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GÜNTER HUTH

Blutiger Spessart

GÜNTER HUTH

Blutiger

Spessart

Ein Simon Kerner Thriller

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Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Er ist von Beruf Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet und hat drei Kinder. Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Titel). Außerdem hat er Hunderte von Erzählungen und Kurzgeschichten veröffentlicht. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre Kriminalroman zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi: »Der Schoppenfetzer« war geboren. Die erfolgreiche Serie hat sich mittlerweile in Mainfranken und auch im außerbayerischen »Ausland« etabliert. Der vorliegende Thriller ist der erste Kriminalroman um Simon Kerner. Günter Huth ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung »Das Syndikat«.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Den Menschen
des Amtsgerichts Gemünden am Main

Prolog

Das Repetiergewehr im Kaliber .308 Winchester war mit einem Nachtsichtzielgerät und einem Schalldämpfer bestückt. Der Mann, der es mit einem Gewehrriemen über den Rücken geschnallt hatte, war seinerseits mit einer leistungsfähigen, militärischen Nachtsichtbrille ausgerüstet. Schwarz gekleidet, verschmolz er in der Nacht völlig mit den Bäumen des Waldes, zwischen denen er sich fast lautlos bewegte.

Sein Elektroquad vom Typ Ghostrider hatte er einige hundert Meter weiter hinten in einem Stichweg abgestellt. Dieses robuste Fahrzeug war für derartige Einsätze optimal – extrem geländetauglich, konnte man sich damit fast lautlos fortbewegen. Die restliche Strecke würde er zu Fuß zurücklegen. Wenig später hatte er den Waldrand erreicht. Regungslos blieb er unter den Bäumen stehen und beobachtete das freie Feld, das sich an den Wald anschloss. Mit Befriedigung nahm er zur Kenntnis, dass sich der Mond hinter einer riesigen Wolkenbank versteckte, die von der schwachen sommerlichen Brise nur träge ostwärts getrieben wurde. Das helle Licht des Vollmondes hätte die Leistungsfähigkeit seiner Nachtsichtausrüstung beeinträchtigen können.

Es dauerte nur zehn Minuten, dann tauchte sein Ziel links in seinem Gesichtsfeld auf. Er wartete einen Augenblick, bis die Situation günstig war, schob die Nachtsichtbrille nach oben und nahm das Gewehr hoch. Den linken Handrücken zur Stabilisierung gegen einen Baumstamm gedrückt, ruhte der Vorderschaft der Waffe regungslos in seiner Handfläche. Mit der Rechten drückte er den Kolben des Gewehrs gegen die Schulter. Das Fadenkreuz des Nachtsichtzielfernrohrs saugte sich am grünlichen Bild des Zieles fest. Der rechte Zeigefinger bewegte den Abzug mit der erforderlichen Gleichmäßigkeit nach hinten und überwand schließlich den Widerstand des Druckpunktes. Mit einem kaum vernehmlichen »Plopp« löste sich der Schuss. Den leichten Rückschlag der Waffe nahm der Schütze kaum wahr. Sofort repetierte er eine neue Patrone ins Patronenlager. Dieses mechanische Geräusch war lauter als der eigentliche Schuss, aber trotzdem so leise, dass man es in einigen Metern Entfernung schon nicht mehr hören konnte. Mit einem Blick durch das Zielfernrohr überzeugte sich der Schütze davon, dass er optimal getroffen hatte. Das spezielle Projektil, das er verwendete, ließ hinsichtlich der Wirkung keine Wünsche offen.

Er sicherte seine Waffe und schob die Nachtsichtbrille wieder vor die Augen. Schnell hatte er die ausgeworfene Patronenhülse gefunden und aufgehoben. Dann drehte er sich um und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.

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Das Treffen der beiden Männer fand auf den östlichen Wehrgängen der Festung Marienberg statt. Das Wetter war ausgesprochen unfreundlich, daher waren so gut wie keine Besucher auf den Mauerkämmen der historischen Wälle hoch über den Dächern von Würzburg unterwegs. Es regnete zwar nicht, aber der Wind blies in Böen über die Höhe und beugte das Gras auf den Befestigungen. Ideale Verhältnisse für eine geheime Zusammenkunft, die auf keinen Fall bekannt werden durfte.

Der Ältere der beiden Männer, Pietro Vasselari, blickte scheinbar gedankenverloren über das Tal hinüber zum gegenüberliegenden Nikolausberg, wo die Türme des Käppele, einer historischen Klosterkirche, herüber grüßten. Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, dazu einen breitrandigen Hut, unter dem schwarzes, mit silbrigen Fäden durchzogenes Haar hervorschaute. Sein Gesicht war von zahlreichen Falten zerfurcht. Er hatte den Teint eines Menschen, der viele Jahre lang Sonne, Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war. Das machte ihn älter als die 72 Lenze, die er schon auf dem Buckel hatte. In der Hand hielt er einen schlanken, schwarzen Spazierstock mit einem kugeligen Knauf aus Silber, der einen Löwenkopf darstellte. Man sah dem Löwenkopf nicht an, dass er, wenn man an einer bestimmten Stelle drückte, ein zwanzig Zentimeter langes, schmales, beidseitig geschliffenes Stilett freigab. Eine sehr effektive Waffe. Vor allen Dingen deshalb, weil man immer den Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte.

»Was ist nun, Renato, kannst du die Angelegenheit in unserem Sinne regeln?«, fragte er den anderen. Seine Stimme klang ungeduldig.

Man merkte, dass er es nicht gewohnt war, lange bitten zu müssen. Er drehte sich halb um und warf einen kurzen Blick zurück. Außer Hörweite lehnte sich Carlo, sein Chauffeur und Leibwächter, lässig gegen die Festungsmauer. Diese Gelassenheit täuschte jedoch. Er behielt die unmittelbare Umgebung der beiden Gesprächspartner scharf im Auge.

Der mit Renato Angesprochene zuckte mit den Schultern. Sein Äußeres zeichnete sich durch eine gewisse Sportlichkeit aus, wirkte aber deshalb nicht weniger gepflegt. Er war kräftig und muskulös – das Ergebnis regelmäßiger Besuche eines Studios. Man sah ihm nicht an, dass er die Fünfzig schon überschritten hatte.

»Don Pietro, sie wissen, wie gefährlich die Angelegenheit ist. Er ist ausgesprochen misstrauisch, und wenn er nur den geringsten Verdacht hat, lande ich mit Betonschuhen im Main.«

Der Alte zuckte mit den Schultern. »Was willst du nun, weiterkommen oder ewig für ihn den Consigliere spielen, der die heißen Kastanien aus dem Feuer holen muss? Die Familie wird aufatmen, wenn der alte Tyrann beseitigt ist. Du hast doch gesagt, du bist sicher, dass sie auf deiner Seite stehen werden.«

»Schon, aber besser wäre es, wenn es nach einem Unfall aussieht. Wenn man mich direkt mit seinem Tod in Verbindung bringt …«

»Mach dich nicht lächerlich. Es geht schließlich nur ums Geschäft.«

»Also, gut«, gab der Consigliere tief durchatmend zurück, »ich kenne da einen guten Mann, der das zuverlässig erledigen wird. Billig wird das allerdings nicht.«

»Das ist kein Problem. Sag mir, was es kostet, und ich stelle dir den erforderlichen Betrag zur Verfügung. Heute tue ich dir einen Gefallen – und morgen werde ich dich vielleicht um einen bitten.«

Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er mit ruhiger Stimme fort: »Vergiss nicht unsere Abmachung. Ich übernehme die Prostitution in der ganzen Stadt und im Landkreis Main-Spessart, dafür bekommst du die Einkünfte aus dem Drogengeschäft.«

Renato nickte.

»Wenn die Angelegenheit erledigt ist, wirst du es ja erfahren. Bis dahin keine Kontakte mehr.«

Der Alte nickte, dann gab er seinem Chauffeur ein Zeichen und schlenderte langsam weiter.

Renato Mallepieri hingegen drehte sich um und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon. Als er an dem Leibwächter des Alten vorbeimarschierte, schenkte der ihm keinen Blick.

Don Pietro Vasselari hatte es nicht eilig. Er genoss die schöne Aussicht. Man konnte dabei sehr gut nachdenken.

Mallepieri war für ihn lediglich eine nützliche Marionette, die er in diesem Spiel an den Fäden hielt. Wenn der Consigliere seinen Paten beseitigte, hatte er ihm die Drecksarbeit abgenommen. Der Pate der Würzburger Mafiafamilie wollte auf keinen Fall mit der Beseitigung des Konkurrenten aus dem Spessart in Verbindung gebracht werden. Das hätte in alle Familien große Unruhe gebracht. Später Mallepieri zu beseitigen war sicher keine große Angelegenheit. Schon seit längerer Zeit hatte Vasselari ein Auge auf die Geschäftsbereiche Don Emolinos geworfen. Wie es aussah, steckte der Alte in Schwierigkeiten mit der Justiz. Das bedeutete, dass das Alphatier der Emolinofamilie schwächelte. Ein guter Zeitpunkt, um sich sein Revier anzueignen. Sollte Mallepieri versagen, konnte man immer noch andere Methoden ins Auge fassen, um Emolino vom Thron zu stoßen.

Renato Mallepieri hatte durch das Treffen mit dem Paten der Konkurrenzfamilie Vasselari einen Schritt getan, der nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Das war ihm voll bewusst. Er war jetzt ein Verräter. Er hatte sich auf ein höchst riskantes Unternehmen eingelassen, aber wenn er sein Ziel, nämlich an die Spitze der Familie aufzusteigen, erreichen wollte, gab es keinen besseren Zeitpunkt. Der Thron des schwer angeschlagenen Don Francesco Emolino wankte. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Würzburg hingen ihm seit fast zwei Jahren an den Fersen und hatten sich wie eine Meute Terrier an ihm festgebissen. Mallepieri war davon überzeugt, dass die Staatsanwaltschaft eher früher als später zuschlagen würde. Die Gefahr, dass der Alte auspackte, wenn er merkte, es ging ihm an den Kragen, durfte man nicht unterschätzen. In diesem Fall würden viele Köpfe rollen, unter anderem auch seiner. Deshalb war er sicher, dass er die meisten Mitglieder der Familie schnell auf seine Seite ziehen konnte, wenn Don Emolino etwas zustieß und er überraschend aus dem Leben schied. Und für die, die nicht kooperieren wollten, gab es andere Lösungen.

Don Pietro war keinen Deut besser. Ein gefährlicher weißer Hai, der in den Gewässern der Mafia schwamm und dort rücksichtslos auf Beute lauerte. Mallepieri hatte keinen Zweifel daran, dass er für den Alten nur Mittel zum Zweck war. Ein willfähriges Instrument, mit dessen Hilfe Vasselari sich die lukrativen Geschäfte im Revier von Emolino aneignen wollte. Dafür würde ihm jedes Mittel recht sein. Der Consigliere zuckte im Gehen mit den Schultern. Wenn er erst einmal an der Macht war, würde man über die Abmachung noch einmal reden müssen. Wer sagte denn, dass Don Pietro das ewige Leben hatte?

Wenig später hatte Mallepieri den öffentlichen Parkplatz der Festung erreicht. Wegen des schlechten Wetters rechnete man nur mit einer geringen Besucherzahl und hatte das Parkwärterhäuschen heute nicht besetzt. Folglich konnte man gebührenfrei parken. Auf dem Areal herrschte fast völlige Leere. Die wenigen Fahrzeuge, die über den ganzen Platz verstreut standen, waren unbesetzt. Mallepieri setzte sich in seinen weißen Alfa Romeo, 159 SW mit 200 PS und ließ den Motor kurz aufheulen. Er liebte den satten Sound der starken Maschine, dann legte er den Gang ein und rollte langsam vom Parkplatz. So schnell würde er nicht zur inneren Ruhe finden. Das, was er beabsichtigte, konnte ihm das Leben kosten oder ihm Macht und Reichtum verschaffen.

Zwei Stunden nach dem konspirativen Treffen auf den Festungswällen läutete das Mobiltelefon von Francesco Edoardo Emolino, dem Oberhaupt der Familie.

Er saß auf der linken Mainseite in Hofstetten in seiner etwas abgelegenen Villa und hatte sich gerade von seiner Haushälterin nach dem Essen einen Espresso servieren lassen. Seitdem seine Frau vor drei Jahren an Krebs gestorben war, lebte er allein in dem großen Haus mit zwei Stockwerken und zwölf Zimmern. Sein einziger Sohn Ricardo war schon lange ausgezogen und hatte eine eigene Wohnung. Im Haus wohnte noch sein Chauffeur, der ihm gleichzeitig als Leibwächter diente. Anna, seine Haushälterin, arbeitete nur tagsüber in der Villa; am Abend ging sie nach Hause. Emolino hatte ihr schon mehrfach angeboten, doch hier ins Haus zu ziehen, aber sie hatte immer abgelehnt. Sie fand, es gehöre sich nicht, mit einem Witwer zusammenzuleben.

Bei dem Handy handelte es sich um ein unregistriertes Prepaidmobiltelefon, das nicht so einfach abgehört werden konnte. Über seinen Festnetzanschluss liefen nur noch völlig harmlose Anrufe. Schon seit Monaten wusste er, dass er von der Polizei überwacht wurde.

»Pronto!«, meldete er sich kurz. Obwohl er schon seit Jahrzehnten in Deutschland lebte, pflegte er im Umgang mit seinen Landleuten nach wie vor die italienische Sprache. Die Nummer auf dem Display war ihm bekannt. Er wusste, wer anrief, und lauschte einige Zeit wortlos in den Hörer. Seine Miene veränderte sich im Laufe des Gesprächs dramatisch; war sie am Anfang angespannt gewesen, wechselte sie nun schlagartig in Betroffenheit und schließlich in Wut. Als der Anrufer schließlich schwieg, fragte er knapp: »Und daran gibt es keinen Zweifel?«

Die Antwort bestand offenbar nur aus einem Wort.

»Grazie«, gab Don Emolino zurück, dann unterbrach er das Gespräch und legte das Handy zurück. Schweren Schrittes ging er zu der breiten Fensterfront. Geraume Zeit starrte er wie versteinert hinaus. In der Ferne auf der gegenüberliegenden Mainseite konnte er, etwas versetzt, die Häuser von Langenprozelten erkennen.

Er setzte sich an den Schreibtisch zurück. Sein Espresso war mittlerweile kalt. Beiläufig schob er die Tasse zur Seite.

Es war ein Schock, wenn man erfuhr, dass ein Körper, den man für völlig gesund gehalten hatte, plötzlich von einem Krebsgeschwür befallen war. Bei seiner Frau hatte er dies auf dramatische Weise erleben müssen. Auch die Familie war nach seinem Gefühl so eine Art Organismus. Wie er soeben gehört hatte, schien sich auch hier ein Krebsgeschwür eingenistet zu haben.

Schließlich gab er sich einen Ruck, griff erneut zum Telefon und wählte eine Nummer. In solchen Fällen half nur eine schnelle, rigorose Operation, um den Tumor zu entfernen, bevor er auf den ganzen Körper übergriff. Er wählte die Nummer eines ausgezeichneten »Chirurgen«, der auf solche Eingriffe spezialisiert war.

Wenig später hörte er unten im Hof den Motor eines Fahrzeugs. Den Klang kannte er genau. Sein Consigliere hatte einen Zahnarzttermin in Würzburg gehabt, wie er Don Emolino erklärte.

Nach kurzem Anklopfen betrat Mallepieri das Arbeitszimmer.

»Hat in Würzburg alles geklappt?«, wollte Emolino wissen. Er musterte seinen Vertrauten mit prüfendem Blick.

»Alles klar«, gab Mallepieri locker zurück, »irgendwann werde ich mir wohl einen Weisheitszahn ziehen lassen müssen. Aber das hat noch Zeit, solange er nicht rebellisch wird. Liegt noch was an? Ansonsten würde ich nämlich nach Hause fahren.«

Don Emolino schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, du kannst gehen. Morgen benötige ich dich erst gegen Mittag.«

Mallepieri nickte und verließ mit einem kurzen Gruß das Zimmer.

Don Emolino sah ihm lange hinterher. Die Sache mit dem Weisheitszahn dürfte sich erledigt haben.

Am nächsten Morgen verließ Renato Mallepieri sein Haus in Gemünden am Main, das in der Nähe der Scherenburg lag, und öffnete seine Garage. Er entriegelte seinen Wagen mit der Fernbedienung und wollte sich gerade hinter das Steuer setzen, als ein maskierter Mann um die Ecke bog und auf ihn zurannte. Trotz des sommerlichen Wetters trug er einen langen schwarzen Ledermantel. Für eine Schrecksekunde lang fühlte sich Mallepieri wie gelähmt. Keinen Augenblick zweifelte er an den Absichten des Vermummten.

In den nächsten Sekunden überschlugen sich die Ereignisse.

Mallepieris Hand fuhr zum Gürtel, wo unter dem Jackett eine durchgeladene Beretta steckte. Ehe er jedoch die Waffe greifen konnte, zog der Maskierte blitzschnell eine kurze Pumpgun unter seinem Mantel hervor und brachte sie in Hüftanschlag.

Wie aus dem Nichts stürmten fast zeitgleich zwei ebenfalls vermummte Männer mit Helmen auf dem Kopf in die Garage und brüllten den Angreifer an: »Polizei! Lassen Sie sofort die Waffe fallen!« Der Maskierte war aber offenbar so verblüfft, dass er die Gefährlichkeit der Lage nicht schnell genug einschätzen konnte. In den Ansatz einer Drehung hinein ertönte der scharfe Knall eines Schusses, und der Mann stürzte wie vom Blitz getroffen gegen die weiße Garagenwand. Dort bildete sich ein von weißer Gehirnmasse durchsetzter, blutroter Fleck, der wie ein skurriles Gemälde von der hellen Wand abstach.

Die beiden Polizisten traten mit schussbereiten Waffen vor, wobei der eine die Pumpgun mit einem Fußtritt unter Mallepieris Auto beförderte. Der Consigliere hatte unwillkürlich die Hände gehoben.

Als sich die beiden davon überzeugt hatten, dass von dem Angreifer keine Gefahr mehr ausging, sprach der Beamte, der geschossen hatte, in ein Mikrofon, das an der Brustseite seines Einsatzanzugs befestigt war. Der andere trat mittlerweile nach vorne und schob wortlos Mallepieris Jackett zur Seite. Er ergriff die Beretta und steckte sie sich in seinen Gürtel. Dann erst verstaute er seine eigene Waffe wieder im Holster.

»Sie warten hier«, befahl er kurz und knapp.

Mallepieri war so geschockt, dass er nur wortlos nicken konnte. Ihm war klar, dass er ohne das Eingreifen der Polizisten nicht mehr am Leben gewesen wäre. Erst nachdem sein Verstand langsam wieder zu funktionieren begann, fing er an, sich die Frage zu stellen, wieso die Polizeibeamten so plötzlich aus heiterem Himmel aufgetaucht waren.

Es verging eine knappe Minute, dann betrat ein Zivilist die Garage.

»Grüß Gott, Herr Mallepieri«, grüßte der Mann. Dabei streifte er den erschossenen Angreifer nur mit einem kurzen Blick, »mein Name ist Eberhard Brunner, Kriminalhauptkommissar Brunner. Können wir ins Haus gehen? Ich muss mit Ihnen sprechen.«

Mallepieri nickte unkonzentriert. Was hatte das alles zu bedeuten? Bis jetzt war immer Emolino im Fokus der Polizei gestanden. Wem hatte er diesen verdammten Killer zu verdanken?

Drinnen angekommen, orientierte sich der Kriminalbeamte kurz, dann ging er wie selbstverständlich in die Küche und holte Mallepieri ein Glas Wasser. Er stellte es vor ihm auf den Wohnzimmertisch ab, dann setzte er sich in einen Sessel. Langsam ließ sich der Hausherr ihm gegenüber auf der Couch nieder. Mit leicht zitternden Händen trank er einen Schluck.

»Geht es wieder?«, fragte Brunner.

»Ja«, gab Mallepieri mit unsicherer Stimme zurück.

»Es ist mir klar, dass Sie von den Ereignissen völlig überfahren sein müssen. Eines haben Sie aber sicher mittlerweile registriert, dass Sie nur knapp dem Tod entronnen sind. Der freundliche Zeitgenosse in der Garage, der demnächst in einem Kunststoffsarg auf dem Weg in die Rechtsmedizin sein wird, hatte ganz klare Anweisungen.«

Der Kriminalbeamte ließ sein Gegenüber keine Sekunde aus den Augen.

»Anweisungen von wem?«, brachte Mallepieri heiser hervor.

»Können Sie sich das nicht denken? Don Emolino hat genaue Informationen über Ihre Pläne, die Sie kürzlich mit Don Pietro gegen ihn geschmiedet haben. Sie können sich denken, dass er sich darüber nicht gerade amüsiert hat.«

Mallepieri wurde blass. »Woher weiß er …?«

»Sie wissen doch selbst am besten, dass Emolino seine Fäden überall gespannt hat. Er ist ein schlauer Fuchs, der sich schon lange keine Illusionen mehr über die Menschen in seiner Umgebung macht. In eurer ehrenwerten Gesellschaft kann man doch keinem über den Weg trauen. Dafür sind Sie ja das beste Beispiel. Muss ich das weiter erklären?«

Mallepieris Kaumuskeln traten deutlich hervor. »… und woher weiß die Polizei …?«

Brunner zuckte mit den Schultern. »Als Emolinos Consigliere ist Ihnen doch bekannt, dass wir seit geraumer Zeit gegen die Familie ermitteln. Emolino hat es bisher noch immer verhindern können, dass wir aussagebereite Zeugen gefunden haben, um ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen. Bei den Vernehmungen können sie sich an nichts mehr erinnern, oder es rafft sie vorher ein plötzlicher Tod dahin.«

Mallepieri schwieg. Natürlich kannte er die Methoden, die Emolino anwandte, um unliebsame Zeugen zum Schweigen zu bringen. In vielen Fällen hatte er selbst dafür gesorgt, dass die Mauer des Schweigens hielt.

Brunner erhob sich und stellte sich vor die großflächige Glasfront; von hier aus konnte man hinunter auf das Maintal und bis zum Wald am Gegenhang blicken. Betont beiläufig meinte er: »Ein guter Scharfschütze hätte sicher kein allzu großes Problem, vom gegenüberliegenden Hang auf einen Mann, der hier am Fenster steht, zu schießen.«

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Mallepieri, obwohl er natürlich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem hatte, was jetzt kommen würde.

Brunner drehte sich um und ließ sich wieder auf seinem Platz nieder. »Dieses Mal konnten wir Sie retten, weil wir Emolino im ganzen Haus abhören. Aber in einer halben Stunde sind wir wieder weg, und Sie bleiben ganz allein zurück. Wollen wir eine Wette darauf abschließen, wie lange Sie dann noch am Leben sind? Für ihn sind Sie ein Verräter, der bestraft werden muss. Wenn Emolino erfährt, dass die Polizei seinen Killer erschossen hat, wird ihm mit letzter Sicherheit klar sein, dass Sie mit uns zusammenarbeiten.«

Nervös trank Mallepieri sein Glas leer. Er wusste natürlich, wie Emolino tickte. Der Polizist hatte recht.

»Sie müssen mich schützen«, stieß er hervor.

Brunner zog ein bedenkliches Gesicht. »Sie wissen doch bestimmt aus den Medien von der Personalknappheit im öffentlichen Dienst. Auch die Polizei ist davon betroffen. Daher müssen wir Prioritäten setzen. Wir können nicht jedem, der mit Emolino Ärger hat, Personenschutz gewähren.«

Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Wie gesagt, wir müssen unsere Kräfte rationell einsetzen. Aber stellen wir uns einmal vor, es gäbe jemanden aus dem innersten Kreis von Emolino, der sich ebenfalls schwerer Straftaten schuldig gemacht hat, als Mitwisser oder vielleicht sogar durch eigene Verbrechen. Wenn sich diese Person beispielsweise der Staatsanwaltschaft als Kronzeuge zur Verfügung stellen würde, dann könnte man einen aufwändigen Personaleinsatz zu seinem Schutz sicher verantworten.« Er verstummte und ließ seine Worte erst einmal einwirken.

Mallepieri rutschte nervös auf seinem Sitz herum. Für ihn war völlig klar, dass sein Leben seit heute keinen Pfifferling mehr wert war. Selbst wenn er jetzt sofort alle Zelte abbrechen und sich auf die Flucht machen würde, könnte er dem weit verzweigten Netz Emolinos kaum entgehen. Er hatte das schon oft genug erlebt.

»Was müsste ein Kronzeuge tun?«

Brunner sah ihn nachdenklich an, dann erwiderte er: »Er müsste uns die gesamten Strukturen von Emolinos Verbrecherorganisation aufdecken, Namen nennen, Straftaten aufdecken und uns Beweise liefern, damit wir in die Lage versetzt werden, Emolino und seine Handlanger für immer hinter Gitter verschwinden zu lassen.«

»Wie sähe so ein Deal aus?«

»Das Gericht könnte ihm Strafmilderung oder sogar Straffreiheit gewähren. Für solche Fälle gibt es dann ein Zeugenschutzprogramm. Er bekäme eine neue Identität, womöglich eine Gesichtsoperation und einen Job an einem neuen Wohnsitz, irgendwo, wo ihn keiner kennt.«

Mallepieri stand der Schweiß auf der Stirn. »Das kann ich nicht machen. Emolino wird mich überall finden!«

Brunner erhob sich. Sein Mitleid mit dem Mafioso hielt sich in engen Grenzen.

»Ihr Leben ist schon heute keinen Pfifferling mehr wert, aber das müssen Sie selbst wissen«, erklärte er emotionslos und bewegte sich zur Tür.

»Verdammt, Sie können mich doch jetzt nicht so einfach hier sitzen lassen!«, rief Mallepieri fast panisch.

Der Kriminalbeamte zuckte mit den Schultern. »Ich habe es Ihnen ja erklärt.«

Als er bereits den Türgriff in der Hand hatte, rief Mallepieri ihn zurück. »Warten Sie! Lassen Sie uns noch einmal miteinander sprechen!«

»Verschwenden Sie nicht meine Zeit!«, gab Brunner kalt zurück. »Wollen Sie uns nun helfen oder nicht?«

In Mallepieri tobte ein schwerer Kampf. Schließlich brach er innerlich zusammen. »Was muss ich tun?«, fragte er leise.

Brunner hatte natürlich mit dieser Entscheidung gerechnet. Er trat wieder in den Raum zurück. »Suchen Sie sich ein paar Kleidungsstücke zusammen und nehmen Sie Ihre Papiere mit. Soweit Sie Bargeld im Haus haben, können Sie es auch mitnehmen. Lassen Sie sonst alles stehen und liegen, auch Ihr Handy. Nehmen Sie aber die SIM-Karte heraus. Dann müssen wir zusehen, dass Sie von hier verschwinden. Emolino wird sehr schnell mitbekommen, dass sein Killer hier keinen Erfolg hatte, und einen anderen schicken. Wir bringen Sie in eine sichere Wohnung. Dort werden Sie vernommen.«

Mallepieri zögerte nicht länger. Er erhob sich und eilte ins Ankleidezimmer, um einen kleinen Koffer zu packen. Nachdem er sich entschieden hatte, gab es keine Zurückhaltung mehr. Wenig später verfrachteten Brunner und ein weiterer Kriminalbeamter ihn auf die Rücksitzbank eines zivilen Polizeifahrzeugs und warfen eine Decke über ihn. Ein paar Minuten später verließ das Dienstfahrzeug Gemünden und fuhr mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Würzburg. Außerhalb der Ortschaft konnte sich Mallepieri wieder aufrichten. Schweigend saß er auf dem Rücksitz und kaute angespannt auf seiner Unterlippe. Ihm war klar, dass diese Entscheidung die einzige Chance war, sein Leben zu retten.

Brunner, der auf dem Beifahrersitz saß, verzog keine Miene, aber der Triumph, diesen dicken Fisch an Land gezogen zu haben, ließ ihn innerlich jubilieren. Vor zwei Jahren war es dem Landeskriminalamt gelungen, einen Undercover-mann in die Organisation von Don Pietro in Würzburg einzuschleusen. Don Pietros Familie agierte von Würzburg in Richtung Oberfranken. Schon lange ging er mit der Absicht schwanger, in Don Emolinos Geschäftsbereich zu »expandieren«. Brunner wusste, dass der verdeckte Ermittler dem Emolino-Klan einen Tipp gegeben hatte. Es war ihnen klar gewesen, dass der Alte sofort reagieren würde. Mallepieri war deshalb engmaschig überwacht worden. Es wäre ihm natürlich lieber gewesen, der Killer wäre am Leben geblieben, aber sie mussten Mallepieri auf jeden Fall unverletzt bekommen. Oberstaatsanwalt Kerner würde außer sich vor Freude sein. Vielleicht war dies der erste Schritt, die Mauer des Schweigens, die Emolino um sich aufgebaut hatte, zu durchbrechen.

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Vier Monate später

Der Wetterbericht hatte im Bereich Nordbayern für Sonntag auf Montag einen schweren Sturm vorausgesagt, der mit Windstärken bis 10 vor allen Dingen über Unterfranken hinwegfegen sollte. Das Unwetter sollte von lang andauernden, sintflutähnlichen Regenfällen und starken Gewittern begleitet werden. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, möglichst nicht die Häuser zu verlassen und Parkanlagen und Wälder zu meiden.

Der schwer gepanzerte, grüne VW-Bus mit den schussfesten, vergitterten Scheiben verließ am Montagmorgen die Justizvollzugsanstalt Würzburg exakt um 8.00 Uhr. Kaum hatte der Fahrer das schützende Dach über dem Innenhof der Strafanstalt verlassen, musste er die Scheibenwischer auf höchste Leistungsstufe stellen, denn in der Mainmetropole regnete es noch immer in Strömen. Die Vorhersage des Wetterberichts war voll eingetreten. Ständig kamen über Funk Meldungen von den Einsatzkräften der Feuerwehr herein, die die ganze Nacht unterwegs gewesen waren, um umgestürzte Bäume zu entfernen und abgedeckte Dächer zu sichern.

Fluchend wischte Norbert Beckmann, der Beamte, der am Steuer des Gefangenentransporters saß, von innen mit einem Lappen die Frontscheibe frei, die durch den plötzlichen Temperaturunterschied zwischen Außen und Innen schon nach wenigen Metern völlig beschlagen war. Das Gebläse arbeitete lautstark mit höchster Leistung, in dem Bemühen, die Sicht wieder freizumachen. Die Scheibenwischer konnten die Wassermassen kaum bewältigen. Beckmann warf zum wiederholten Male einen prüfenden Blick in den Innenspiegel. Hinter ihm, auf der mittleren Bank des Transporters, saßen mit angespannten Mienen seine Kollegen Martin Bohlender und Dieter Trusch. Zwischen ihnen der Mann, den sie transportieren mussten. Da der eine Beamte Rechts- und der andere Linkshänder war, hatten sie ihre Plätze so gewählt, dass der Mann nicht an ihre Dienstwaffen reichen konnte, die sie am Gürtel trugen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sie bei dem kriminellen Kaliber ihres Fahrgastes für mehr als angebracht hielten.

Beckmann konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn. Es fiel ihm recht schwer, da er heute einen ausgesprochen schlechten Tag hatte. Seine derzeitige private Situation ging ihm nicht aus dem Kopf. Am Wochenende hatte ihm seine Frau Veronika ihre Scheidungspläne eröffnet. Es gärte zwar schon seit längerer Zeit in ihrer Beziehung, aber bisher hatten sie die Schwierigkeiten noch immer irgendwie in den Griff bekommen. Sein Job als Mitglied des Mobilen Einsatzkommandos der Polizei war häufig stressig, mitunter sogar gefährlich und brachte ständig wechselnde Dienstzeiten mit sich. Umstände, die einem Familienleben nicht gerade zuträglich waren, dessen war sich der Polizeibeamte voll bewusst. Doch Norbert Beckmann liebte seinen Beruf und sah in seiner Mitgliedschaft in dieser Spezialeinheit auch die Möglichkeit, schneller Karriere zu machen – was seiner Meinung nach letztlich wieder der Familie zugutekam. Einige Jahre noch, dann würde er sich auf eine führende Position in einem Kommissariat bewerben können, und die Situation würde sich entspannen. Das hatte er seiner Frau schon häufig erklärt, aber darauf wollte Veronika offenbar nicht mehr warten. Sie hatte, wie sie ihm sagte, nicht geheiratet, um dann immer allein zu sein und täglich in der Furcht zu leben, ihr Mann könne im Dienst verletzt werden oder gar ums Leben kommen. Auslöser war wohl der letzte Einsatz gewesen, bei dem sein Kommando einen Drogenhändler über die A7 verfolgt hatte. Ein total zugekiffter Irrer, der mit seinem Mercedes über die Autobahn gerast war und dabei auch noch auf die ihn verfolgenden Einsatzkräfte schoss. Die Autobahn musste gesperrt werden, um andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden. Darüber war natürlich im Fernsehen groß und breit berichtet worden, wodurch seine Frau alle Einzelheiten mitbekommen hatte. Letztendlich hatten sie den Kerl geschnappt. Allerdings hatte Beckmann ein leichtes Schleudertrauma davongetragen, als sein Dienstwagen beim Versuch, den Flüchtigen zu stellen, gegen die Leitplanke geprallt war. Das hatte wohl bei seiner Frau das Fass zum Überlaufen gebracht.

Beckmann riss sich mit Gewalt von seinen Gedanken los. Leicht über das Lenkrad gebeugt, starrte er angestrengt durch die Windschutzscheibe. Von dem Wagen, der vor fünfzehn Minuten ihrem Transport vorausgefahren war, war nichts zu sehen. Es handelte sich dabei ebenfalls um einen gepanzerten Gefangenentransporter, in dem sich ein mit Handschellen gefesselter Angeklagter befand. Sie hatten diesem Fahrzeug ausreichend Vorsprung gelassen; somit bestand keine Gefahr, dass sich die beiden Transporte und die darin befindlichen Personen auf dem Weg zum Gericht begegneten.

Als sich der Wagen der ersten Kreuzung mit einer Ampelanlage näherte, schaltete Beckmann das Martinshorn und das Blaulicht ein und fuhr zügig über das Straßenkreuz hinweg. Anlass für einige Autofahrer, wütende Blicke herüberzuwerfen, weil sie plötzlich abbremsen mussten und dazu noch von einer Wasserfontäne getroffen wurden, die der Transporter nach beiden Seiten hochspritzte. Doch Beckmann konnte darauf keine Rücksicht nehmen, er hatte strikte Anweisung, während der Fahrt nicht anzuhalten.

Der Grund für diese strengen Vorsichtsmaßnahmen saß in seinem Fahrzeug. Es handelte sich um den Kronzeugen in dem Strafprozess gegen Francesco Edoardo Emolino, Renato Mallepieri. Er war ebenso wie Emolino deutscher Staatsbürger italienischer Abstammung. Emolino war wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung und Anstiftung zum mehrfachen Mord von der Staatsanwaltschaft vor dem Schwurgericht des Landgerichts Würzburg angeklagt worden. Schon seit geraumer Zeit saß er deswegen in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Würzburg. Heute sollte der Prozess gegen ihn beginnen, für den von vornherein mehrere Tage angesetzt worden waren. Mallepieri war dabei der Schlüssel, mit dem die Strafverfolgungsbehörden Emolino endlich knacken wollten. Der Kronzeuge war wie ein Augapfel gehütet worden. Wochen hatte er in einer sicheren Wohnung im Landkreis Würzburg verbracht. Dort hatte man ihn verhört und seine Zeugenaussagen aufgenommen. Eine ganze Gruppe Ermittler der Sondereinheit Spessartblues war für seine Bewachung abgestellt worden, da sein Leben höchst gefährdet war.

Das Verfahren, das in ganz Deutschland für Furore in den Medien sorgte, wurde insgesamt von außerordentlich strengen Sicherheitsmaßnahmen begleitet. Die Justiz rechnete damit, dass von bestimmten Kreisen der Versuch unternommen werden könnte, Emolino zu befreien, und man traf entsprechende Vorsichtsmaßregeln. Zu viel stand für den Angeklagten auf dem Spiel. Immerhin drohte ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Aus anderen Gründen, aber in noch viel stärkerem Maße galt diese Bedrohungssituation auch für Mallepieri. Sein Leben war extrem gefährdet, das stand außer Zweifel. Um heute Morgen keine längere Fahrt über Land in Kauf nehmen zu müssen, war Mallepieri gestern am späten Abend in die Justizvollzugsanstalt Würzburg verlegt worden, wo er die Nacht, streng bewacht, in einer Einzelzelle verbrachte.

Fünfzehn Minuten später erreichte das Fahrzeug mit dem Kronzeugen sein Ziel: die Einfahrt zur Tiefgarage des Strafjustizzentrums Würzburg in der Ottostraße. Per Funk überzeugte sich der Fahrer davon, dass das vorausfahrende Fahrzeug mit dem Angeklagten am Ziel angekommen war. Wie man ihm sagte, saß Emolino bereits in einer Wartezelle des Strafjustizzentrums, wo er bis zum Beginn des Prozesses verwahrt wurde. Man konnte also den Kronzeugen in ein gesichertes Zimmer neben dem Schwurgerichtssaal schaffen.

Beckmann schaltete das Sondersignal aus. Langsam rollte er die am Altbau der Würzburger Justiz entlangführende Parkstraße entlang, die zugleich die einzige Zufahrtsstraße zur Tiefgarage des Strafjustizzentrums darstellte. Zwischenzeitlich hatte der Regen deutlich nachgelassen. Die Beamten im Fahrzeug machten sich bereit. Diese Phase, eingesperrt in die sich schluchtartig verengende Zufahrt zur Tiefgarage des Gerichts, war die gefährlichste während des gesamten Gefangenentransports. Hier gab es kein Ausweichen und keine Wendemöglichkeit. Wenn sie erst einmal das schwere Metalltor zur Tiefgarage passiert hatten, waren sie in relativer Sicherheit. Es gab dort reservierte Parkplätze für Polizeifahrzeuge, von denen aus man den Zeugen auf kurzen, sicheren Wegen zum Schwurgerichtssaal bringen konnte.

Die auf grün springende Ampel oberhalb des Tores zeigte an, dass die Zufahrt zur Tiefgarage freigegeben war. Beckmann rollte langsam die Asphaltstraße hinunter, die mit Gefälle zum ferngesteuerten Tor der Garage führte. An der tiefsten Stelle der Einfahrt hatte sich aufgrund des Unwetters ein regelrechter See gebildet. Während sich der Transporter im Schritttempo der Einfahrt näherte, drückte ein Justizwachtmeister, der den Vorgang auf einem Bildschirm in der Zentrale im Gebäude verfolgen konnte, den Schaltknopf, und das Tor bewegte sich knarrend im Schneckentempo nach oben.

Der Mann, der sich hinter den Büschen der angrenzenden Parkanlage versteckte, kniete bereits in der richtigen Position. Er wusste, dass er vom nahen Fußgängerweg nicht gesehen werden konnte. Eine ganze Reihe von Sträuchern gab ihm ausreichend Deckung. Im Übrigen waren bei dem augenblicklichen Regenwetter sowieso nur wenige Menschen unterwegs. Er wischte sich mit dem Ärmel das Wasser aus dem Gesicht. Dass er nass bis auf die Haut war, störte ihn nicht.

Aufs äußerste konzentriert, beobachtete er die Ankunft des zweiten Gefangenentransporters. Er hatte genaue Instruktionen erhalten. Der zweite Wagen war sein Ziel! Das erste Fahrzeug war schon seit einiger Zeit in der Garage verschwunden.

Als der Wagen kurz vor dem Tor zum Stillstand kam, führte er das Abschussrohr an die Schulter, klappte die Zielvorrichtung auf und blickte hindurch. Ruhig visierte er, erfasste das Ziel und betätigte ohne Hast den Auslöser. Dieses russische Modell eines panzerbrechenden Raketenwerfers war kinderleicht zu bedienen und hatte nur einen geringen Rückstoß. Nach hinten einen langen Feuerstrahl ausstoßend, zischte die Rakete aus dem Abschussrohr und raste mit rasch zunehmender Geschwindigkeit auf das rückwärtige Fenster des Polizeifahrzeugs zu. Die vergleichsweise dünne Panzerung des Fahrzeugs war für das Geschoss, das mühelos siebzig Millimeter Stahl eines modernen Panzers durchbrechen konnte, kaum spürbar. Zwischen dem Einschlag in den Transporter und der nachfolgenden Explosion verging keine für Menschen erkennbare Zeitspanne. Nach Sekundenbruchteilen blähte sich das Fahrzeug plötzlich wie ein überdimensionaler Ballon nach außen auf und explodierte in einem enormen Feuerball. Der Druck der Explosion prallte gegen den noch nicht geöffneten Teil des Metalltors der Tiefgarage, traf es mit der Wucht einer gigantischen Faust und verbog es nach innen. Fenster der angrenzenden Gebäude splitterten, und von den in der Nähe stehenden Bäumen brachen Äste herunter. Der Knall und die nachfolgende Druckwelle der Explosion erreichten den Schützen nicht unvorbereitet. Längst lag er auf der Erde und drückte sich fest gegen das nasse Gras. Seine Trommelfelle hatte er durch Gehörschutzkapseln geschützt. Als der Luftdruck schadlos über ihn hinweggegangen war, drehte er sich ohne Hast zur Seite und steckte die Abschussvorrichtung in die unauffällige, längliche Sporttasche zurück, in der er sie auch hertransportiert hatte. Dann erhob er sich und zwängte sich durch die nassen Büsche nach draußen auf den Weg. Er wusste, dass zwischen Explosion und Reaktion der Sicherheitskräfte im Haus einige Zeit vergehen würde. Vermutlich waren im Augenblick alle vom Schock gelähmt. Den Flammen, die in der Schlucht der Zufahrt mehrere Meter hochschlugen, schenkte er nur einen beiläufigen Blick. Das Benzin des Fahrzeugs sorgte für eine tosende Feuerhölle. Er wusste, welch verheerende Auswirkungen diese Waffe hatte. Man konnte sich auf diese Baureihe absolut verlassen. Vorsichtig bewegte er sich über die Glassplitter der im angrenzenden Ziviljustizzentrum geborstenen Fensterscheiben.

Kurze Zeit später verließ ein dunkelblauer Van eine Parkbucht vor dem Gebäude der nahen Universität. In der Ferne hörte der Fahrer Sirenengeheul: Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge. Trotz allem hatten die Verantwortlichen der Justiz offenbar schnell reagiert.

Der Mann fühlte keine besonderen Emotionen. Zu oft hatte er in seinem Leben schon vergleichbare Situationen erlebt. Er war sich sicher, dass es dort nichts mehr zu retten gab. Die Insassen des Fahrzeugs waren in tausend Stücke gerissen worden, die Überreste würden in den Flammen bis zur Unkenntlichkeit verbrennen. Damit war der Job für ihn erledigt. Das Honorar würde in den nächsten Tagen auf seinem Auslandskonto eingehen.

Auf der Talavera, einem großen Parkplatz in der Nähe des Mains, stellte er den gestohlenen Wagen ab. Den Schlüssel ließ er stecken. Mit einem Handgriff aktivierte er den Zeitzünder, der in der kommenden Nacht den Wagen in eine Brandfackel verwandeln würde. Den Zeitpunkt hatte er deshalb gewählt, weil dann mit hoher Wahrscheinlichkeit keine unbeteiligten Menschen gefährdet wurden. Seine Handlungen waren rational gesteuert, seine Motive geschäftlicher Natur. Er tötete nicht zum Vergnügen. Da keine weiteren Todesopfer erforderlich waren, um sein Ziel zu erreichen, würde es auch keine geben. Mit dieser Aktion waren dann alle Spuren, die er möglicherweise hinterlassen hatte, vernichtet. Er stieg aus. Es regnete nicht mehr. Die Sonne kämpfte sich durch die Wolkendecke und begann, seine feuchte Kleidung zu trocken. Er setzte eine Sonnenbrille auf, überquerte ohne Eile den Parkplatz und marschierte wenig später mit seiner Tasche in der Hand in die Zellerau, wo in der Wredestraße ein weiteres Fahrzeug auf ihn wartete. Auch dieses Auto war gestohlen und diente nur dazu, seine Spuren zu verwischen. Irgendwo auf der Strecke zwischen Würzburg und seinem Wohnort würde er dann in sein eigenes Fahrzeug steigen. Dort konnte er auch die noch immer feuchte Kleidung wechseln. Während der Fahrt würde er seine gesamte Ausrüstung an einer passenden Stelle im Main versenken.

Der eine oder andere in seinem Geschäft hielt diese Maßnahmen wahrscheinlich für übertrieben, aber er überließ seine persönliche Sicherheit nur ungern einem Zufall.

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