschöpft. Kontextualität – weil sie, wie bereits angemerkt, auch mit memoria zu tun hat – ist je mehr als nur faktische Gegenwart. Das gilt insbesondere für die Kontextualität philosophischer und theologischer Fragen, wie eben diese nach dem, was fehlt. Besinnung auf die Kontextualität der Frage soll also hier verhindern, dass man als Konsequenz der allgemeinen Auswirkungen der „Fortschrittsideologie“ allzu schnell die Tragweite der Frage „was fehlt?“ allein vom Kontext der eigenen Gegenwart her bestimmt, indem man eben lernt, ihren Sinn im Zusammenspiel von Tradition und Gegenwart herauszulesen.

3.3 Besinnung auf die Qualität der Frage

Gerade im faktischen Kontext einer Gegenwart, die sozialpolitisch durch die kapitalistische „Warenstruktur“11 der Gesellschaft und die daraus folgende Verdinglichung aller Verhältnisse menschlichen Lebens, die nur das Fehlen von „Dingen“ bzw. Waren kennt, und wissenschaftlich durch Erkenntnisinteressen und Methoden geprägt wird, die das Empirische, Analytische und Quantitative bevorzugen, sollte die Theologie aus der eigenen Einsicht in die Geschichte und Kontextualität der Frage „was fehlt?“ heraus klarstellen, dass für sie diese Frage eine Qualität hat, die weder im System der „Warenstruktur“ noch im vorherrschenden Wissenschaftsparadigma vorkommen kann. Weder eine bessere Bilanz der vorhandenen Waren noch eine bessere Berechnung der Produktionsmöglichkeiten noch eine Optimierung der Rentabilitätsmethoden, aber auch nicht präzisere analytische Methoden oder weiterreichende wissenschaftliche Prognosen werden auf die (philosophische) theologische Frage „was fehlt?“ antworten können. Denn heutige Theologie sollte nach dem, was fehlt – wie sie aus der Geschichte und Kontextualität der Frage lernen kann – wohl doch nicht aus einer Feststellung konkreter Mängel heraus fragen, sondern ganz im Gegenteil aus der Hoffnung auf die versprochene „Fülle“. Deshalb sollte sie übrigens auch vor Versuchen warnen, die den Sinn dieser Frage auf den Interessensbereich des „nachmetaphysischen Denkens“ einschränken und ihr die Funktion zukommen lassen, „Ressourcen“ des Beistands für eine „ihre eigene Bestimmung“ verfehlende praktische Vernunft zu mobilisieren.12

Also: Nicht die Realität des Mangels, sondern die Hoffung auf Fülle sollte Theologie als den Ursprung ihrer Frage nach dem, was fehlt, erfahren und vermitteln können.

Die theologische Frage „was fehlt?“ kann wahrscheinlich daher nur derjenige stellen, der, wie zum Beispiel Teresa von Ávila13, auch ahnt, was allein genügt. Und darin liegt wohl die singuläre Qualität dieser Frage. Ihre Pointe liegt eigentlich darin, dass sie nicht wissen will, was noch fehlt, sondern was im Grunde immer schon zu viel oder überflüssig war.

4.Schlussbemerkung

Die vorgelegten Betrachtungen, wie ich sagte, verstehen sich als Anregung zum Nachdenken über die Frage „was fehlt?“, weil von der Vermutung ausgegangen wird, dass unter den gegebenen sozialpolitischen und kulturellen Bedingungen einer mitteleuropäischen kapitalistischen „spätmodernen“ Gesellschaft wissenschaftliche Theologie sich erst vergewissern sollte, ob sie noch für die besondere, genauer: prophetische Qualität der Frage „was fehlt?“ sensibel genug ist. Das wäre meines Erachtens die Bedingung dafür, dass sie die Identifizierung von „Leerstellen“ im eigenen Tun nicht bloß mit der Aufgabe der Erweiterung des bestehenden „Lehr- und Forschungsplans“ mit neuen Themen und Problemen verwechsele, sondern darin die Herausforderung erkenne, die Grundlagen, auf denen sie steht, zu überprüfen und im interreligiösen wie im interkulturellen Gespräch möglicherweise eine sapientiale Neubegründung zu wagen.

Und in diesem Sinne darf ich doch meinen, dass die Besinnung auf den Sinn der Frage „was fehlt?“ doch der Anfang der im Symposium gestellten Aufgabe sein kann, wie ich schon sagte.

Literatur

Andreu, A., Sobre revelaciones religiosas y filosofía, Valencia 2007.

Bammé, A., Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie, Velbrück 2011.

Böhme, G., Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1980.

Espín, O.O., Idol & Grace. On Traditioning and Subversive Hope, New York 2013.

Estermann, J., Zivilisationskrise und das Gute Leben. Eine philosophische Kritik des Kapitalistischen Modells aufgrund des andinen Allin Kawasay/Suma Qamaña, in: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie 63 (2013), 19-48.

Fornet-Betancourt, R., Justicia, restitución, convivencia. Desafíos de la filosofía intercultural en América Latina, Aachen 2014.

- u.a. (Hg.), Auf dem Weg zu einer gerechteren Universalität. Philosophische Grundlagen und politische Perspektiven, Aachen 2013.

- (Hg.), Begegnung der Wissenskulturen im Nord-Süd-Dialog, Frankfurt a.M. 2008.

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- Wissenschaft und Besinnung, Gesamtausgabe, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a.M. 2000.

- Die Zeit des Weltbildes, Gesamtausgabe, Bd. 5: Holzwege, Frankfurt a.M. 1977.

Hübner, K., Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg i.Br. u.a. 1978.

Kosík, K., Dialektik des Konkreten, Frankfurt a.M. 1967.

Lukács, G., Geschichte und Klassenkampf, Neuwied u.a. 1971.

Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bde. 23-25, Berlin 1971.

Meyer-Abich, K.M. (Hg.), Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens. Ganzheitliches Denken in Wissenschaft und Wirtschaft, München 1997.

Olmedo, A.M., El aro y la trama. Episteme, modernidad y pueblo, Santiago de Chile 2006.

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Plato, Das Gastmahl, Werke, Bd. 3, Darmstadt 1974.

Reder, M./Schmidt, J. (Hg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 2008.

Teresa von Ávila, Gott allein genügt. Worte geistlichen Lebens, Kevelaer 2007.

Weber, M., Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988.

Weizsäcker, C.F. von, Die Einheit der Natur, München 1972.

1Siehe Programm des Symposiums.

2Vgl. Estermann, Zivilisationskrise.

3Für einen Überlick über die neuere Diskussion um den Begriff „Tradition“ vgl. Espín, Idol & Grace; für eine ausführlichere Darstellung des oben angesprochenen Aspektes vgl. das Kapitel „Sobre el concepto de tradición desde la perspectiva de la filosofía intercultural“ in Fornet-Betancourt, Justicia, 25-45.

4Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, insbesondere 77ff.; vgl. auch Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, 37-65; und Heidegger, Leitgedanken.

5Vgl. Weber, »Objektivität«, insbesondere 170ff.; vgl. ferner Bammé, Homo occidentalis.

6Hier wird nicht nur an „außereuropäische“ Wissenstraditionen gedacht, da auch in Europa Alternativen zu der vorherrschend werdenden Linie entwickelt wurden. Vgl. u.v.a. Andreu, Sobre revelaciones; Böhme, Alternativen; Hübner, Kritik; Meyer-Abich (Hg.), Baum; von Weizsäcker, Einheit; vgl. zudem aber auch Fornet-Betancourt (Hg.), Begegnung.

7Vgl. Olmedo, El aro y la trama.

8Vgl. Fornet-Betancourt u.a. (Hg.), Auf dem Weg.

9Vgl. Plato, Gastmahl, insbesondere 202e; vgl. auch Ortega y Gasset, Meditaciones, insbesondere 311ff.

10Vgl. Gutiérrez, Teología.

11Vgl. dazu u.a.: Marx, Kapital; vgl. auch Lukács, Geschichte; vgl. zudem Kosík, Dialektik.

12Vgl. Reder/Schmidt (Hg.), Bewusstsein, insbesondere 30ff.

13Vgl. Teresa von Ávila, Gott.

Was fehlt?
Leer- und Lehrstellen der Theologie in und für spätmoderne Zeiten

Philosophisch-theologische Anmerkungen aus der Beratungsperspektive

Ferdinand Rohrhirsch, Eichstätt/Esslingen am Neckar

1.Zurichtung der Frage durch Rahmensetzung

‚Die Statements können auch essayistisch, experimentell, gewagt angelegt sein‘ – so die Formulierung von Rainer Bucher in einer E-Mail an die Teilnehmer des Symposions.

Obgleich „gewagt“ und „experimentell“ nur in einem sehr geringen Maße mein Naturell beschreiben, war die Formulierung äußerst hilfreich in Hinsicht auf meine Beitragsausrichtung.

Ich habe aus ihr die Ermutigung destilliert, die Symposionsfrage von Form-, Formulierungs- und Erwartungszwängen zu befreien, um sie so aus ihrer, für mich riesenhaft, beinahe anmaßenden Dimension herauszuholen. Ich möchte also auf die Symposionsfrage aus einer deutlich tiefer gelegten – biographisch-beruflichen – Perspektive und Warte einen für mich verantwortbaren Antwortversuch vorlegen.

„Etwas fehlt“ – mit diesen Worten ist ein Text überschrieben, der ein Gespräch von Ernst Bloch und Theodor W. Adorno dokumentiert, das von Glück und Utopie handelt. „Etwas fehlt“, dieser Satz, den Bloch von Brecht übernimmt, verliert auch dort nichts von seiner Bedeutsamkeit, wo es, vermeintlich weit entfernt von Glück und Utopie, um Alltägliches geht. Um einen Alltag, in dem vorgeschützte Sachzwänge häufig zu Handlungsimperativen führen, in deren Schlepptau dann regelmäßig die Vokabeln „unumkehrbar“ und/oder „alternativlos“ zu finden sind. Das gilt nicht nur im Zusammenhang von Bahnhofsneubauten im Südwesten Deutschlands.

Dass im Alternativlosen etwas fehlt, das ist unverkennbar – es ist die Alternative. Wie die zu denken ist, oder was da fehlt, das ist – zugegeben – nicht immer unmittelbar offenkundig. „Etwas fehlt.“ Was das ist, was da fehlt, weiß man nicht immer. Es darf nach Bloch auch „nicht ‚ausgespinselt‘ werden“1. Auch das Symposionsthema setzt voraus, dass etwas fehlt, und lädt ein, genauer zu fragen bzw. darüber nachzudenken, was es ist, das da fehlt.

Im Rahmen der ausgesprochenen Einladung von Rainer Bucher und der Ermahnung von Ernst Bloch bedeutet das für mich, um im Bild zu bleiben, mein Augenmerk auf die Leinwand zu richten. Sie soll daraufhin geprüft werden, ob es ihr möglich ist, Farben aufzunehmen, Farben abzugeben und erneut Farben anzunehmen. Und es bedeutet vor allem nachzusehen, ob überhaupt und welche Farben zur Verfügung stehen.

Damit ich am Bild der Theologie mitzuarbeiten vermag, teile ich meine bisherigen Erfahrungen mit der Theologie in universitäre und nachuniversitäre ein, wobei die universitären Erfahrungen auch meine Studienzeit umfassen.

2.Studienzeit und Universität: Zu Beginn Übermaß – Am Ende Mangel

Denke ich aber an den Beginn meiner Studienzeit, dann war nirgendwo ein Fehlen festzustellen. Aus der Perspektive eines Studierenden war von allem reichlich und manchmal viel zu viel vorhanden. Viele Fächer, viele Daten, viele Ansätze – und das alles unter dem Dach einer Theologischen Fakultät.

Vor einiger Zeit fand sich in der Zeitschrift der Katholischen Akademie in Bayern (zur debatte) der Abdruck eines interdisziplinären Gesprächs, das dem Thema „Glaube und Bildung“ verpflichtet war. Einstiegszitat war ein Satz des 2013 verstorbenen Innsbrucker Bischofs Reinhold Stecher. Was schuldet das Christentum einer Gesellschaft? Stechers Antwort: Bildung und Dialog. Und Bildung, so Kardinal Marx in diesem Gespräch, ist „mehr als ein Anpassungsprozess an die Wirtschaft“2. Lehrer der Religion, und damit waren für Marx nicht nur Religionslehrer gemeint, haben „Universalgenies“3 zu sein. Mit Bezug auf Johannes Röser wurde gefragt: „Wo sind die naturwissenschaftlich und technisch gebildeten Priester?“4, „Wo die Bildungspfarrer?“5.

Den Geist, der hinter diesen Sätzen steht – Welt in vielfältigster Weise verstehen zu wollen, damit ihr freundlich begegnet werden kann, um sie dann, und dann auch erst möglich, gern haben zu können –, meine ich in seinen Ausläufern in meiner Studienzeit in Eichstätt noch verspürt zu haben. In der Theologie gab es noch den Behringer-Lehrstuhl, also Naturwissenschaft und Technik explizit für Theologen. Verpflichtend waren auch die Vorlesungen bei Prof. Norbert Knopp (nicht Guido) – einem Kunstgeschichtler von Rang. „Die Architektur der Gotik“, so lautete der Titel einer seiner Vorlesungen. Wer sie besuchte, der wusste danach, dass man für die Frage, was Menschen von ihrem Gott gehalten haben, nicht auf Traktate angewiesen ist, sondern dass auch Steine vom Lobe Gottes künden können. Wenn man bereit ist, Sehen zu lernen.

Und die Philosophie kam ja noch hinzu. Auch sie war Teil des Theologiestudiums – für mich begeisternd, für nicht so wenige Priesteramtskandidaten eher eine unnötige, beschwerliche und wenig sinnvolle, wenngleich qualifizierte Behinderung auf ihrem „fokussierten“ und sehr geraden Weg zum Geistlichen.

Nein, nichts hat zu Beginn gefehlt – am Ende schon. Das Ende meiner Bekanntschaft mit der universitären Theologie war identisch mit der Streichung des Lehrstuhls für „Praktische Philosophie und Geschichte der Philosophie“, der innerhalb der Theologischen Fakultät verortet war.

Genauer und womöglich erhellender: der Lehrstuhl wurde nicht gestrichen, er wurde innerhalb der Universität umgewidmet – zugunsten eines Lehrstuhls für Informatik.

Da meinte ich zu spüren, über alle privat-berufliche Betroffenheit hinaus, dass mit der Aufgabe dieses Lehrstuhls nicht nur ein großer Teil der Philosophie aus dem theologischen Haus zieht, sondern dass sich mit diesem Auszug auch die Architektur des theologischen Hauses verändert. An seiner Fassade war das kaum zu sehen.

Anders formuliert: gerade durch den philosophischen Teilauszug zeigte sich für mich überdeutlich, dass der Geist der Philosophie zur Identität der Theologie gehört. Und nicht nur im Sinne einer Leitplanke, die es zum Beispiel verhindert, dass die Theologie eine von Spezialfragen geleitete, historische Wissenschaft wird.

Nun aber, seit über einem Jahrzehnt im Beratungsgewerbe, in Gesprächen mit Leitenden in Profit- und Non-Profit-Organisationen, mit Mittelständlern, Autobauern, Leitern von kommunalen Einrichtungen, Heimverantwortlichen, ist weder die Theologie noch die Theologische Fakultät ein Thema. Die Universität Eichstätt wird immer dann zum Thema, wenn Artikel, Pressemeldungen oder eine E-Mail aus der Verwaltung der Katholischen Universität Eichstätt an mich mir signalisieren, dass ein weiteres Kapitel der unendlichen Geschichte der Präsidentensaga aufgeschlagen worden ist.

Zusammengefasst: Ich weiß nicht, was und ob überhaupt der Eichstätter Theologie heute etwas fehlt. Noch viel weniger aber weiß ich, was einer süddeutschen, einer deutschen, einer europäischen oder südamerikanischen oder Eine-Welt-Theologie fehlt.

Wenn ich zudem Theologie grundsätzlich fasse, als wissenschaftliche und, nicht notwendig, aber durchaus wünschenswert, universitäre Unternehmung, die die Reflexion einer gewesenen, aktuellen oder einer möglichen zukünftigen Glaubenspraxis betreibt, und ich damit Theologie von der Glaubenspraxis trenne, die ich in meinem Umfeld wahrnehme und deren Teil ich bin, dann fehlt der Theologie nichts, weil sie selbst fehlt, das heißt in meinem gesellschaftlichen Umfeld nicht vorfindbar ist.

An dieser Stelle kann ich Johanna Rahner nicht widersprechen, die in ihrer Einführung in die katholische Dogmatik schreibt: „So gehört es wohl zu den Grundbedingungen der christlichen Gottesrede, dass ihr niemand zuhört. Man steht mit einem Angebot da, für das keine Nachfrage besteht“6.

3.Die nachuniversitäre Phase: Zu viele Philosophien – Zuwenig Reflexion

Ein wenig anders ist es mit den Fragen, die landläufig philosophische Fragen genannt werden können, und die nicht nur in Gesprächen mit Führungskräften zur Sprache kommen, aber eben auch bei ihnen in Zusammenhängen aufleuchten, in denen von Freiheit, Verstrickung, Schuld, Befreiung, Sehnsucht, nicht anders handeln können – aber anders handeln wollen – die Rede ist.

Im Rahmen dieser Gespräche ist häufig festzustellen, wie stark der Einfluss von gesellschaftlich dominierenden Annahmen ist, bzw. popularisierten Ableitungen aus aktuell hochgeschätzten Wissenschaften zur persönlichen Orientierung genutzt und als Grundlage zur persönlichen Lebens- und Handlungsgestaltung eingesetzt werden.

Ein Beispiel: ganz besonders eindrücklich ist das an der Frage der Führung von Mitarbeitern und Unternehmen festzustellen. Mit Hilfe einer Beratungsindustrie (zu der ich wiederum selbst gezählt werden kann) wird der betreffenden Zielgruppe eine Vielzahl von Modellen, Systemen und Werkzeugen angeboten, die stets den Schein mit sich führen, beziehungsweise ihn auch explizit formulieren, dass mit Hilfe geeigneter Erkenntnisse, der daraus entwickelten Werkzeuge und deren effektiver und effizienter Implementierung die Lenkung, Steuerung und Gestaltung der unternehmerischen Wirklichkeit und der darin agierenden beziehungsweise zu führenden Mitarbeiter erfolgreich machbar ist.

Ja, mehr noch: wie es so schön und vielversprechend einer der Einflussreichsten in dieser Branche, der in St. Gallen sitzende Fredmund Malik, kürzlich in der „ZEIT“ formulierte: „Das Unternehmen muss dem Wandel voraus sein, um dessen Regeln maßgeblich mitzugestalten“7.

Dazu braucht es natürlich ganz andere Tools und Lösungen als bisher, denn der typische Angstansatz, den sicherlich einige der hier Anwesenden noch aus dem Religionsunterricht der eigenen Schulzeit oder aus Predigten kennen, hoffentlich auch nur aus der Schulzeit, der wird auch im ökonomischen Beratungskontext immer wieder gerne gewählt: mach den Leuten Angst und bring die Erlösung/Problemlösung gleich mit. Da heißt es dann: mit herkömmlichen Managementmethoden werden Konzerne (z.B. Siemens) in der digitalen Transformation untergehen. Nur gut, dass Malik dann auch die neuen erfolgversprechenden Lösungskonzepte parat hat: „Für das Meistern dieser Anforderungen gibt es Lösungen, die aus den Komplexitätswissenschaften stammen, einer Kombination mehrerer Wissenschaften. Allen voran gehört dazu die Kybernetik – die Wissenschaft funktionierender Systeme und ihrer Selbstorganisation –, aber auch die Gehirnforschung sowie die Bionik, also die Übertragung von Lösungen aus der Natur auf Technik und gesellschaftliche Organisationen“8.

So etwas zu sagen, ist nur dann möglich, wenn dazu und davor eine gnadenlose Abstraktion der Realität durchgeführt wird, also ontologisch gesehen das Ganze des Seienden auf Vorhandenheit reduziert wird und anschließend das Ganze der als relevant bestimmten Vorhandenheitsbrocken in Relationen bzw. in Funktionsbeschreibungen aufgelöst wird.

Zur Steuerung, Lenkung und Gestaltung von Unternehmens- wie Führungsprozessen werden aus Personen Menschen gemacht, Menschen werden als kognitiv-biologische Lebewesen definiert, die als primär anreizorientierte Triebbündel agieren. Die relevanten Schalt- und Steuerungsmechanismen dieser Triebbündel befinden sich im Gehirn. Kenntnisse der Gehirnabläufe liefern die Fundamente für gelingende Interaktionen. Gelingende Interaktionen liegen vor, wenn die Akteure Mehrleistung generieren zum Wohle des Gesamtsystems auch auf Kosten, also zu Lasten des produzierenden Funktionselements, das heißt des Akteurs.

In funktionalen Führungsparadigmen gibt es keine „Handlungen“ mehr, weil es keine „Personen“ mehr gibt. Und dort, wo Personen fehlen, haben Begriffe wie Autonomie, Gut-und-böse-sein-Können, Gerechtigkeit, Verantwortung, Glaubwürdigkeit, Endlichkeit, Unverfügbarkeit, Schuld und Sehnsucht keinen Sinn mehr. Das Geheimnis Mensch wird so gnadenlos ausgepinselt mit der von einer popularisierten Wissenschaft gelieferten Schwarz-Weiß-Palette. Er wird in abgrenzbare Bezirke aufgeteilt und, man muss es zugestehen, auch im Malen nach Zahlen kommt etwas heraus.

Und weil dann doch ein Bild aus bloßen Grauschattierungen ziemlich eintönig wirkt und allerlei Teambildungsspielchen bzw. Reorganisationsmaßnahmen auch nicht helfen und alles irgendwie beim Alten bleibt, trotz vielfältigster Aktionen des „HR“ (department for human resources), kommt dann doch die andere Seite, die weichen Faktoren bildende, die nicht-objektive, die jenseitige, im Zwie- und Dämmerlicht verortete Seite von Mensch und Unternehmen ins Blickfeld. Wie im Privatfernsehen die Mysteryserien wuchern, sprießen im Unternehmens- und Führungskontext die Werte.

Werte sollen und müssen zu Ankern werden, zu Verbindlichkeitskonstanten, denen sich alle unterordnen. Aber welche Werte und woher? Im Normalfall werden diese von der Firmenleitung oder von einer Arbeitsgruppe gesetzt beziehungsweise aufs Tablett gehoben und dann steht eben in der Firmenzeitung oder auf den Internetseiten des Unternehmens: „Wir wollen mit (hier die Werte ihrer Wahl) für unsere Kunden …“