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Stefan Kiechle
Grenzen überschreiten
Papst Franziskus und seine jesuitischen Wurzeln

Ignatianische Impulse

Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ und Martin Müller SJ

Band 67

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Stefan Kiechle

Grenzen überschreiten

Papst Franziskus
und seine jesuitischen Wurzeln

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

1. Noch ein Papst-Buch?

2. Leben aus den Exerzitien

3. Gesandt in die Welt

4. Glaube, Gerechtigkeit, Dialog mit Religionen, Inkulturation

Exkurs: Sich die Hände schmutzig machen

5. In Gemeinschaft

6. Ignatianisch leiten

7. Das Modell des Peter Faber

8. Wird die Kirche jesuitisch?

Zwölf Schlüsselworte des Papstes

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Papst Franziskus begegnet jungen Jesuiten.© SJ-Bildarchiv

1. Noch ein Papst-Buch?

Schon vieles wurde über Papst Franziskus geschrieben und auf vielerlei Weise. Dieses Buch versucht, die Wurzeln des Papstes im Jesuitenorden und in der ignatianischen Spiritualität darzustellen. Welches ist sein geistlicher Stil, welches seine Theologie, welches seine »Weise des Vorangehens« – um sogleich dieses ignatianische Grundwort einzubringen? Wie prägen diese Elemente ihn selbst? Wie prägten sie sein jahrzehntelanges Wirken in Argentinien? Und wie strahlen sie nun auf die weltweite Kirche aus? Inwiefern können sie suchende Christinnen und Christen – einzelne und Gemeinschaften – auf ihrem Weg des Glaubens und des christlichen Engagements inspirieren?

Jorge Mario Bergoglio, Papst Franziskus, ist eine – so berichten jene, die ihm begegnen – leicht zugängliche und im guten Sinn einfache Person, aber er ist zugleich eine vielschichtige und komplexe Persönlichkeit – auch das hört man vielfach. Wer seine Texte und die Bücher über ihn studiert, empfindet Größe, aber er erfährt auch das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Auf den schnellen Begriff lässt Papst Franziskus sich nicht bringen. Trägt gerade dieser Zug nochmals zur Faszination bei, die er auf Millionen Menschen ausübt? Papst Franziskus strahlt jedenfalls – das spüren die Millionen – nicht vor allem sich selbst aus, sondern immer etwas geheimnisvolles Anderes, oder besser: einen Anderen, der ihn erfüllt und bewegt und der aus ihm heraus spricht und wirkt und bewegt. In diesem Buch gehe ich – eher nachdenkend-fragend als urteilend-lehrhaft – dem nach, wie Papst Franziskus aus dem ignatianischen Geist geworden ist, was er ist, und was dies für uns Christen und für die Kirche bedeuten könnte. Damit schreibe ich natürlich ebenso über den Jesuitenorden und seinen Geist, in seinem Wirken in der Kirche und für die Welt. Auch dieses Buch kann nur subjektiv blicken und tasten und Eindrücke in unser Sprechen und Empfinden zu übersetzen versuchen.

Ein erster Blick dieses Buches wird darauf gehen, wie der Papst durch die Exerzitien geprägt wurde und wie er aus ihnen lebt. Dann gehen wir dem Fundament seines Selbstverständnisses nach als jemand, der sich von Gott in die Welt und insbesondere an Grenzen des Lebens gesandt weiß. Der enge Zusammenhang von Verkündigung des Glaubens und Einsatz für Gerechtigkeit ist ein Urthema jesuitischer Sendung; Papst Franziskus hat dazu ein komplexes Verhältnis, das wir in seiner Entwicklung zu ertasten versuchen. Der Papst lebt aus Beziehungen und in Gemeinschaft; ohne diese ignatianische Prägung wird man ihn – und damit unseren christlichen Glauben – nicht verstehen können. Ein Blick auf sein Verständnis und seine Praxis der Leitung führt zu einer Betrachtung über Peter Faber, jenen Jesuiten der Anfangszeit, den der Papst besonders verehrt und schätzt. Am Ende der Kapitel wollen Fragen zum persönlichen Nachdenken anregen. Zwölf prägnante Worte des Papstes, gleichsam Schlüsselworte seines Pontifikats, schließen die Überlegungen des Buches ab.

Das Jesuitische oder Ignatianische ist mehr ein modus procedendi (eine Weise des Vorangehens) als ein Inhalt, mehr ein Stil als eine Lehre. Und es will keine exklusive Sonderspiritualität einzelner oder einer auserwählten Gruppe sein, sondern es will den Kern biblisch-christlicher Existenz in eine Lebensweise übersetzen. Insofern ihm dies gelingt, hat es sein Recht, seine Attraktivität, seine Weisungskraft. In diesem Buch werde ich daher, immer wieder mit Zitaten und biographischen Bezügen des Papstes, seiner »Weise« nachzugehen versuchen, nicht um einen Kult um die Person oder um das Papstamt zu befördern – das wäre wenig ignatianisch –, sondern in der Hoffnung, dass diese Weise des Papstes einigen Leserinnen und Lesern einige geistliche Frucht bringen wird.

Bei einem Besuch in der Augsburger Kirche St. Peter am Perlachberg war Bergoglio von dem Bild »Maria Knotenlöserin« tief beeindruckt: Maria entknotet ein weißes Band, das ihr von Engeln gereicht wird. Aus Augsburg nahm er nur eine Postkarte des Bildes mit, nach seiner Bischofsweihe wurde jedoch eine Reproduktion in einer Kirche in Buenos Aires angebracht. Das Bild wurde schnell populär unter den Gläubigen und die Kirche zu einem Wallfahrtsort. Es weist auf die vielleicht innerste Berufung des Papstes hin: Gott will Verknotetes lösen, im persönlichen Leben aller Menschen, in der Kirche, in aller Welt; Maria, die vollkommene Frau, hilft ihm dabei. Die Berufung des Papstes und ebenso die aller Christen und der weltweiten Kirche ist es, in diese göttliche Dynamik des Knotenlösens einzutreten und mitzuhelfen, ein Reich Gottes ohne Knoten und Fallstricke aufzubauen.

2. Leben aus den Exerzitien

Am Anfang stand die Großmutter, die den jungen Jorge in ihrer Gläubigkeit und ihrem tiefen Gebet prägte. Und es gab den Vater, der mit der Familie täglich vor dem Abendessen Rosenkranz betete. Jorge wuchs wie von selbst in den Glauben und in eine intensive Gebetspraxis hinein – manch ein Nachgeborener wird dies, hoffentlich ohne Neid, bestaunen und bewundern. Mit 17 dann eine Berufungserfahrung: In einer Kirche sah Jorge einen ihm unbekannten Priester, der ihn beeindruckte. Jorge beichtete bei ihm, und sein Glaube wurde so sehr »aufgerüttelt«, dass er beschloss, Priester zu werden. Er schreibt: »Es war die Überraschung, das maßlose Erstaunen über eine wirkliche Begegnung. Ich merkte, dass ich erwartet wurde. Das ist die religiöse Erfahrung: das Erstaunen darüber, jemandem zu begegnen, der dich erwartet. Von diesem Zeitpunkt an ist es Gott, der einen mit einer Ausschließlichkeit umwirbt, wie es sie nur in der ersten Liebe gibt. Man sucht Ihn, aber Er sucht dich zuerst. Man möchte Ihn finden, aber Er findet uns zuerst.«1 Für Jorge war jedoch zunächst ein anderer Schritt dran: Schon als Junge hatte ihn sein Vater in der freien Zeit zum Arbeiten geschickt, und nach dem ersten Schulabschluss machte er eine Ausbildung als Chemietechniker – so viel Welterfahrung sollte sein.

Warum wurde er Jesuit?

Mit 20 Jahren – damals eher spät – trat Jorge ins Priesterseminar ein. Zwei Jahre später wechselte er ins Noviziat der Jesuiten; im Seminar hatte er die Patres kennengelernt. Warum fühlte er sich in die Gesellschaft Jesu berufen? Drei Gründe gibt er für diesen Schritt an: »der Sendungscharakter, die Gemeinschaft, die Disziplin«2. Die Sendung, also jener Auftrag, hinauszugehen und zu verkünden, zu predigen, für Gott und die Menschen zu arbeiten, ignatianisch gesagt: zu »helfen«, steht am Beginn; das Motiv der Gemeinschaft – unerwartet für Jesuiten? – kommt gleich danach; in den beiden nächsten Kapiteln dieses Buches werden diese Momente reflektiert. Den dritten Grund, die Disziplin des Ordens, kommentiert er selbst: »Das mutet seltsam an, weil ich von Geburt an ein undisziplinierter Mensch bin. Aber die Disziplin der Jesuiten, ihre Art, die Zeit einzusetzen, hat mich sehr beeindruckt.«3 Brauchte er die Disziplin, um sein überbordendes Charisma zu zähmen? Das wäre recht einfach gedeutet. Jedenfalls will Jorge im Orden Disziplin lernen. In heutiger Spiritualität ist »Disziplin« kein populäres Wort, und wir verbinden es kaum mit dem Ignatianischen. Damals galt Disziplin als Kennzeichen gerade der Jesuiten; haben wir Jesuiten seither etwas Wichtiges verloren oder ausgeblendet? Hilfreich ist wohl der Hinweis des Papstes auf die Zeit, denn der ignatianische Geist legt immer Wert auf den rechten Umgang mit der Zeit: alles nach klugen Prozessen, im angemessenen Tempo, ohne Hektik und ohne Trödelei, mit einer, weil Zeit immer knapp ist, guten und gut organisierten Effizienz, aber auch mit freier Entwicklung im passenden Rhythmus – und mit Muße. Auch dieses Thema – bei Papst Franziskus kommt es immer wieder – wird uns begleiten.

Im Orden machte Jorge Exerzitien: im Noviziat und später noch einmal im Terziat4