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Jörg Gabriel

Rückkehr zu Gott

Studien zur systematischen und spirituellen Theologie

49

Herausgegeben von
Gisbert Greshake, Medard Kehl
und Werner Löser

Jörg Gabriel

Rückkehr zu Gott

Die Predigten Johannes Taulers in ihrem zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext Zugleich eine Geschichte hochmittelalterlicher Spiritualität und Theologie

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg

978-3-429-04684-2 (PDF)

978-3-429-06083-1 (ePub)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2009/10 vom Fachbereich katholische Theologie der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Herzlich möchte ich allen danken, die an der Entstehung dieser Arbeit durch Wort und Tat beteiligt waren. Ganz besonders danke ich meinem langjährigen Provinzial, Pater Dietmar Weber, der mir immer wieder Mut gemacht hat, und meinen Mitbrüdern der deutschen Ordensprovinz der Kamillianer für die Ermöglichung der Promotion, Herrn Prof. Dr. Markus Knapp für die engagierte und wohlwollende Begleitung, Herrn Prof. Dr. Wilhelm Damberg für wichtige Anregungen, den Herren Professoren Dr. Gisbert Greshake, Dr. Medhard Kehl S.J. und Dr. Werner Löser S.J. für die Aufnahme in die Reihe „Studien zur systematischen und spirituellen Theologie“. Besonders bedanken möchte ich mich aber auch bei Frau Gertrud Tillmanns und bei Herrn Dr. Kurt Viefhaus. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern sowie Frau Irmela Richter.

Essen, den 14. Juli 2012                                          Pater Jörg Gabriel

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

Erstes Kapitel:
Taulers Leben und Nachwirken

I.

Taulers Leben

II.

Taulers Nachwirken

Zweites Kapitel:
Forschungsstand

Drittes Kapitel:
Absicht dieser Arbeit

Viertes Kapitel:
Überlieferung und Textgrundlage

I.

Überlieferung und Drucktradierung von Taulers Predigten

II.

Zur Textgrundlage und Übersetzung

ERSTER TEIL

Historische Grundlagen – neue religiöse Bewegungen

Erstes Kapitel:
Auslöser – Die Reformen Clunys und Papst Gregors VII
.

Zweites Kapitel:
Neue Mönchsorden

I.

Kartäuser und Zisterzienser

II.

Die Bedeutung der Zisterzienser für das geistliche Leben

III.

Die Spiritualität des heiligen Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153)

1. Bernhards Predigten über das „Hohelied“

2. Vom „geistigen Adel“ des Menschen

Drittes Kapitel:
„Vita evangelica et apostolica“ – Wanderpredigt und die Entstehung neuer Orden

I.

Wanderprediger

II.

Robert von Arbrissels Doppelklöster und Norbert von Xantens Prämonstratenser

III.

Frauenklöster im Zisterzienserorden

Viertes Kapitel:
„Sektenbildung“ seit dem 12. Jahrhundert

I.

Die Waldenser

II.

Die Katharer

III.

Die „freien Geister“

1. Möglicher historischer Ursprung und Verbreitung

2. Die freigeistige Irrlehre im Schwäbischen Ries (1270/73)

IV.

Das freigeistige Denken im 14. Jahrhundert

Fünftes Kapitel:
Laienbruderschaften und
die Wende in der Einstellung zu den religiösen Bewegungen
unter Innozenz III. (1198 – 1216)

I.

Die Humiliaten – Verketzerung und Versöhnung

II.

Neue Wege in der Bekämpfung von sogenannten Sekten

III.

Die Dominikaner

IV.

Versöhnung mit Teilen der Waldenser – die „Katholischen Armen“

V.

Die Franziskaner

Sechstes Kapitel:
Die religiöse Frauenbewegung

I.

Die Beginen

II.

Die Frauenklöster und die Frage der „Cura monialum“ im Dominikanerorden

III.

Ein fruchtbarer Dialog

ZWEITER TEIL

Geistesgeschichtliche Grundlagen – dominikanische Spiritualität und die „deutsche Albertschule“

Erstes Kapitel:
Spiritualität des hl. Dominikus und des Predigerordens

I.

Wesenselemente dominikanischer Spiritualität

1. Die Predigt

2. Die Kontemplation

3. Die Armut

II.

Christozentrische Spiritualität

III.

„Spiritualität der Menschwerdung“ bei Johannes Tauler

Zweites Kapitel:
Die „deutsche Albertschule“ und die Lehre des Intellekt

I.

Albertus Magnus (1193 – 1280)

1. Der Einfluss des Averroes auf Albertus Magnus´ Intellekt-Lehre

2. Alberts Intellekt-Spekulation – substantiale Einheit der Seele

II.

Dietrich von Freiberg (1250 – um 1318/20)

1. Der tätige Intellekt (intellectus agens) – das Göttliche im Menschen

2. Der mögliche Intellekt (intellectus possibilis) – Akzidenz und Substanz zugleich

3. Meister Dietrich: Ein „Schlüssel“ zum Verständnis von Meister Eckhart und zur „deutschen Mystik“

III.

Berthold von Moosburg (14. Jahrhundert)

1. Das Unum in der neuplatonischen Philosophie des Proklos

2. Bertholds Lehre des „Unum in nobis“ – das „Eine in uns“

Drittes Kapitel:
Meister Eckhart – aus der Ewigkeit in die Zeit

I.

Gottesgeburt – trinitarische Entfaltung

II.

Esse est Deus – Sein und Denken im einen und dreifaltigen Gott

III.

Der Mensch – Seele und Seelenfunken

IV.

Gelassenheit – Abgeschiedenheit – Armut des Geistes

1. Gelassenheit

2. Abgeschiedenheit

3. Armut des Geistes

Viertes Kapitel:
Heinrich Seuse – Meister Eckharts theologisch-mystische
Positionen im „Büchlein der Wahrheit“

I.

Vom „namenlosen“ Gott

II.

Vom dreieinen Gott

III.

Vom Schöpfergott und vom Dasein der Geschöpfe in Gott

IV.

Wahre Gelassenheit durch die Inkarnation Christi

V.

Wie wird der Mensch gelassen und kommt zur Seligkeit

VI.

Falsche Gelassenheit und ungeordnete Freiheit

VII.

Äußere Merkmale des in Gott gelassenen Menschen

DRITTER TEIL

Rückkehr zu Gott – Johannes Taulers Lebenslehre

Vorbemerkung

Erstes Kapitel:
Gottes Ruf in den Ursprung –
die Rückkehr des Menschen zu Gott

Zweites Kapitel:
Gottes trinitarische Dynamik – Nähe und Ferne

Drittes Kapitel:
Gottes trinitarische Dynamik
als Bild in der Seele des Menschen

I.

Das Bild Gottes im Grund der Seele

II.

Der Mensch – geschaffen zwischen Zeit und Ewigkeit

1. Der „äußere Mensch“ und die „äußeren Kräfte“

2. Der „innere Mensch“ und die „inneren Kräfte“

2.1. Die Vernunft

2.2. Der Wille

2.3. Die Liebe

3. „Drei Menschen“ und doch „einer“

3.1. Drei „Dinge“ im Menschen

3.2. Der lautere menschliche Geist – Geist, Gemüt und Grund

3.3. Der Grund in der Seele des Menschen

Viertes Kapitel:
Rückkehr in den göttlichen Ursprung –
dem Beispiel des trinitarischen Gottes folgen

I.

Dem Vorbild des Vaters folgen – Einkehr und Selbsterkenntnis

II.

Dem Vorbild des Sohnes folgen – Kreuzesnachfolge und Himmelfahrt

1. Kreuzesnachfolge

2. In den Himmel nachfolgen

III.

Der Heilige Geist – Kraft für die bleibende Verbindung zwischen Gott und Mensch

1. Das Wirken des Heiligen Geistes im Menschen

1.1. Der Heilige Geist „itelt“ („leert“) und „fúllet das ital“ („füllt das Leere“)

1.2. Der Heilige Geist straft

2. Die sieben Gaben des Heiligen Geistes

IV.

Weitere Hilfen für den Menschen

1. Die Engel und die Gottesmutter

2. Hilfe durch die kirchlichen Sakramente

2.1. Die Beichte

2.2. Die heilige Eucharistie

Fünftes Kapitel:
Rückkehr in den einen, fernen Gott

I.

Die „Eigenschaften“ des einen, fernen Gottes

II.

Die Breite, Länge, Tiefe und Höhe Gottes

III.

Zusammenfassung – Vollreife des Lebens

Sechstes Kapitel:
Der Gott nahe, aber sich von Gott entfernende Mensch

I.

Welt und Mensch haben sich „verirrt“ – der Mensch ist „krank“

1. Die pharisäischen Christen

2. Die „Schriftgelehrten“ und die falsche Müßigkeit der freien Geister

3. Die „Krankheit“ des Menschen und ihre Symptome

3.1. Taubheit und Blindheit

3.2. Übertriebene Sorge um vergängliche Dinge – Habgier und Unglaube

4. Zusammenfassung: „Fünf Gefangenschaften“

II.

Der Mensch als Sünder – eine Vergiftung infolge der Erbsünde

1. Gewohnheits- und Gelegenheitssünden

2. Vier Arten von Sündern

Siebtes Kapitel:
Die Gottesfreunde

I.

Helfer auf dem Weg zurück zu Gott

II.

Solidarische Liebe in der Kirche

Achtes Kapitel:
Nicht ein Weg, sondern verschiedene Wege

I.

Verschiedene Ämter, aber ein Geist

II.

Gott ruft zu verschiedenen Wegen

1. Dreierlei Leute: Beginnende, Zunehmende, Vollkommene

2. Verschiedene Heilige

3. Vier Maße – zwei Wege

III.

Mensch und Gott suchen einander – aktives und passives Suchen

1. Das wirkende Suchen – äußerliche gute Werke und Einkehr in den Grund

2. Das leidende Suchen – von Gott gesucht werden

Neuntes Kapitel:
Wege zur Gelassenheit

I.

Die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Gelassenheit

1. Äußere Gelassenheit

2. Innere Gelassenheit

II.

Sich loslassen – die Erkenntnis des eigenen Nichts 574

1. Erschaffenes, gebrechliches und lauteres Nichts 576

2. Umkehr auf dem Weg des „Ich bin Nichts“

III.

Sich Gott überlassen – das Leiden

1. Frieden im Unfrieden

2. Vom „Alten Bund“ in den „Neuen Bund“

3. „Myrrhe“ – Bitterkeit, um Gott zu finden

4. Das Ziel: vollkommene Gelassenheit

IV.

Gott-Leiden – die „Arbeit der Nacht“

1. Von Gott verlassen – Leiden am finsteren Gott

2. Sich der Finsternis Gottes hinkehren – wesentliche Umkehr und Erneuerung

3. Versuchungen durch den Feind

4. Der Mensch wird gejagt – die Dynamik

Zehntes Kapitel:
Übungen zur Gelassenheit – die Tugenden

I.

Die Tugenden Jesu Christi

1. Tugendleben als Nachfolge – Demut, Sanftmut und Geduld

2. Die Evangelischen Räte – die Armut des Geistes

II.

Die Klugheit und die Abgeschiedenheit zur Vorbereitung auf den Empfang des Heiligen Geistes

III.

Die Liebe als Weg zur Einheit mit Gott

1. Die verwundete, gefangene, quälende und rasende Liebe

2. Die süße, weise und starke Liebe

IV.

Auf den Berg der Seligpreisungen steigen

V.

Zusammenfassung: die fünf Tore zur Gesundung des Menschen

Elftes Kapitel:
„Ein Gegenstand, der nicht jedermann angeht“ –
der eine Stufenweg in die vollkommene Einheit mit Gott

I.

Von den Graden des „mystischen Lebens“

1. Der erste Grad: der Jubel (jubilacio)

2. Der zweite Grad: die Bedrängnis (getrenge)

3. Der dritte Grad: der Übergang (úbervart)

II.

„Duc in altum“ – „fahre in die Höhe“

1. Den Grund in die Höhe erheben

2. Wiederaufstehung in Gott

SCHLUSSREFLEXION

Taulers christliche Spiritualität im Kontext der heutigen Spiritualitäten

Vorbemerkung

Erstes Kapitel:
Spiritualität und Mystik – eine Verhältnisbestimmung

Zweites Kapitel:
Ein Dialog von christlicher Mystik und theologischer Lehre

Drittes Kapitel:
Spiritualität und Mystik heute

I.

Östliche Religionen

II.

Grundzüge moderner Spiritualitäten

III.

Dialog mit anderen Religionen und modernen Spiritualitäten

Viertes Kapitel:
Taulers Spiritualität – eine theologische Reflexion

I.

Der Ausgangspunkt: Taulers Gottesbild

II.

Das eine trinitarische Sein Gottes als die eigentliche Wirklichkeit

1. Die theologische Mitte: Trinität und Kreuz

2. Gottes Personalität als Bedingung der Möglichkeit für das Personsein des Menschen

3. Der Grund der Seele als „Personmitte“

4. Ein dialektisches Verhältnis: Gott und Mensch

III.

Einkehr und Gelassenheit

1. Der trinitarische Gott – Bedingung der Möglichkeit und Vorbild für Einkehr und Gelassenheit

2. Der trinitarische Gott als Idealbild für vollendetes Personsein

3. Der trinitarische Gott als Vorbild für die „spirituelle Methode“

3.1. Das Vorbild des Vaters: die Selbsterkenntnis

3.2. Das Vorbild des Sohnes: die Gelassenheit

3.3. Das Vorbild des Heiligen Geistes: die gelebte Liebesgemeinschaft

IV.

Leben aus dem Glauben in der Einheit mit Gott

V.

Vor- und Nachteile von Taulers theozentrischem Wirklichkeitsverständnis

1. Geborgen und Aufgehoben in Gottes Sein

2. Verantwortung des Menschen gegenüber Schöpfung und Gott

3. Totale Abhängigkeit von Gott

4. Vereinnahmung durch Gott

5. Zu Taulers Eucharistieverständnis

Fünftes Kapitel:
Taulers Spiritualität im Kontext des heutigen Spiritualitätsverständnisses

Sechstes Kapitel:
Taulers Spiritualität im Kontext einer modernen Spiritualität

I.

Das Denken des „Einen“ in der transkonfessionellen Spiritualität Willigis Jägers

II.

Rückfragen christlicher Theologen

III.

Das Denken des „Einen“ bei Tauler und Eckhart

Praktische (konkrete) Perspektiven

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Einleitung

Erstes Kapitel

Taulers Leben und Nachwirken

I. Taulers Leben

Über Johannes Taulers Leben ist nicht sehr viel bekannt, ganz genau kennen wir nur sein Sterbedatum (am 13. Juni 1361). Tauler selbst verbirgt sich ganz hinter seiner Verkündigung, d.h. Jesus Christus. Da das Bekannte ausreichend und ausführlich beschrieben worden ist1, beschränken wir uns an dieser Stelle auf die wesentlichen Fakten. Johannes Tauler wurde um 1300 in einer wohlhabenden Straßburger Bürgerfamilie geboren.2 Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren trat er in den Dominikanerorden in Straßburg ein. Nach einem Jahr Noviziat, sechs bis acht Jahren studium artium, studium naturarum und dem Studium der philosophia moralis sowie der theologischen Sentenzen des Petrus Lombardus und wahrscheinlich des weit verbreiteten Compendium theologiae veritatis des Dominikaners Hugo Ripelin (+ 1268)3 erfolgte mit mindestens 25 Jahren die Priesterweihe.4 Mit großer Wahrscheinlichkeit war der Dominikaner Johannes von Sterngassen5 Taulers theologischer Lehrer während der Ausbildungszeit. Im Urkundenbuch der Stadt Straßburg wird Johannes von Sterngassen als Konventuale des Dominikanerklosters geführt. Um 1320 wirkte er dort auch als Lektor. Johannes von Sterngassen verfasste neben einem Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus auch einen eigenen Sentenzenkommentar.6 Das ist insofern von Bedeutung für Tauler, da Johannes von Sterngassen, obgleich er sich in seinen lateinischen Werken als Vertreter des Thomismus erweist, in der Frage des Unterschieds zwischen Dasein und Wesenheit von Thomas von Aquin (1224/25 – 1274) abweicht und statt dessen der Theologie und Philosophie des Albertus Magnus (ca. 1193 – 1280) folgt. Albertus Magnus aber beeinflusst – wie wir in dieser Arbeit sehen werden7 – das philosophischtheologische Denken im deutschen Kulturraum und die sog. „deutsche Mystik“, zu deren Vertretern Meister Eckhart (ca. 1260 – 1327/28), Heinrich Seuse (ca. 1295 – 1366) und Johannes Tauler gehören.8

In seiner Ausbildungszeit – zwischen 1314 und 1323/24 – hat Tauler sicherlich Meister Eckhart in Straßburg kennengelernt, der dort als Vikar des Ordensmeisters seinen Sitz hatte, um in dessen Auftrag die Schwesternklöster am Oberrhein, im Elsaß und in der Schweiz zu beaufsichtigen und zu visitieren.9 Tauler selbst nennt Eckhart einen „minneclich meister“10 („liebenswerten Meister“), was darauf schließen lässt, dass er ihn – wenn auch nicht als sein Schüler – immerhin predigen gehört hat bzw. auch ein persönlicher Kontakt möglich war.11 Nach seiner Weihe zum Priester wurde Tauler zum Seelsorge- und Predigtdienst bestimmt. Obwohl er kein theologischer lesmeister (Magister der Theologie) war, sondern ein lebmeister, ein Spiritual, verfügte er dennoch über ein beträchtliches theologisches Wissen.12 Tauler wirkte vor allem in Straßburg und seiner Umgebung, in den mehr als 70 Beginenkonventen mit jeweils sechs bis dreißig Frauen und in den acht Dominikanerinnenklöstern.13 Die Seelsorge an den Schwestern und Beginen bildet die Grundlage für das Predigtcorpus Taulers wie auch der geistlichen Werke Meister Eckharts und Heinrich Seuses.14 Zu Taulers Aufgaben in den Schwesternklöstern gehörte die tägliche Feier einer Konventmesse sowie eine Predigt an den monatlich stattfindenden Kommuniontagen. Darüber hinaus konnte die Priorin zu besonderen Anlässen einen Prediger anfordern. Da in den Schwesternkonventen eine individuelle geistliche Begleitung nicht erlaubt war, um unerwünschte Bindungen an einen Beichtvater zu verhindern, machten sich Prediger wie Tauler vor allem die dem geistlichen Leben dienenden Themen zu eigen, wie zum Beispiel die verschiedenen Wege zur Einheit mit Gott.15

Zu Taulers Zuhörerinnen gehörten auch Beginen16, die sich zur seelsorglichen Betreuung den Dominikanern unterstellt bzw. sich durch Aufnahme in einem Dominikanerinnenkloster an eine Regel gebunden hatten.17 Schon während seines Studiums (1317/18) erlebte Tauler die päpstlichen und bischöflichen Verfolgungen der Beginen, die zwar ein Leben nach den evangelischen Räten führten, aber keinem Orden angehörten. Diese semireligiöse, nicht an einen Orden gebundene Lebensart wurde den Beginen dann zum Verhängnis, weil sie darin von den verurteilten Häretikern, wie zum Beispiel den „Brüdern und Schwestern vom Freien Geist“18, nur schwer zu unterscheiden waren.19 Man warf den frommen Frauen vor, sie beschäftigten sich mit religiösen Fragen, die ihnen nicht zustünden. Beginen dürften sich keine Gedanken über Fragen nach der höchsten möglichen Vollkommenheit (perfectio) machen, nicht miteinander über die in der Ewigkeit währende Glückseligkeit (beatitudo) sprechen oder über den dem Menschen möglichen Grad der Beschauung (contemplatio) nachdenken.20

In einzelnen Predigten stellt sich Tauler indirekt auf die Seite der von kirchlichen Kreisen oft angefeindeten Beginen. So stellt er sie in einer Predigt auf eine Stufe mit Mönchen und Nonnen.21 Aus einer anderen Predigt geht hervor, dass es oft die nach außen hin Frommen sind, die Arme und Beginen nicht in ihren Häusern aufnehmen:

„Maniges wenet eime anderen sin hus loeschen und verburnet das sin, … so sprechent si, kumet ein arm kint zuo in: ‚nein, es ist ein trunffeht mensche‘; kumet zuo den andern ein mensche: ‚nein, es ist ein begine.‘ Wol hin, ir rechten cisternen.“22

„Mancher glaubt, einem anderen sein löschen zu können, während er das eigene niederbrennt, … so sprechen sie, wenn ein armes Kind zu ihnen kommt: ‚Nein, es ist ein betrügerischer Mensch.‘ Kommt zu den anderen ein Mensch: ‚Nein, es ist eine Begine.‘ Ach, geht mir doch weg, ihr rechten Zisternen!“

Tauler predigte jedoch nicht nur in Straßburg. Gesichert sind auch zwei Reisen nach Köln (1339 und 1346), wo er im Kloster der Dominikanerinnen in St. Gertrud gepredigt hat.23 Tauler hatte aber auch Beziehungen außerhalb der Klosterwelt. Das belegen die Kontakte zum Weltpriester Heinrich von Nördlingen (+ nach 1356), der Tauler einen lieben Vater nennt und ihn als theologische Autorität anerkennt.24 Heinrich von Nördlingen übersetzte Mechthild von Magdeburgs „Das fließende Licht der Gottheit“ vom Niederdeutschen ins Alemannische. Er ermöglichte als geistlicher Begleiter auch Kontakte der Dominikanerin und Mystikerin Margareta Ebner (um 1291 – 1351) zu Tauler im Kloster Medingen (bei Dillingen). Ebner tat sich als Verfasserin von autobiographischen Offenbarungen und einer Paraphrase des Vaterunser hervor.25 Beide, Heinrich von Nördlingen und Margareta Ebner, gehörten zu einer Bewegung, die sich die „Gottesfreunde“ nannte. Diese aus Laien, Ordensleuten und Klerikern bestehende Gruppe versuchte ein intensiveres mystisches christliches Leben im Alltag zu führen.26 Zu diesen Gottesfreunden zählte auch der reiche, bekehrte Straßburger Bankier Rulman Merswin (1307 – 1382), dessen Seelenführer Tauler 1347 wurde. Merswin versuchte sich auch in der mystischen Schriftstellerei.27 Aus dem Nachlass von Merswins Gottesfreundekreis stammt das sog. „Meisterbuch“, eine fiktive Geschichte von der Bekehrung Taulers.28

Zwischen 1339 und 1343 hielt sich Tauler in Basel auf. Im Streit zwischen Kaiser Ludwig dem Bayern (1282 – 1347) und Papst Johannes XXII. (1316 – 1334) und dessen Nachfolgern29 waren die Dominikaner, da sie im Gegensatz zur Stadt Straßburg auf der Seite des Papstes standen, 1339 aus Straßburg ausgewiesen worden.30 Es gibt kaum sichere Spuren über Taulers Wirken in Basel. Vermutlich betreute er dort die Dominikanerinnen. Eine Handschrift, die aus dem Auszug einer Predigt mit einem Hinweis, dass Tauler – „der aus Straßburg“ – der Prediger gewesen ist, besteht, bezeugt, dass er im Basler Frauenkloster Klingenthal gepredigt hat.31

„Wenne dú sele kómet an ir hochstes adel rechter volkomenheit so geschehent ir funf ding. Das erste ist, dc die sele erblindet. Ach, lieber were mir ein blinde sele dan tusent gesehender sele. Nú merkent. Das ander ist, so das herze stirbet. Das dritte ist, so der geist gestillet. Das vierde ist, so alle krefte verderbent. Das funfte ist, so alle gedenke verswindent. Swenne dú sele kumet in alsolich innekeit, das si got furet in sunderlich heinlicheit, da er sin userwelten frunde infuret und si spiset mit siner gegenwertekeit, so wen etlich lúte, si sin sicher und si mugen sich da von keren. Si kerent sich wol ane sunde, si tunt aber ein sprung, dc si in die heinlicheit nút koment. Ich sage uch fur war: sie mussen sich began mit den geissen und bocken. Was ist began (mit) den boken und mit den geissen? Das merkent recht: das si von den lereren horent oder von eim anderen guten menschen. Kinder, har an gedenkent. Ist das uch got git solich innekeit und sunderlich heimlicheit, so nement úwer selbes war und blibent dar bi, das ratte ich uch in rechter trúwe. Dis sprach der von Strasburg ze Klingendal. Dc ist ein stukke der bredie, das mir aller best geviel. Das wir zu der volkomenheit komen alse sin aller besten frunde, des helfe uns got! Amen.“32

„Wenn die Seele in ihren Adel höchster Vollkommenheit gelangt, dann geschehen mit ihr fünf Dinge. Das erste ist, dass die Seele erblindet. Ach, lieber Herr, eine blinde Seele wäre mir tausendmal lieber als eine sehende Seele. Nun merkt euch. Das andere ist, wenn das Herz stirbt. Das dritte ist, wenn der Geist still wird. Das vierte, wenn alle Kräfte vergehen. Das fünfte ist, wenn alle Gedanken verschwinden. Wenn die Seele in solch eine Innerlichkeit kommt, wenn Gott sie führt in eine besondere Vertraulichkeit, worin er seine auserwählten Freunde hineinführt und sie speist mit seiner Gegenwart, dann glauben einige Leute, sie seien sicher und sie könnten sich davon abkehren. Sie kehren sich wohl ohne Sünde ab, sie machen aber einen Sprung, so dass sie in die Vertrautheit nicht kommen (können). Fürwahr ich sage euch: Sie müssen wie Geiße und Böcke führen. Was ist ein Leben wie Böcke und Geiße? Merkt es euch recht. Dass sie (nur) auf Lehrer oder auf einen anderen gutmeinenden Menschen hören. Kinder, denkt daran. Ist es geschehen, dass euch Gott eine solche Innerlichkeit und Vertrautheit gibt, dann nehmt (nur) euer Selbst wahr und bleibt dabei. Das rate ich euch in rechter Treue. – Dies sprach der von Straßburg in Klingenthal. Dies ist ein Stück der Predigt, das mir am allerbesten gefiel. Dass wir zu dieser Vollkommenheit kommen wie (Gottes) allerbeste Freunde, dazu helfe uns Gott. Amen!“

Während der Basler „Exilzeit“ reiste Tauler zum ersten Mal nach Köln (1339). Eine weitere Reise führte Tauler um 1350 nach Groenendal (Brabant) zu Jan Ruusbroec.33 Nicht gesichert ist dagegen, ob Tauler auch den Dominikanerkonvent Saint-Jaques in Paris besucht hat.34 Ab 1343 wirkte Tauler wieder hauptsächlich in Straßburg. 1346 reiste er jedoch noch einmal nach Köln zum Predigtdienst in St. Gertrud. In Straßburg starb Tauler am 13. Juni 1361. Dieses Datum gilt als sicher, weil die Familie oder die „Gottesfreunde“ eine Grabplatte gestiftet haben, die heute noch im ehemaligen Dominikanerkonvent zu sehen ist.35 Großen Einfluss auf Taulers Leben und Predigten hatte die Situation in seinem Straßburger Heimatkloster.36 1224 hatten die Dominikaner außerhalb der Stadtmauern Straßburgs ein Kloster gegründet. Von dort aus konnten sie leicht innerhalb der Stadt ihren Lebensunterhalt erbetteln und in den Kirchen predigen. Im Laufe der nächsten Jahre entstanden rund um das neue Kloster sieben Frauenklöster37, die mit den Predigerbrüdern in Verbindung standen und 1245/46 dem Orden inkorporiert wurden. Die neuen Ordensbrüder und die Nonnen stammten fast alle aus reichen Familien Straßburgs, so dass der Orden einen starken Rückhalt in der Bevölkerung fand.38 Es kam jedoch schließlich zu Konflikten mit dem städtischen Bürgertum und dem Weltklerus, nachdem der Konvent 1251 in die Stadt übersiedelte und 1254 den Grundstein für eine Kirche legte. Es lockte das Beispiel anderer Dominikanerkonvente, sich mit einer festen Gemeinde eine stationäre Seelsorge aufzubauen, so dass das Kloster nicht mehr vom Betteln abhängig war, sondern auf feste Einkünfte durch Schenkungen, Erbschaften und durch Begräbnisgebühren auf dem eigenen Friedhof hoffen konnte. Damit aber hoben die Brüder eine wichtige Ordensregel auf, nämlich die Wanderpredigt und das Gebot, sich in Armut den Lebensunterhalt zu erbetteln. Diese dem Ordenscharisma widersprechende Lebensweise führte aber nicht nur zum Konflikt mit dem Weltklerus, der den Predigerbrüdern immer wieder Erbschleicherei vorwarf39, und mit dem städtischen Bürgertum, welches sich darüber ärgerte, dass die Dominikaner es ablehnten, für Grundstücke, die man ihnen überließ, Steuern zu zahlen40, sondern auch zum Niedergang des Kommunitätslebens.41 So führte die Anfang des 14. Jahrhunderts eingeführte vita privata, die jedem Ordensbruder auferlegte, sich selbst um seinen Lebensunterhalt zu kümmern, faktisch zur Auflösung des Gelübdes der Armut. Manche Brüder lebten nun wie wohlhabende Herren in einem eigenen Zimmer, mit eigener Verpflegung und Kleidung, während der übrige Konvent Hunger litt. Das Generalkapitel von 1321 entschied, dass man reiche Brüder um ein Darlehen oder um ein Geldgeschenk bitten solle, um die wirtschaftliche Not der übrigen Konventsmitglieder zu lindern.42 Die Bereitschaft, miteinander die Einkünfte zu teilen, war nicht mehr vorhanden. Fortan gehörten deshalb Gelderwerb, Misstrauen und Neid zum klösterlichen Alltag.43

Trotz der Dekadenz gab es jedoch auch Mitbrüder, die die Einhaltung der Observanz, die Armut, das Studium und die Wanderpredigt, forderten und die ein glaubwürdiges Ordensleben führten. Zu diesen gehörte, wie der Ordenschronist Johann Meyer 1455 berichtet, neben Meister Eckhart und Heinrich Seuse auch Johannes Tauler:

„Und wie das was, daz der orden vast abnam von seinem ersten ursprung der volkommenheit, so fand man doch durch den orden in allen provintzen gar vil heilliger brüder und swestren, die in heilligem leben den ersten vetren und mütren nit mynder waren, als man von in vil geschriben fint. … Bruder Eckhardus, ein tutzscher man und ein meister gotlicher kunst unn ein ingezogener, bescheulicher man, der gar vil menschen auf andacht gezogen hat unn manigfaltige frucht getan hat. Bruder Johannes, den man nennt den Tawler, der gar ein got minender mensch was unn des gotliche wortzt ein andechtiger prediger … .Bruder Heinrich, den man nennt den Seusen; wer diser bruder sey gewesen, bedarf ich hie nit sagen.“44

„Und als es geschah, dass der Orden sich fast (immer mehr) von seinem ersten Ursprung der Vollkommenheit entfernte, so fand man dennoch in allen Provinzen des Ordens gar viele heilige Brüder und Schwestern, die in einem heiligen Leben den ersten Vätern und Müttern nicht minder waren, wie man über sie geschrieben findet. … Bruder Eckhart, ein Deutscher und ein Meister göttlicher Kunst und ein in sich gekehrter, beschaulicher Mann, der sehr viele Menschen zur Andacht erzogen und reichhaltige Frucht gebracht hat. Bruder Johannes, den man den Tawler (= Tauler)45 nennt, der ein gar sehr gottliebender Mensch und ein andächtiger Prediger des göttlichen Wortes war … .Bruder Heinrich, den man den Seuse nennt; wer dieser Bruder war, brauche ich hier nicht (eigens) zu sagen.“

Johannes Tauler wendet sich in seinen Predigten zum Beispiel gegen die in seinem Kloster gängige, jedoch recht fragwürdige Annahme von unrechtmäßig erworbenem Gut als Almosen, eine Praxis, die Papst Benedikt XI. (1303 – 1304) den Straßburger Dominikanern 1304 gestattete. Der päpstlichen Bestimmung zufolge durften die Predigerbrüder bis zu 500 Mark Silber einkassieren, wenn der rechtmäßige Eigentümer nicht mehr zu ermitteln war. Dies führte jedoch unweigerlich zum Missbrauch. So nahmen die Straßburger Dominikaner 1349 das ihnen nach den Judenpogromen aus jüdischem Vermögen zugesprochene „Judengeld“ in Höhe von 400 Mark ohne Bedenken an.46 Tauler bemerkt zur Almosenpraxis seiner Zeit:

„Hette ich das gewisset das ich nu weis, do ich mins vatters sun was, ich wolte sines erbes gelebet han und nút der almuosen“47 „Hätte ich gewusst, was ich jetzt weiß, als ich noch Sohn meines Vaters war, so hätte ich von seinem Erbe leben wollen und nicht von Almosen.“

Dringende Reformen des Ordenslebens waren nötig. Doch wer sich für die überfälligen Veränderungen einsetzte, musste mit heftiger Gegenwehr rechnen. 1321 verlangte Jakob von Welsberg, der Provinzial (1316 – 1323), bei der Visitation des Straßburger Konvents eine striktere Einhaltung der Observanz. Daraufhin sperrten ihn einige Brüder in den Klosterkarzer und hielten ihn dort mehrere Tage gefangen. 1325 wehrten sich in Straßburg sogar die ordenseigenen Studenten gegen Reformen. Ungefähr zur gleichen Zeit klagten intrigante Mitbrüder beim Generalkapitel gegen Ordensangehörige, die vor ungebildeten Hörern in der Volkssprache predigen würden, was zu Missverständnissen und Irrtum in Glaubensfragen führen könnten.48 Dieser Vorwurf richtete sich vor allem gegen Predigerbrüder, die auf eine innere Erneuerung des Ordens drängten. Prominentestes Opfer derartiger Kampagnen wurde Meister Eckhart, der 1328 von Papst Johannes XXII. verurteilt wurde.49

Außerdem galt für die Region am Oberrhein die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts als eine Zeit der Katastrophen50: Am 25. November 1346 wurde Basel von einem schweren Erdbeben heimgesucht. Dies war der Auftakt für eine Erdbebenwelle, die 1356 nochmals in Basel und 1357 in Straßburg ihren Höhepunkt fand. Basels Tragödie nahm man auch in Straßburg aufmerksam zur Kenntnis. So berichtet der Straßburger Chronist51, dass in Basel die Ringmauer, zahlreiche Häuser und Kirchen zerstört wurden; gleichzeitig wütete mehrere Tage eine Feuersbrunst. Die Menschen, die ihre ganze Habe verloren hatten, mussten in Zelten übernachten. Da die Lebensmittel knapp waren, herrschte großer Hunger. Weitere Nachbeben versetzten die Bevölkerung am Oberrhein in Angst und Schrecken. Schließlich wurde am 15. Mai 1357 auch Straßburg von einem heftigen Erdbeben heimgesucht, „der was groszer denne keinr vormals gewesen was“52 („das so heftig war wie keines zuvor gewesen war“), wie der Chronist schreibt. Die Bevölkerung floh aus der Stadt und nächtigte im Freien, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Bürger von Basel.53 Die zahlreichen Beben verursachten auch immer wieder Überschwemmungen und Feuersbrünste. 1353 verwüstete ein heftiger Sturm das Rheinland.54 Hinzu kam ab 1347/48 eine erschreckende Pestwelle55, die, durch italienische Handelsschiffe eingeschleppt, vom Süden her aus der Region Genua kommend nach Norden vordrang und innerhalb weniger Jahre ein Drittel der gesamten Bevölkerung Europas hinwegraffte.56 Von Juli bis Oktober 1349 wütete zum Beispiel in Straßburg die Beulenpest, der 16000 Menschen zum Opfer fielen.57 Die Bevölkerung glaubte, dass sich die letzten sieben Plagen der Apokalypse (Offenbarung 15f.) verwirklichen und der „Zorn Gottes über die Erde“58 gegossen werde.59 In diesem Sinne deutet auch Tauler in einer Predigt die Zeichen der Zeit:

„Wenne nu denne die grossen plagen koment, so sol man grossen jamer denne sehen von den die nu vil wol dar an wenent sin. Da súllent denne die boesen engele den si nu gevolget hant, wunder und jamer mit den machen, und fuerent si ze lest mit in ane alle wider rede. Und dise velle hebent sich ietzunt an.“60

„Wenn nun also die großen Plagen kommen, so wird man großen Jammer bei denen sehen, die nun glauben, gut daran zu sein. Es werden dann die bösen Engel, denen sie gefolgt waren, Unerhörtes und Schmerzliches mit ihnen machen, und sie werden sie zuletzt mit sich führen ohne alle Widerrede. Und solche Fälle beginnen von jetzt an, sich zu ereignen.“

Die Angst vor dem jüngsten Gericht und dem Ende der Welt versetzte die Bevölkerung immer mehr in Panik. Sie versuchte dem drohenden Gericht durch harte Selbstkasteiung zu entgehen. Im Juni 1348, während der großen Pestwelle, erreichte der erste Geißlerzug Straßburg; ein weiterer Zug von 200 Flagellanten folgte im Juli.61 Schließlich wurde in der Stadt eine eigene Geißlerbruderschaft gegründet.62 Die Angst und Panik vor dem Ende der Welt und die Bedrohung durch den „Schwarzen Tod“ schlugen in der Stadt in offene Aggression und Gewalt um. Man suchte einen Schuldigen, und man fand ihn im Judentum. Obwohl König Karl IV. den Straßburger Juden noch am 25. November 1347 einen Schutzbrief ausstellte, nahm die Judenhetze immer mehr zu. 1348 begann schließlich eine grausame Judenverfolgung, die sich auf den ganzen Ober- und Mittelrhein bis in die Schweiz hin ausweitete.63 Die Pestseuche wurde dabei hartnäckig auf eine systematische Brunnenvergiftung durch Juden zurückgeführt. Zahllose Todesurteile wegen angeblicher Brunnenvergiftung wurden in Straßburg gegen Juden vollstreckt.64 Am 14. Februar 1349, an einem Sabbat, wurden rund zweitausend Juden auf den Judenfriedhof verschleppt und dort bei lebendigem Leibe verbrannt. Nur wer sich taufen ließ, wurde verschont.65 Am 5. Juli 1349 warnte König Karl IV. die Stadt Straßburg und die übrigen Städte davor, weiter gegen die Juden zu hetzen. Doch gewährte er nach dem Ende der Verfolgungen den an den Pogromen Beteiligten großzügig Amnestie, so dass alle an Juden begangenen Verbrechen ungeahndet blieben; jüdisches Vermögen musste nicht wieder rückerstattet werden66, sondern wurde als „Judengeld“ u.a. auch an die Dominikaner Straßburgs verteilt.67

Wie stand Tauler zu den Verfolgungen? In seinen Predigten finden wir keinen Hinweis darauf, dass er die unschuldig verfolgten Juden in Schutz genommen hätte.68 Tauler übernimmt das in seiner Zeit vom Christentum negativ geprägte Judenbild, doch überträgt er es, wie die negative Bewertung der Pharisäer und Schriftgelehrten zeigt, auf die Verhältnisse in der damaligen Christenheit:

„Die schriber daz warent die wisen die von iren kúnsten hieltent, und die pharisei das worent die von irre geistlicheit hieltent, und die stundent uf iren wisen in iren ufsetzen. … By den schribern verstet man die vernúnftigen die alle ding ziehent in ir vernúnftige wise oder in ire sinnelicheit. … Und dan die andern daz sint die pharisei, das sint die geistlichen die sich fúr guot hant und haltent von in selber und stont in iren ufsetzen und wisen und haltent ire gewonheit fúr alle ding und wellent in den geachtet sin und geruemet sin, und aller grunt der stet vol urteils uf alle die die der wisen nút ensint.“69

„Die Schriftgelehrten, das waren die Weisen, die nur etwas von ihren Kenntnissen hielten, und die Pharisäer waren diejenigen, die nur auf ihre Frömmigkeit (Geistlichkeit) setzten, und sie beharrten in ihren Verhaltensweisen auf ihren eigenen Vorstellungen. … Unter den Schriftgelehrten versteht man die Vernunftmenschen, die alle Dinge in ihre Urteilskraft und in ihre Sinnenhaftigkeit ziehen. … Und dann die anderen, das sind die Pharisäer, das sind die Frommen (Geistlichen), die sich für gut halten und viel von sich selber halten und ihre Gewohnheiten über alle Dinge stellen und in ihnen geachtet und gerühmt sein wollen, (doch) ihr ganzer Grund steht voll von Urteilen über all die, die ihrer Art nicht entsprechen.“

Tauler benutzt also die vorgeprägten negativen Urteile über die Juden, um seine Zuhörer durch Abschreckung vor Heuchelei, Selbstgerechtigkeit, Herzenshärte und Bitterkeit zu warnen. Aggressiv oder polemisch verhält sich Tauler jedoch gegen das Judentum nicht.70

All diese Katastrophenerfahrungen waren entscheidend für Taulers überwiegend negatives Welt- und Geschichtsbild sowie für sein apokalyptisches Zeitverständnis, auch wenn wir in Taulers Predigten keine konkreten Hinweise auf die Pest, auf Judenpogrome und Hungersnöte finden.71 Maßgeblicher für Tauler war die Begegnung mit den nach geistlichem Leben strebenden Frauen und Männern, die Begegnung mit Ordensschwestern und Beginen.

II. Taulers Nachwirken

Taulers Predigten begründeten sein späteres Nachwirken bis ins 19. Jahrhundert hinein. Doch es fanden sich nicht nur Freunde, sondern auch Gegner. So ordnete beispielsweise der Ordensgeneral der Jesuiten, Mercurian, 1578/79 an, die Werke von Tauler dürften nicht ohne Erlaubnis gelesen werden, da sie dem Geist des Ordens nicht entsprächen.72 Der Grund hierfür liegt gewiss auch darin, dass Tauler in die Auseinandersetzung zwischen Protestantismus und Katholizismus geraten war. Da Tauler von Martin Luther (1483 – 1546) hoch geschätzt wurde, gewann er auch im Protestantismus an Bedeutung.73 Über seinen Ordensbruder Johannes Lang lernte Luther Taulers Predigten vermutlich 1515 kennen.

„Besonders in den entscheidenden Jahren der Neuorientierung seiner Theologie beschäftigte sich Luther mit den Predigten Taulers. Luther erwähnt Tauler seit 1515/16 bis in die dreißiger Jahre, besonders häufig und stets ohne Kritik zwischen 1516 und 152274

Der Ingolstädter Theologe Johannes Eck (1486 – 1543), der zunächst mit Luther brieflich befreundet war, dann zu seinem Gegner wurde75, ging 1518 in seiner Kritik an Luther auch auf Tauler ein. So wundert er sich, dass Luther einen in der Kirche unbekannten Prediger Gelehrten wie Thomas, Bonaventura und Alexander Halensis vorziehe.76 Tauler sei, wie Eck noch in einer Schrift von 1523 bemerkt, ein Träumer, der die von Luther aufgegriffenen Häresien verteidige.77 Martin Luther antwortete Eck in einem Brief vom 7. Januar 1519. Darin fordert er von Eck: