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THEMA

Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Theologiegeschichtliche Reflexionen zum Bußsakrament

Von Gunda Werner

Nicht ohne die Opfer!

Vergebung in eschatologischer Perspektive

Von Dirk Ansorge

„Darf man Gröning vergeben?“

Die Replik von Gunda Werner auf Dirk Ansorge

Vertrauen auf die Treue Gottes

Die Replik von Dirk Ansorge auf Gunda Werner

Beichte statt Beratung?

Eine christentumsgeschichtliche Revision Von Hubertus Lutterbach

PROJEKT

Konflikte zwischen Schülern – Ist „Streitschlichtung“ die Lösung?

Von Werner Viehhauser

INTERVIEW

Absichtslose Gastfreundschaft und Staunen über die Kraft des Lebens

Ein Gespräch mit Bärbel Ackerschott

PRAXIS

Höllenlehre: Höllenleere?

Von Wolfgang Beinert

Im Gefängnis von Vergebung sprechen?

Von Jussuf Windischer

„Beichten“ kann ganz anders sein

Von Andrea Schwarz

Bin ich Charlie?

Von Christiane Florin

15 Jahre nach dem Erlassjahr. Ein Blick zurück nach vorn

Von Jürgen Kaiser

FORUM

Weder Wirtschaftsexperten noch Winzer.

Zur Auslegung von Mt 20,1-16 Von Sandra Hübenthal

POPKULTURBEUTEL

Mal ehrlich

Von Bernhard Spielberg

NACHLESE

Glosse von Wolfgang Frühwald

Impressum

Buchbesprechungen

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Bernhard Spielberg
Mitglied der
Schriftleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Ich hoffe, dass Sie und ich uns als ehemalige Gegner als Menschen begegnen können“. Mit diesen Worten ging vor wenigen Wochen Eva Kor, eine 70jährige Holocaust-Überlebende, am Rande des Lüneburger Auschwitz-Prozesses auf den ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning zu. Sie reichte dem Mann, der der Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen angeklagt ist, die Hand zur Vergebung.

Was Frau Kor als Geste der Selbstheilung und Selbstbefreiung beschrieb, hat in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen: für die einen war es eine beeindruckende Geste, für andere eine Unmöglichkeit. Nicht wenige der Opfer, die als Nebenkläger im Verfahren auftreten, betonten, dass es bis heute allein die Opfer gewesen seien, die den Hass überwunden und zur Aufklärung über die Verbrechen beigetragen hätten. Die Täter aber hätten geschwiegen – und weder zur Wahrheitsfindung beigetragen noch Zeichen der Reue gezeigt. Außerdem komme es den Überlebenden gar nicht zu, im Namen der unzähligen Toten die an ihnen begangenen Verbrechen zu verzeihen.

Die Erfahrung, vergeben zu bekommen und die Erfahrung, vergeben zu können, gehören zum Faszinierendsten, was Menschen erleben können. Beide sind nicht nur Kernbestand religiöser Traditionen, vor allem des Christentums, sondern – ganz praktisch – wesentliche Elemente eines glücklichen Lebens. Jenseits der frommen Floskeln wird es aber schnell heikel. Und sehr konkrete Fragen tauchen auf: Müssen Christen jedem und alles vergeben? Was hilft es zu glauben, dass Gott vergibt – wenn Menschen das nicht tun? Wie lässt sich heute von Vergebung reden, ohne den Respekt vor den Opfern zu verlieren?

Von diesen Fragen ist das Heft inspiriert, das Sie in Händen halten. Es öffnet den Raum für systematisch-theologisches Nachdenken über Vergebung, deckt historische Spuren des kirchlichen Umgangs mit Sünde auf und eröffnet ein Panorama praktischer Perspektiven: von Streitschlichtern auf dem Schulhof über neue Formate des Sakramentes der Versöhnung bis hin zum Erlass staatlicher Schulden. Schließlich stellt sich die Journalistin Christiane Florin die heikle Frage: Bin ich Charlie?

Ich wünsche Ihnen eine eindrucksvolle Lektüre,

Ihr

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JProf. Dr. Bernhard Spielberg, Mitglied der Schriftleitung

Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Theologiegeschichtliche Reflexionen zum Bußsakrament

Dass das Bußsakrament in der Krise steckt, wird derjenige nicht bestreiten, der in Urlauben Kirchen in Frankreich besucht: dort ist der Beichtstuhl längst zu Informationsstellen umgewandelt, in denen DVDs über die Geschichte der Kirche erzählen. Gerne wird der Beichtstuhl auch genutzt als Abstellkammer für das Allerlei des Kirchenalltags. Dabei sollte eigentlich doch die Beichte zum Allerlei des Kirchenalltags gehören und keineswegs in die Abstellkammer! Auch die eingerichteten „Räume der Versöhnung“ lassen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Nachfrage auf das Angebot in Grenzen hält. Gleichzeitig ist das Thema der Vergebung und mit ihm der Schuldfrage alltäglich und gegenwärtig. Wie passt das zusammen? Was ist eigentlich das Besondere an der Vergebung Gottes, die in der Beichte sakramental zugesprochen wird? Gunda Werner

In seiner Erzählung „Die Sonnenblume“ durchleuchtet Simon Wiesenthal (Wiesenthal 1984) die Frage, wer eigentlich vergeben darf. Zugrunde liegt seine bedrängende und dramatische Erfahrung, die er in seiner Internierung im Arbeitslager in Lemberg gemacht hat. Dort wird er zu einem sterbenden SS-Mann gerufen, der ihm seine Gräueltaten „beichtet“ und Vergebung von ihm wünscht. Am Ende des Bekenntnisses steht das Bedürfnis nach Vergebung. Wiesenthal selbst fragt sich nun, ob er dieses Bekenntnis Beichte nennen soll: „Aber was ist das für eine Beichte? Ein Brief ohne Antwort […]. Da liegt ein Mann im Bett und will in Frieden sterben – aber er kann es nicht, weil ihm ein entsetzliches Verbrechen keine Ruhe lässt. Und neben ihm sitzt ein Mann, der sterben muss – aber nicht sterben will, weil er das Ende solch entsetzlicher Verbrechen erleben will“ (Wiesenthal 1984, 62). Wiesenthal steht auf und geht. Schweigend.

Der SS-Mann wünscht also von dem Juden Simon Wiesenthal eine Vergebung für seine grausamen Taten an Juden. Wiesenthal selbst verlässt diesen Mann, ohne ihm diese Vergebung zu gewähren. Er ist sich in dem Moment sicher, dass er es nicht gedurft hätte – nicht stellvertretend für die Opfer. Allerdings kommen ihm Zweifel, und er bespricht diese Situation – sowohl unmittelbar als auch nach 1945. Der direkt befragte Freund befürchtete sogar, „du [Wiesenthal] hättest ihm wirklich verziehen. Du hättest das ja doch nur im Namen von Menschen tun können, die dich gar nicht dazu ermächtigt haben. Was man dir selbst angetan hat, kannst du, wenn du willst, vergeben und vergessen. Darüber bist du nur dir selbst Rechenschaft schuldig. Aber glaub mir, es wäre eine große Sünde gewesen, fremdes Leid auf dein Gewissen zu nehmen“ ( Wiesenthal 1984, 73). Die Perspektive der Vergebung angesichts der Reue macht wiederum ein weiterer Protagonist stark, der formuliert, was Wiesenthal ebenfalls empfand: „Ich war damals tatsächlich die letzte Chance für ihn, sein Gewissen zu erleichtern“ (Wiesenthal 1984, 90f.) Die weiteren Antworten auf die schlichte Frage Wiesenthals „Hätte ich vergeben dürfen?“ drehen sich alle um eben diese Kernfrage der Vergebung, wer nämlich überhaupt vergeben darf. Theologisch gefragt: Hat die Vergebung Gottes mit der eigenen Vergebung zu tun? Wie geschieht Vergebung?

WER DARF VERGEBEN?

Wer überhaupt vergeben darf, ist im Nachdenken über Vergebung die naheliegende und doch schwierigste Frage. Gerade weil sich gleich mehrere Situationen darstellen, in denen Vergebung geschieht, ist Vergebung jeweils genau zu beschreiben. Sowohl die zwischenmenschliche als auch die göttliche Vergebung steht im Mittelpunkt von Vergebungsritualen, wobei ihr doch in der Regel ein innerer Vorgang des Bewusstwerdens der Schuld, des Eingestehens und der Entscheidung, um Vergebung zu bitten, vorausgeht. Weiterhin stellt sich die Frage, welche Rolle Gott im christlichen Geschehen der Vergebung hat, das unterschiedliche Bedeutungen und Rituale kennt: so wird Gott um Vergebung gebeten, Jesus vergibt an Gottes Stelle, der Tod Jesu kann als stellvertretende Vergebung verstanden werden, im Sakrament wird die Vergebung Gottes zugesagt. Wer darf also wann vergeben? In der konkreten sakramentalen Praxis scheinen sich diese Fragen weniger zu stellen, sondern es wird nach der Ursache für die wenige Nachfrage nach dem Sakrament der Beichte selbst ebenso wie nach neuen Formen gesucht. Dabei geht die Rede von der „Krise des Bußsakraments“ einher mit der Feststellung, dass die Vergebungsthematik selbst aktueller ist denn je. Was also geschieht in der sakramentalen Vergebung, dass an ihrem Fehlen so viel festgemacht wird?

Meines Erachtens verlangt das Nachdenken über die Frage, wie Vergebung geschieht und vor allem, wer wem vergeben darf, eine Unterscheidung genauer ins Auge zu fassen: die Schuld als eine ethische Kategorie von der Sünde als theologischer Kategorie deutlich zu differenzieren. So wird erst deutlich, wieso die Vergebung der Sünden die eigentliche theologische Fragestellung darstellt. Es wird sich zeigen, dass an dieser Unterscheidung die Einsicht hängt, die sogenannte Krise des Bußsakraments theologiehistorisch auf eine bestimmte Form des Sakramentenverständnisses zurückführen zu können, das überhaupt erst die Deutungsmöglichkeit der Krise eröffnet.

SCHULD UND SÜNDE – EINE NOTWENDIGE UNTERSCHEIDUNG

Die Unterscheidung von Schuld und Sünde eröffnet überhaupt erst die theologische Reflexion auf Vergebung. Solange nämlich nur die Frage nach der Schuld gestellt wird, erscheint Vergebung zunächst als die humane Eigenschaft, sich auch noch zur begangenen und ergangenen Schuld zu verhalten. Vergebung selbst ist die je größere Möglichkeit des Menschen, mit begangener Schuld umzugehen. Zugleich ist der Vergebungsvorgang als interpersonales Beziehungsgeschehen immer fragil, weil in ihm die Asymmetrie der Täter-Opfer-Problematik – auch bei weniger gravierenden Vergehen – aufbricht. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen und befinden sich doch in sehr unterschiedlichen Rollen. Die genuin theologische Frage nach der Vergebung stellt sich allerdings tatsächlich erst dann, wenn die Unterscheidung von Schuld und Sünde markiert wird und damit die Frage nach dem „Wer vergibt?“ als religiöse transponiert ist. Hier hatte Søren Kierkegaard bereits deutlicher noch als Immanuel Kant den qualitativen Unterschied „zwischen der Disposition zur Sünde und dem Faktum der Sünde“ benennen können“ (Essen 2011, 1116). Wenn die Disposition zur Sünde von dem Faktum der Sünde unterschieden wird, dann ist zugleich dieses Faktum in Schuld und Sünde so differenzierbar, dass Sünde in ihrer Faktizität eine Aussage der Beziehung des Subjekts zu Gott ausdrückt: Sünde ist mit Kierkegaard schon als Bestimmung vor Gott gedacht. Nur dann ist „ethische Schuld zur eigentlichen Sünde qualifiziert“, ist nämlich in der „Weigerung des Menschen, auf diese Zusage zu setzen und aus ihr und den durch sie eröffneten Möglichkeiten sich selbst und sein Handeln zu bestimmen“ (Pröpper 2011, 717), zu sehen. Somit ist ethische Schuld nur dann Sünde, wenn sie „von den Möglichkeiten Gottes her“ gedacht wird, „sofern wir im Glauben Anteil an ihnen gewinnen können“ (Pröpper 2011, 720) Diese Unterscheidung setzt aber bereits voraus, wovon Kant ausging: dass die persönliche Schuld nicht übertragbar ist und daher auch von keinem abgenommen werden kann. Jeder Mensch steht ein für die Schuld, für die er selbst verantwortlich ist. Verantwortlich ist er für Schuld, weil er diese Möglichkeit des Handelns frei wählt. Damit geht Kant aber auch davon aus, dass der Mensch seine Schuld wieder begleichen kann – auch wenn dieser Prozess ein harter Prozess ist, bedeutet er doch eine „Umkehr“ in der Gesinnung des Menschen. Damit stellt sich jedoch die Frage, ob für eine Vergebung eigener Schuld, die ein anderer mir gewährt, noch Platz ist! Theologisch jedenfalls ist zweierlei bedeutsam: Schuld ist an die Freiheit des Menschen gebunden und muss von ihm verantwortet werden. Dass auch die Sünde an die Freiheit des Menschen gebunden ist, ist eine Einsicht Kierkegaards, die das Vergebungsgeschehen signifikant prägt. Für Schuld und eben auch Sünde steht somit der Mensch selbst ein und diese wird ihm vom Gegenüber – sei es Mensch, sei es Gott – vergeben. Damit ist für eine theologische Reflexion zugleich der Aufgabenhorizont beschrieben: angesichts der freiheitlichen Tat der Sünde sowie der Schuld gilt es, die Vergebung an eben diese Freiheit zurückbinden. Erscheint diese Zwischenreflexion für die Vergebung von Schuld noch relativ einfach, wird sie doch in Bezug auf Gott skandalös: Wie vergibt denn dann Gott? Darf nämlich jemand an Gottes statt die Sünden vergeben? Diese Frage stellt sich nicht zuletzt in der Vergebungspraxis Jesu und führte – angesichts des Vorwurfes, an Gottes Stelle zu handeln – zum tödlichen Konflikt. Spätestens hier wird deutlich: Vergebung der Sünden ist eine heikle Angelegenheit! Die Perikope von Mk 2,1-12, in der Jesus dem gelähmten Mann die Sünden vergibt und ihn zugleich heilt, verdeutlicht eindrucksvoll eine Konfliktlinie, die sich sowohl als jesuanische Praxis als auch als gemeindliche Regelform zuziehen wird: Wie ist die Vergebung Gottes zu denken, wenn sie nicht unmittelbar, sondern mittelbar durch einen Menschen geschieht? Wer bewirkt die Vergebung?

WAR DIE HÄUFIGE BEICHTPRAXIS EIN „RUNNING WILD“ DER GLÄUBIGEN? THEOLOGIEGESCHICHTLICHE EINORDNUNG EINES KURZFRISTIGEN PHÄNOMENS

Die Geschichte der sakramentalen Vergebung ist lesbar als eine Geschichte, die sich mit eben dieser Frage der Vollmacht zur Sündenvergebung auseinandersetzt. Hier aber zeigt sich zugleich, dass theologiegeschichtlich die Erkenntnis langsam verblasste, dass die Vergebung der Sünden einzig und allein Tat Gottes ist, auch dort, wo ritualisierte Formen institutioneller Art an die Stelle der unmittelbaren Handlung Gottes traten. Die Festlegung der heute gängigen Absolutionsformel im Jahr 1439 (im Armenierdekret, DH 1323) lässt dieses Wissen zugunsten des Nachdenkens über die differenzierte Wirksamkeit des Sakraments auf die Sündenvergebung in den Hintergrund treten. Nachdem so die sakramentale Sündenvergebung in der Materie – Sünde, Reue und Bekenntnis – des Sünders und der Form der Absolution durch den Priester gedacht wird, können diese beiden Elemente weiter definiert werden. Damit war der Weg geöffnet für eine doppelte sakramententheologische Entwicklung: zum einen konnte ein stärker rechtliches Verständnis der Buße entstehen. Dieses stand in Korrelation zu einem Sündenverständnis, das die Sünde als Tatsünde verstand und dem ein Katalog der Vergebungsformen korrespondierte. Zum anderen wurde die eigentliche Vergebungsfrage selbst ausgeblendet zugunsten theologischer Spekulationen der formalen Wirksamkeit von Sakramenten. Beides sollte erst zu jener Situation führen, die als beschriebene Krise des Bußsakraments gezeichnet wird. Dabei erscheint diese Krise zunächst einmal nicht weniger als eine Krise einer bestimmten kirchlichen Verfassung zu sein. Diese entwickelte sich infolge des Konzils von Trient zunächst zu einer gegenreformatorischen und kontroverstheologischen Ausprägung ihrer Praxis (vgl. Dallen 1986, 180-183). Gerade aber die Zeit der Aufklärung führte zu einer kurzzeitigen theologischen Reformbewegung (vgl. Dallen 1986, 183f.), in der die eigentlichen theologischen Fragen des Bußsakraments wieder verhandelt wurden. So stellte die Aufklärung einerseits die Möglichkeit dar, das Methodenrepertoire der theologischen Wissenschaft deutlich auszuweiten. So konnte es „zu einer methodisch-didaktischen Erneuerung des Verständnisses von Theologie, die biblisch-heilsgeschichtlich begründet, breit historisch fundiert und radikal pragmatisch ausgerichtet sein sollte“ (Vorgrimler 1978, 192) kommen. Andererseits provozierte die Engführung des Glaubens auf die Moral wiederum, die Sakramente nunmehr als pädagogische und moral-erziehende Maßnahmen zu reduzieren.

Obwohl die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde neuscholastische Theologie über ein breites historisches Wissen zur Entwicklung des Bußsakraments verfügte, reflektierte sie jedoch nicht die darin sich ausdrückenden Denkform-Transformationen oder wandte die Erkenntnisse zu einer Veränderung sakramententheologischer Reflexion an, sondern versuchte, die vorfindliche Praxis in Traditionsbeweisen zu begründen. Eine wirklich historisch orientierte Reformulierung des Bußsakraments scheiterte (vgl. Dallen 1986, 184, mit dem Verweis auf die Enzyklika „Mirari Vos arbitramur“ (15.8.1832) von Gregor XVI., DH 2730-2732). Im Gegenteil: diese sich im späten 19. Jahrhundert bis zum frühen 20. Jahrhundert darstellende kirchliche und theologische Situation stellte für die sakramentale Praxis eine völlig neue Situation dar! Die geläufige Praxis des Kommunionempfangs sollte deutlich erhöht werden. Diese Veränderung in der Praxis der Eucharistiefeier führte zu einer regelrechten Kettenreaktion, die gravierende Auswirkungen auf das Sakrament der Buße hatte. Da der Kommunionempfang nämlich nur möglich ohne Todsünde sei, dieser Zustand aber nur sicher nach der Beichte sei, wurde diese als Absolution der Sünden vor jedem Kommunionempfang erbeten. Damit ergab sich die paradoxe Situation, dass das Sakrament der Beichte häufiger als im Konzil von Trient vorgeschrieben empfangen wurde. In den römischen Dekreten wurde dies durchaus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts begrüßt (so Leo XIII. (DH 3360-3364): Mirae caritatis vom 28.5.1902; Pius X. (DH 3375-3383): Sacra Tridentina Synodus vom 20.12.1905; (DH 3530-3536): Quam singulari vom 8.8.1910). Die mit der häufigen Kommunion verbundene Beichtpflicht führte schließlich zu jener Situation, die sich dann als Ausgang der Krise der Beichte, wie sie von den 1970ern an benannt wird, darstellt (vgl. Scheule 2002, 75-77)! Damit ist die historisch einmalige Beichthäufigkeit im 20. Jahrhundert „kein isoliertes running wild der Frömmigkeitspraxis […], sondern [stand] durchaus in einem Zusammenhang mit Theologie und Lehramt“ (Scheule 2002, 78).

DAS BUSSSAKRAMENT ALS SEISMOGRAPH FÜR GESELLSCHAFTLICHE UND KIRCHLICHE ENTWICKLUNGEN

Das Bußsakrament scheint also eine Art Seismograph für gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen darzustellen. Nicht nur löste seine mittelalterliche Praxis die reformatorischen Streitigkeiten aus, sondern diese legten die dahinterliegenden theologischen Themen ja erst wieder offen. So brauchte es eine Klärung, wie Gott angesichts der Sünde seine Gnade dem sündigen Menschen tatsächlich zukommen lassen konnte. Die Kontroversen der Reformation kristallisierten sich nicht ohne Grund an diesem theologischen Streitpunkt und seiner gängigen Praxis. Wie wenig die Lösungen, die das Konzil von Trient entschied, zufriedenstellend waren, zeigt die Notwendigkeit einer Neuzuordnung von Glauben und Wissen in der Aufklärung. Für das Bußsakrament wesentlich wurde die Moralisierung des Glaubens, mit dem die Themen verhandelt wurden, die als rationale Erkenntnisse des Glaubens bewahrt bleiben konnten. Die Frage also, wie der Mensch zu leben hat, wurden von der religiösen Frage auf die moralische transformiert. Damit kritisierte die Aufklärung diejenigen Glaubensinhalte, die als religiöse nicht mehr verständlich waren, und reformulierte jene, die das Verhalten des Subjekts betrafen. Die augenscheinliche Überschneidung der Motive, die sich in der Ethisierung und Moralisierung des einzelnen Subjekts finden (vgl. Vorgrimler 1978, 192f.), und die im Laufe des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde neuscholastische Theologie, die sich einerseits aufgrund der erdrutschartigen Anfragen und Erkenntnisse außertheologischer Wissenschaften in die Defensive gedrängt sah und andererseits mit dem Entstehen des Ordentlichen Lehramtes eine lehramtliche Fassung erlangte (vgl. Wolf 2010, 240; 248; 252; 257) und die bisherige Vielfalt katholischer Reflexion auf die Herausforderungen der Aufklärung beinahe beendete (vgl. Norbert Fischer 2004; Bader und Fischer 2005; Fischer 2012a und 2012b), stellen die Situation dar, in die hinein im 20. Jahrhundert nicht nur die lehramtlichen Dekrete wirken, sondern auch die liturgische Erneuerung und Forschung (vgl. Dallen 1986, 188: „The practice of devotional confession began to be questioned in German-speaking countries in the 1930s and came under strong criticism in the 1940s.“). Letztlich wird die Festlegung des Konzils von Trient auf die Privatbeichte als einzige von alters her praktizierte Bußform schlicht wissenschaftlich widerlegt und damit der Weg eröffnet, über neue Formen des Sakraments der Buße nachzudenken (so als erster: Xiberta 1922; als Überblick ebenso Dallen 1986, 186ff.).

Die liturgische Erneuerung legte damit ein Problem offen, das selbst zu Beginn des II. Vatikanischen Konzils für das Bußsakrament zu überraschenden Einsichten führen sollte: die sich verstetigende Konzentration auf den Sünder und seine Disposition vernachlässigte die kirchliche Dimension des Sakraments dermaßen, dass das Sakrament der Buße schlicht nicht mehr als Liturgie wahrgenommen wurde (vgl. Kaczynski 2009, 154). Somit konnten folglich auf dem II. Vatikanum zunächst auch keine liturgischen Reformideen eingebracht werden. Es wurde nur die Anweisung auf eine grundlegende Reform in die Liturgiekonstitution eingebracht (SC 72,1)! Das Bußsakrament war als Institut in einem Maße verrechtlicht, dass die eigentlichen Themen – so die Vergebungsproblematik – in den Hintergrund traten (vgl. Krämer 1998, 211). Mit diesem Verlust der Kirchlichkeit im Vollzug des Sakraments kann aber zugleich das Zueinander von der von Gott ermöglichten Umkehr, der Sündenvergebung durch das Sakrament und der notwendigen sakramentalen Handlung zur Sündenvergebung angesichts der Umkehr des Sünders nicht mehr gedacht werden.

Es zeigt sich, dass sich in dieser Unklarheit ein Konflikt verstetigt, der nicht nur perspektivisch im Ordo Paenitentiae von 1973 (vgl. Deutsches Liturgisches Institut 2008) weiter besteht, sondern seine Ursachen in den in der Scholastik auftretenden Disputen zwischen der Funktion der Reue angesichts der Absolution, sprich der Frage nach dem Zustandekommen des Sakraments, hat. Es scheint, als sei der Verlust der Kirchlichkeit mehr als nur ein äußeres Element, sondern die grundlegende Notwendigkeit angedeutet, das Bußsakrament als Einzelsakrament als kirchliches Handeln zu begründen.

DIE FREIHEIT DER VERGEBUNG