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Stefan Seckinger

DANTES THEOLOGIE:
BEATRICE

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Herausgegeben von
Karl-Heinz Menke
Julia Knop
Magnus Lerch

Bonner
Dogmatische
Studien
Band 57

Stefan Seckinger

DANTES THEOLOGIE:
BEATRICE

Die Liebe als Zielgrund
menschlichen Strebens
in der Divina Commedia
des Dante Alighieri

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2015 Echter Verlag GmbH
www.echter-verlag.de

Umschlaggestaltung: Peter Hellmund

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2014 vom Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie angenommen. Die Disputation erfolgte am 16. September 2014.

Danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Karlheinz Ruhstörfer und Frau Prof. Dr. Kirsten Dickhaut.

Für Beatrice

Inhalt

Hinführung

1Die Divina Commedia als theologisches Werk

1.1Die theologische Fragestellung

1.2Abgrenzung zu nichttheologischen Zugängen

1.3Aufriss der Interpretationsmöglichkeiten der Bedeutung Beatricens

1.4Die Divina Commedia im Horizont aktueller theologischer Fragestellungen

1.5Dantes Divina Commedia als Anregung, Theologie existentiell als Beziehungsgeschehen zu verstehen

1.6Hermeneutik und Symbolgehalt theologischer Aussagen

1.7Die Eschatologie als hermeneutischer Schlüssel aller Theologie

1.8Das Christentum und seine eschatologische Ausrichtung

1.9Ewigkeit als Realität oder Fiktion – Aufriss eines ›theologischen Konstruktivismus‹

1.9.1Zum Grundverständnis des Konstruktivismus

1.9.2Die Divina Commedia vor dem Hintergrund des Konstruktivismus

1.9.3Der Konstruktivismus als Hermeneutik der Eschatologie ?

1.9.4Eine Eschatologie des ›Als Ob‹ ?

1.10 Hermeneutik in konstruktivistischer Perspektive als Bezugsrahmen der theologischen Interpretation der Divina Commedia

2Grundlegung : Die Verirrung im Wald oder die Ausweglosigkeit in der Lebenskrise

2.1Das Gefühl, etwas im Leben verpasst zu haben

2.2Die Lebenswende als Sinnkrise kontingenter Selbstverwirklichungskonzepte

2.3Aberrative Versuche der Problembewältigung

2.4Die Hilfe von oben : Vergil und Beatrice

2.4.1Die natürliche Gotteserkenntnis als Beginn der Bewegung zum Zielgrund des eigenen Lebens (Vergil)

2.4.2Die übernatürliche Gotteserkenntnis als Gnadenbeistand der eigenen Sehnsuchtsbewältigung (Beatrice)

Exkurs : Die prinzipielle Zuordnung von natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis in der Divina Commedia

3Die Sehnsucht des Menschen nach der Erfüllung seines Liebesstrebens als Maßstab seines Handelns : Paradiso

3.1Das irdische Paradies

3.1.1Die Begegnung mit Beatrice als Ablösung der Philosophie durch die Theologie

3.1.2Lethe und Eunoe – die erlangte Vergebung

3.1.3Das Kirchenverständnis in den Gesängen zum irdischen Paradies

3.2Der Aufstieg Dantes durch die Himmel

3.3Die jeweiligen Himmel als Ausdruck der personalen Bestimmtheit des Einzelnen

3.3.1Das verklärte Scheitern oder der Mondhimmel

Exkurs : Willensfreiheit und Gnadenwahl in der Divina Commedia

3.3.2Das Übermaß an irdischem Streben oder der Merkurhimmel

Exkurs : Sündenfall und Erlösung

3.3.3Das Zuviel an irdischem Liebesverlangen oder der Venushimmel

3.3.4Die Frage nach der Erkenntnis des göttlichen Mysteriums oder der Sonnenhimmel

3.3.5Die Bedeutung der Divina Commedia für die Welt oder der Marshimmel

3.3.6Das Geheimnis der göttlichen Gnadenwahl oder der Jupiterhimmel

3.3.7Der Ort der Kontemplativen oder der Saturnhimmel

3.3.8Dantes Prüfung in Glaube, Hoffnung und Liebe oder der Fixsternhimmel

Exkurs : Die Engel in der Divina Commedia oder der Kristallhimmel (primum mobile)

3.3.9Das Empyreum oder die Himmelsrose

Exkurs : Dantes Marienverehrung

3.4Zusammenfassende Darstellung der Theologie des Paradiso

4Läuterung als Weg der Selbstwerdung : Purgatorio

4.1Die Bereitschaft zur Selbstläuterung vor dem Hintergrund der Höllenerfahrung – das Vorpurgatorium

4.1.1Die vorbereitende Zeremonie von Waschung und Gürtung

4.1.2Der Gemeinschaftscharakter des Aufstiegs zum Paradies

4.1.3Der Einstieg in den Läuterungsberg – die Vergebung als Aufstieg zu Gott

Exkurs : Die Leib-Seele-Problematik in der Divina Commedia

4.2Die verschiedenen Wurzelsünden und ihre Läuterung – der Maßstab der Liebe als Einteilungsprinzip des Läuterungsberges

4.2.1Der Stolz

4.2.2Der Neid

4.2.3Der Zorn

4.2.4Die Trägheit

4.2.5Geiz und Verschwendung

4.2.6Die Schlemmerei

4.2.7Die Wollust

Exkurs : Das Wesen der Fürbitte

4.3Zusammenfassende Darstellung der Theologie des Purgatorio

5Isolation und Stagnation – das verfehlte Leben : Inferno

5.1Der Konnex von Sünde und Strafe

5.2Dantes Einteilung der Höllenkreise

5.3Die Ausweglosigkeit (Ewigkeit) der selbstentfremdenden Gottferne oder das Höllentor

5.4Die Oberhölle : Verirrung im Maß

5.4.1Die Zagenden

Exkurs : Die Annahme eines limbus patrum und eines limbus puerorum

5.4.2Die Wollüstigen

5.4.3Die Schlemmer

5.4.4Geizige und Verschwender

5.4.5Zornige und Verdrossene

5.5Die Unterhölle : Verirrung im Ziel

5.5.1Die Ketzer

5.5.2Die Gewalttätigen

5.5.3Die Betrüger

5.5.4Das Höllenzentrum mit den Erzverrätern und Luzifer

5.6Zusammenfassende Darstellung der Theologie des Inferno

6Die Theologie der Divina Commedia

6.1Beatricens Bedeutung für Dantes Läuterungsweg

6.1.1Die konkret-zwischenpersonale Liebeserfahrung als Ausgangspunkt der Gottsuche

6.1.2Beatrice als personifizierte Theologie in der Divina Commedia

6.2Gnadenlehre und Kirchenverständnis der Divina Commedia

6.3Der sich offenbarende Gott als der Zielgrund des Liebens, als Erfüllung aller Sehnsüchte

6.4Christus als Mitte der Divina Commedia

6.5Die Divina Commedia als Zeugnis des christlichen Glaubens

6.6Die christliche Jenseitsvorstellung und ihre moralische Ausrichtung

6.7Dante als Theologe

6.8Infernum und Purgatorium als aktuelle Problemkreise der Eschatologie

6.8.1Die Frage nach der Hölle

6.8.2Die Frage nach der Läuterung

6.9Ansätze für eine Dogmatik unserer Zeit

6.10 Die Unzulänglichkeit aller Eschatologie

6.11 Theologie im nachmetaphysischen Denken der Gegenwart

6.12 Die Divina Commedia und ihr Beitrag zu einer Theologie der Gegenwart

7Schlussreflexion : Personale Liebeserfahrung als Theologie

8Literaturverzeichnis

Hinführung

Die Divina Commedia (DC) des Dante Alighieri stellt den nicht einfachen Weg des Menschen zu Gott in dichterischer Form dar. Die vorliegende Untersuchung sieht die DC Dantes nicht mit den Augen der Philologie, sondern mit den Augen der Theologie. Es sind die Augen Beatricens, die für Dantes Läuterungsweg maßgebend sind. Dantes konkrete zwischenmenschliche Liebeserfahrung ist Ausgangs- und Zielpunkt seines läuternden Weges zu Gott (der die Liebe in unbedingter Erfülltheit ist). Seine Jugendliebe Beatrice wird ihm dabei zur theologischen Führerin und himmlischen Fürsprecherin. Dass Beatrice Dantes theologische Lehrerin ist und dementsprechend die Theologie verkörpert, wird nicht undifferenziert vorausgesetzt, vielmehr werden aus ihrer Fürbitt- und Geleitrolle Rückschlüsse auf ein entsprechend personales Verständnis theologischer Gottsuche gezogen, welches somit in einer geläuterten Liebessehnsucht seinen Ausgangspunkt findet. Beatrice wird nicht mit der Theologie schlechthin identifiziert, sie ist mehr als deren bloße Personifikation.1 Ziel dieser Untersuchung ist es herauszuarbeiten, inwiefern die Begegnung mit dem geliebten Du im konkreten Lebensvollzug – auch und gerade im Moment der Erfahrung der Trennung – der zunächst in einem formal-offenen Sinn verstandenen Theologie einen existentialen und persönlichen Akzent zu geben vermag.

Dantes Suche nach der Erfüllung seiner Sehnsüchte in Gott ist initiiert durch die Fürbitte Beatricens, aber sie ist ihm nicht allgegenwärtige Begleiterin in der DC (bis zum Eintritt ins irdische Paradies auf dem Läuterungsberg übernimmt diese Rolle Vergil). Dementsprechend verschließt sich die vorliegende Arbeit in ihrem methodischen Vorgehen nicht dem einheitlichen Ganzen von Dantes Werk. Seine drei Teile stehen in Beziehung zueinander und können nur als Einheit letztlich adäquat verstanden werden. Wo Beatrice nicht als Wegbegleiterin Dantes erscheint, ist ihr Fernbleiben bedingt durch den gottfernen bzw. noch zu läuternden Zustand in Hölle und Purgatorium. Vor diesem Hintergrund wird zunächst das Paradies – der vornehmliche Ort der Vermittlerrolle Beatricens – in Augenschein genommen, danach der Aufstieg auf den Läuterungsberg und schließlich der Gang durch die Hölle. Hierbei lässt sich das personale Verständnis theologischer Gottsuche erschließen, wie es sich von der Bedeutung Beatricens in der DC her ableiten lässt.

Die Jenseitswanderung ist geleitet von der jedem Menschen innewohnenden Ausgerichtetheit auf die Seinsfülle Gottes hin als seiner eigentlichen Beheimatung (Zielbestimmung), weshalb die DC auch von der Ambivalenz irdischer Sehnsüchte aus zu lesen ist und Inferno und Purgatorio die Verweigerung bzw. das Abdriften diesbzgl. charakterisieren. Die DC lebt von ihrer drastischen Konkretheit, ihrem personalen Bezugsfeld ; ihre Theologie gewinnt dadurch Lebendigkeit, ohne selbst wiederum unkritisch von dieser abgeleitet werden zu können. Wer mit dem Dichter Dante den Weg des Gottsuchers Dante mitgeht, bedarf daher einer unvoreingenommenen Offenheit gegenüber dem, was ihm dort begegnet. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, den Gehalt der DC unter dem Kriterium neuzeitlichen Denkens (etwa unter Federführung psychologischer Interpretationen) aus seiner originären Darstellung herauszubrechen. Dante ist ein Kind seiner Zeit2, er teilt die philosophisch-theologische Weltsicht des Mittelalters und nimmt in der DC die konkreten Menschen in den Blick, denen er im Leben begegnete und die er – heute wie damals in unfassbarer Kühnheit – entweder der Hölle, dem Fegefeuer oder dem Himmel zuordnet (als bedeutende Persönlichkeiten der Zeit Dantes waren sie den damaligen Menschen ebenso bekannt wie die genannten Berühmtheiten der Menschheitsgeschichte ; ihre exemplarische Bedeutung dient der moralischen Intention des Werkes). Dante schreibt seine Dichtung in der Verbannung. Zwischen den Parteikämpfen von Guelfen und Ghibellinen in seiner Heimatstadt Florenz hin und her gerissen, letztlich verfolgt und geächtet, wächst seine Aversion gegen Bonifaz VIII. und das französische Königshaus sowie seine Hoffnung auf einen starken (das Reich einigenden) Kaiser. Gerade weil (und nicht obwohl) Dante seinem Lebenskontext in der DC Ausdruck und Gestalt verleiht, übt sie auf den heutigen Leser eine ungebrochene Faszination aus ; es ist die Konkretheit des menschlichen Einzelschicksals, die den Zugang zu dem großen Gedicht Dantes erleichtert.

Seine Jenseitsreise beginnt am Karfreitag des Jahres 1300 und endet nach einer Woche Wanderschaft mit der Anschauung Gottes. Die drei Lieder (Inferno, Purgatorio, Paradiso) teilen sich in je 33 Gesänge auf, zusammen mit dem Einleitungsgesang ergeben sich für das ganze Gedicht demnach hundert Gesänge.

Dantes Weltbild entspricht dem ptolemäischen. Scholastik und Antike begegnen sich darin nicht unkritisch, da die Commedia ein Zeugnis des christlichen Glaubens darstellt. Der Einfluss des Aquinaten auf die DC ist kaum zu verleugnen und an zahlreichen Stellen belegt. Ein genuiner Beitrag ist zweifelsohne Dantes Staatsauffassung, wie er sie grundlegend in De Monarchia vertritt und woraus sich auch seine kritische Position gegenüber weltlichen Machtansprüchen des Papsttums nährt (die er ganz auf Seiten des gottgewollten Kaisertums verortet wissen will).

Von den verschiedenen Übersetzungen in deutscher Sprache wird für den Mengentext dieser Arbeit vornehmlich die von H. Gmelin herangezogen, die eine möglichst wort- und satzgetreue Wiedergabe des italienischen Textes bietet.3 Da es sich in der Untersuchung um eine theologische Arbeit handelt, spielen literarkritische bzw. philologische Überlegungen keine übergeordnete Rolle.4 Der italienische Text ist ebenfalls der kommentierten Übersetzung von Gmelin entnommen, die den testo critico geglättet, d. h. von veraltet-unverständlichen Elementen befreit, wiedergibt.

Ein Blick in die umfassende Danteforschung zeigt, dass ein theologischer Zugang zur DC nicht unbedingt und selbstverständlich gesucht wird. So will diese Untersuchung auch einen Beitrag zum christlich-religiösen Verständnis der DC leisten, wie es Dantes Anliegen war.

1 Die Divina Commedia als theologisches Werk

1.1 Die theologische Fragestellung

Die vorliegende Arbeit nimmt die Divina Commedia des Dante Alighieri unter theologischem Gesichtspunkt in den Blick. Auch wenn romanistische und historische Arbeiten zu Dante und seinem Hauptwerk die Veröffentlichungen im wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Kontext dominieren, so ist doch die Göttliche Komödie in erster Linie ein christliches Werk und nur als solches auch richtig zu verstehen bzw. sinnvoll zu interpretieren. Obgleich Dante selbst zahlreiche Anleihen aus der heidnischen Antike in sein Werk einbaut, spricht letztlich doch der Florentiner in seiner christlichen Grundhaltung in und aus jedem einzelnen der 100 Gesänge. Dante bietet hierbei nicht nur einen Einblick in seine Zeit (eine meisterhafte stilistische und philologisch ergiebige Darstellung), es ist vielmehr sein persönliches Bekenntnis, das beeindruckt, wobei er Poesie und Geschichte mit seiner politischen, kulturellen und v. a. religiösen Überzeugung in Einklang zu bringen sucht. Es ist ein existential-theologisches Werk insofern, als es nicht nur durchdrungen ist von eschatologischem Gedankengut der Kirche, sondern vielmehr Dante selbst als Theologen zeigt, der diese ekklesiale Eschatologie erweitert und in einen neuen Horizont stellt : Zum einen personalisiert er die Glaubenslehre, die er auf sich selbst, seinen Lebensweg in Diesseits und Jenseits bezieht, zum anderen interpretiert er sie neu und nimmt zuweilen eigenmächtig mutige Korrekturen vor. Gerade die Personalisierung und Neuinterpretation überlieferter Glaubensaussagen lassen die Göttliche Komödie auch heute für die Theologie fruchtbringend erscheinen.

Insofern lenkt die vorliegende Arbeit den Blick in erster Linie auf den personalen Aspekt der fiktiven Jenseitsreise Dantes. Theologie wird dabei unter dem Blickwinkel von Dantes existentieller Sichtweise (die individuellen Fragen und Nöte seines Lebens betreffend) erfahrbar. Hierbei begegnet dem Leser die dogmatische Theorie nur insofern, als deren Fragestellungen und Festlegungen in Zusammenhang mit dem Schicksal des Jenseitswanderers stehen und so lebendig werden. Dieses existentialtheologische Verständnis der DC fokussiert daher in der Terminologie P. Tillichs das, was Dante als Christen unbedingt angeht5. Das theologische Verständnis Dantes ist von seinem persönlichen Schicksal und den daraus sich ergebenden Fragen her zu interpretieren. Diese unmittelbare Betroffenheit lässt die eschatologische Vorstellungswelt in ihrer Relevanz nicht nur für Dante selbst, sondern für alle Christen deutlich werden (was Dante mit seiner Divina Commedia lehren will). Die Faszination der Divina Commedia liegt schließlich gerade in ihrer Anschaulichkeit. Damit ist sie für den Leser zugänglich und einsichtig. Er fühlt sich mit hineingenommen in das Imaginationsvermögen Dantes, da die existentiellen Fragen nach Schuld und Sühne, nach Sehnsucht und Zweifel, nach Vergebung und Liebe vor dem Hintergrund des eigenen Lebensschicksals Dantes und dem Weltbild seiner Zeit aufleuchten und in der DC einen literarischen Ausdruck finden, der bis heute an Faszination nicht verloren hat.

Für die theologische Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist Dantes Begegnung mit Beatrice von zentraler Bedeutung : Es geht um die Reflexion darüber, wie Beatrice Dante die Einsichtnahme in die drei Reiche des Jenseits ermöglicht, wie sie ihn als Geliebte, Heilige und Lehrerin der Gottesschau immer näher bringt. In diesem Sinn ist sie als jenseitige Weggefährtin Dantes zugleich Personifikation der Theologie, welche so als Beziehungsgeschehen aufgefasst wird. Um subjektive Bedeutung zu erlangen, bedarf die Theologie interpersonaler Begegnung. Auch die visio Gottes selbst ist eine solche, ja die letztlich einzig entscheidende.6 Oftmals aber sind es auch die Begegnungen mit anderen Menschen, die den Blick neu auf die Ewigkeit lenken, weil sie selbst ihr Leben darauf hin ausgerichtet haben. Für Beatrice gilt dies in besonderer Weise, da sie in Dante die Sehnsucht nach Erfüllung wachhält. Gerade weil sie bereits die diesseitige Welt verlassen hat, d. h. dort ist, wo die Hoffnung auf Vollendung in Erfüllung geht, vermag sie für Dante Wegbegleiterin zu Gott zu sein. Somit wird die Begegnung mit ihr im Diesseits wie im Jenseits (da es sich ja um die eine Beatrice handelt) zu Dantes persönlicher Glaubenserfahrung. Indem Beatrice in ihm die Sehnsucht nach vollendeter Liebe weckt, ist die Grundlage und das Leitmotiv der Jenseitsreise geschaffen. Sie selbst wird zur persönlichen theologischen Inspiration Dantes, da sie sowohl in ihrer Lehre als auch in ihrer Begegnung mit ihm diese Sehnsucht immer mehr entfacht, bis sie selbst zurücktritt in dem Moment, in dem Dante an das Ziel allen Lebens gelangt. Hier wird ihre Brückenfunktion, welche auch die Brückenfunktion aller Theologie ist, deutlich. Die Begegnung, welche auf Gott verweist, tritt zurück, wenn die Begegnung mit IHM selbst möglich wird. Theologie ist damit Brücke zu Gott ; für Dante allerdings nicht unabhängig von seinem persönlichen Schicksal, den eigenen Fragestellungen und individuellen Begegnungen.

1.2 Abgrenzung zu nichttheologischen Zugängen

Theologie als Wissenschaft über den Glauben setzt diesen immer auch schon voraus. Im Bereich der Dogmatik knüpft die Eschatologie an Aussagen aus der Schrift und der Tradition an, um Antworten auf heutige Fragestellungen zu finden. Dante selbst nimmt an zahlreichen Stellen Bezug auf Aussagen aus dem Alten und Neuen Testament sowie der Dogmengeschichte und ihrer Exponenten (allen voran Thomas von Aquin). Obgleich damit Theologie sich der eigenen Herkunft bzw. Tradition immer rückversichert und bestrebt ist, im Einklang mit ihr zu stehen, ist damit keineswegs einer bloßen Tradierung ihrer Inhalte das Wort geredet. Es gilt, den theologischen Gehalt gerade immer wieder neu zu überdenken und zu interpretieren, um den jeweils auch zeitbedingten Inhalt zu aktualisieren und neu zu akzentuieren.

Im Unterschied zu einer nichttheologischen Betrachtung von Dantes Werk spielen demnach innerhalb einer theologischen Perspektive die Glaubensinhalte selbst eine zentrale Rolle. Diese werden weder indifferent übergangen noch in ihrem – die Glaubenslehre der Kirche ausmachenden – Grundgehalt hinterfragt. Bei Dante kommen noch die Momente persönlicher Betroffenheit und existentieller Relevanz hinzu, welche ganz im Horizont des Glaubens stehen : Aus einer glaubensindifferenten Position heraus lässt sich daher die Göttliche Komödie nicht so verstehen, wie es ihr Autor intendierte. Eine theologische Betrachtung setzt mit Dante nicht nur die Existenz Gottes voraus, sondern teilt mit ihm die eschatologischen Eckdaten, die seine Jenseitswanderung strukturieren (formal wie inhaltlich). Diese ist nicht voraussetzungslos, sie ist gebunden an eine jenseitige, personale Fortexistenz nach dem Tode. Sie ist gebunden an die Möglichkeit ewiger Hoffnungslosigkeit, jenseitiger Läuterung und sehnsuchtsstillender Vollendung. Vor allem sind die personalen Begegnungen Schlüssel zu Dantes Werk – zu seiner Vorstellungswelt und seinem theologischen Verständnis. Der christliche Glaube ist damit Grundlage und Standpunkt der Divina Commedia.

Die theologische Abgrenzung zu romanistischen oder mediävistischen Fragestellungen und Zugängen zu Dante besteht daher in der Glaubensvoraussetzung Ersterer, die Letztere bewusst ausklammern. Die Veröffentlichungen im philologischen Bereich kommen zwar ebenso wenig wie die der mittelalterlichen Geschichtsforschung um den theologischen Verständnisrahmen der Anschauungswelt Dantes herum, um sein Werk überhaupt aus sich heraus reflektieren zu können, der Zugang selbst bleibt allerdings frei von einem persönlichen Glaubensstandpunkt des Reflektierenden. Dante selbst aber weist diesen Standpunkt auf ; der Dichter und sein Werk können theologisch-neutral von außen analysiert werden, sie sind damit aber von innen heraus nur bedingt verstanden. Für Dante war der christliche Horizont nicht bloß eine Möglichkeit, seine Sichtweise der Politik und seine eigene persönliche Verflochtenheit darin darzustellen, vielmehr ist es diese christliche Sicht, die ihm seine Rolle, sein Schicksal erst verständlich macht. Dante nachzuvollziehen, verlangt daher auch seine theologische Einbettung, die eben nicht dem Glauben gegenüber indifferent ist, sondern ihn immer schon (auch bei allem Zweifel, aber doch persönlicher Auseinandersetzung und Aneignung) voraussetzt. Mit Dante den Glauben an Gott teilen, der die Welt lenkt und ihr Zielpunkt ist, bedeutet zumindest die Einladung, seine persönliche Erfahrung nicht nur irgendwie nachzuvollziehen, sondern sich persönlich darauf einzulassen.7

1.3 Aufriss der Interpretationsmöglichkeiten der Bedeutung Beatricens

E. Gilson spricht von der »philosophischen Eigenständigkeit«8 Dantes, was in gleichem Maß für sein theologisches Verständnis gilt. Daher verbietet sich eine voreilige Vereinnahmung (auch eine theologische) der Göttlichen Komödie, welche das Werk und seine Intention womöglich entstellt bzw. es absichtlich verfälschend interpretiert. Gilson verweist kritisch auf Pierre Mandonnet, der eine theologische Deutungshoheit für Beatrice einfordert und sie als Symbol der christlichen Offenbarung ansieht.9 Gegenüber Mandonnet hebt Gilson hervor, dass Beatrice zunächst die Frau ist, der Dante in Florenz begegnete und nicht von vornherein als Symbol für Philosophie (als irdische Beatrice) und Theologie (als himmlische Beatrice) angesehen werden kann.10 Die irdisch-zwischenmenschliche Erfahrung motiviert Dante, der darin zum Ausbruch kommenden Sehnsucht auch philosophisch nachzugehen, dabei aber stets an Ersterer festzuhalten. Daher ist es nach Gilson »nicht richtig, daß Dante seine Liebe zur Philosophie so geschildert hat, als ob sie den Tod seiner Liebe für Beatrice verursacht hätte. Im Gegenteil : er stellt fest, daß die Fortdauer seiner Liebe für Beatrice ihn zur Lektüre und zum Studium geführt hat, woraus dann seine Liebe zur Philosophie entsprang.«11 Gilson verdeutlicht dies im Verweis auf die Vita Nuova und das Convivio, für die Divina Commedia ist dabei auch eine Liebe zur Theologie bemerkbar.12 Dabei tritt die historische Bice Portinari ganz zurück und ist deshalb in der Poesie Dantes nicht mehr rekonstruierbar.13 Dennoch ist Dantes Werk an irdisch-zwischenmenschliche Erfahrungen gebunden und nur von dort her zu verstehen. Der Sitz im Leben Dantes ist seine Erfahrung der Liebe zu Beatrice derart, »daß die Liebe zu Beatrice in Dantes Leben eine in sich vollständige Ordnung der Gefühle darstellt, die sich selbst genügt und alle notwendigen Elemente nicht nur für ihre Existenz, sondern auch zu ihrer Rechtfertigung in sich enthält.«14 Um die Rolle Beatricens in der DC zu verstehen, muss ihre Existenz als irdische Frau, welcher Dante begegnete, vorausgesetzt werden und bleibt Konstitutiv für alles, was über sie und von ihr im Werk selbst ausgesagt ist.15 Beatrice ist nach Gilson »die Schöpfung eines Künstlers, über die wir nichts wissen und auch nichts wissen können, außer was wir von diesem Künstler wissen, und die wir unmöglich in ihrer Wahrheit erfassen können, es sei denn in ihrem Wesen als Kunstwerk […]. Man täuscht sich dagegen unweigerlich, wenn man die Erklärung eines Kunstwerkes anderswo als in ihm selbst sucht und bestrebt ist, es im Licht einer Ordnung zu beleuchten, der es gar nicht angehört.«16 Die Bedeutung Beatricens nur innerhalb ihres poetischen Auftritts zu suchen – wie Gilson fordert – verweist aber umso mehr auf die Notwendigkeit ihrer Interpretation.

Die vorliegende Arbeit stellt sich dem Kriterium Gilsons : »Die einzige Beatrice, die für den Interpreten Dantes existiert, ist die, welche er in Dantes Werken findet, und dort müssen wir sie auch suchen.«17 Beatrice als Dantes persönlicher Zugang zu theologischer Einsichtnahme zu deuten, verlangt, ihre Rolle in Leben und Werk Dantes, ihre Bedeutung in der Jenseitswanderung daraufhin in den Blick zu nehmen. Die religiöse Dimension der Commedia kommt gerade durch den Auftritt Beatricens als Ermöglicherin des Aufstieges zu Gott zum Ausdruck : »Soweit sie ein Akt und ein Werk im Leben Dantes ist, erscheint die Göttliche Komödie sicherlich an die Geschichte seines eigenen religiösen Lebens gebunden […]. Es ist die gelebte Tragödie eines Christen zwischen Verdammnis und Heil, der erschütternd nach Rettung sich ausstreckende Arm eines Ertrinkenden […]. Allein Beatrice konnte diese Hand ausstrecken.«18 Beatrice muss auf Dante zugehen, da es diesem selbst nicht gelingt, den richtigen Lebensweg einzuschlagen (Inf. II). Gilson betont, dass sie bereits in der Vita Nuova mit einem religiösen Symbolismus19 bekleidet wird, der sich wiederum vielfach deuten und ausgestalten lässt.

So erstrahlt in Beatrice auch die Gnade Gottes, die es Dante ermöglicht, von Himmelssphäre zu Himmelssphäre zu steigen. Sie steht in erster Linie nicht für eine abstrakt-inhaltliche, theologische Vermittlung der Kirchenlehre, vielmehr leuchtet in der persönlichen Begegnung die Erfahrung der Wirkmächtigkeit Gottes auf.

Auch nach Gilson deuten verschiedene Kommentatoren Beatrice als Allegorie der Theologie.20 Eine Auseinandersetzung mit dieser Festlegung bietet u. a. Florian Mehltretter21. Er führt zunächst Antonio Mastrobuono22 an, der Beatrice Gnadenvermittlung zuschreibt, aber eine Allegorese ausschließt ; sie vermittelt demnach Gnade, ist aber selbst keine Gnade bzw. steht nicht für die Gnade. Ebenso verwische ihre Gleichsetzung mit der Theologie ihre historische Gestalt. So schreibt Mehltretter : »Sie ist nicht eine namenlose ›Dame Theologie‹, sondern Beatrice.«23 Nach ihm lässt sich Beatrice am ehesten der Kirche zuordnen, nicht der Theologie oder der Gnade. Kirche (ecclesia) versteht er dabei als einen »Begriff für ›Kirche‹«, der »nicht so sehr auf eine gesellschaftliche Organisationsform zu kultischen Zwecken als auf das Gottesvolk, die Gemeinschaft der Liebe und letztlich die Menschheit überhaupt zielt, soweit sie sich für Gott entscheidet.«24 Die Frage nach dem Kirchenverständnis Dantes in der DC wird dabei allerdings ebenso ausgeblendet wie die Begründung ausbleibt, weshalb dieser Kirchenbegriff alternativ und anspruchsvoller ist, als die Kirche womöglich sich selbst sieht und definiert. Da Beatrice im irdischen Paradies auf dem Wagen der Kirche steht (vom Greif als Christussymbol gezogen), kommt Mehltretter zu dem Schluss : »Das Beatrice-Erlebnis ist für Dante das Seligkeitserlebnis, es ist der Sinn der Ecclesia als einer Gemeinschaft der caritas. Das irdische Paradies ist ein symbolischer Ort dieses Liebesglücks […]. Die Ecclesia auf dem Wagen ist also der mystische Leib Christi, das Symbol des Greifen, der die Kirche zieht, steht in diesem Zusammenhang für die Hauptschaft Christi […]. Eine Auffassung Beatricens als pars pro toto der idealen Ecclesia ist mit dem Problem der Personenallegorie gar nicht konfrontiert, und ein Rückgriff auf die Konzeption der figura ist hier ebenfalls unnötig […]. Diese synekdochische Deutung Beatricens (und damit die Vermeidung der Personenallegorie) funktioniert im Rahmen der überkommenen Beatrice-Deutungen aber ganz offenbar nur für die Ecclesia, nicht für die Theologie, die Heilige Schrift, die Offenbarung oder die Gnade, denn wie sollte Beatrice ein Teil dieser Entitäten sein ? […] Beatrice ist ›historisch‹ die Jugendliebe ›Dantes‹, synekdochisch die Ecclesia (die selbst auch Weisheit ist und Theologie in sich begreift), als Ecclesia ist sie mystisch Leib Christi, figural Christus venturus, moralisch steht sie für die Gemeinschaft der caritas, um die sich ›Dante‹ und jeder Mensch im Leben bemühen muß, anagogisch verheißt sie die Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen. Aber sie kann all dies nur sein, wenn sie ›Dantes‹ Beatrice bleibt.«25

Fernab aller Zuordnungen (Beatrice als Gnade, Kirche, Theologie etc.) wird die Vielschichtigkeit und notwendige plurale Sicht deutlich, die sich einer singularen Festlegung verschließt.26 Beatricens Stellung für das Ganze der DC als Aufstieg Dantes zu Gott ist daher aus diesem selbst heraus zu erschließen, denn der Vorgang »ist ganz mit der Person Beatricens verbunden. Alles ist auf sie bezogen […]. So bildet der Fortgang der Göttlichen Komödie zugleich die Entfaltung dessen, was Beatrice ist.«27 Nicht die Theologie diktiert dabei, wer Beatrice zu sein oder was sie zu sagen hat, sie selbst verleiht vielmehr der theologischen Lehre Verkörperung und damit für Dante Bedeutung, sodass sie theologische Wahrheit lebendig werden lässt. In der Göttlichen Komödie verbinden sich Theologie und Beatrice derart, dass sie sich für Dante gegenseitig erhellen. Dadurch gewinnt Theologie gerade in der personalen Begegnung ihre entscheidende Einsicht in das Geheimnis Gottes. So stellt Beatrice als Verstorbene für Dante die Möglichkeit dar, ihr weiterhin zu begegnen, sich an ihr zu inspirieren. Theologie wird so zum Fundament, Beatricens Dasein als Selige für Dante neu und persönlich zugänglich zu machen. Beatrice wiederum veranschaulicht in ihrer Person die Dynamik theologischer Wahrheitssuche. Dabei geht Theologie ebenso wenig in Beatrice auf, wie sie in der Theologie.28 Umgekehrt gewinnen beide voneinander, indem sie sich gegenseitig interpretieren. Beatrice wird zum Schlüssel eines auf interpersonale Begegnung aufbauenden, modernen Theologieverständnisses. Theologie wird zur Bedingung, die Begegnung mit Beatrice nicht nur weiterhin zu ermöglichen, sie vielmehr sogar bis zur visio Gottes29 zu steigern.

1.4 Die Divina Commedia im Horizont aktueller theologischer Fragestellungen30

Ein zentrales Moment des eschatologischen Diskurses ist seine Rückgebundenheit an die Christologie. Weniger die Ekklesiologie ist damit Erklärungsgrundlage (und Bedingungsgrundlage) für das, was nach dem Tod im Jenseits auf den Einzelnen zukommt, vielmehr die Verheißungen Jesu und seine eigene Auferstehung. Während in früheren dogmatischen Lehrbüchern noch verschärft auf die Relevanz der Kirchenzugehörigkeit, Kirchenbindung und Kirchengefolgschaft (Gehorsam ihr gegenüber) für das Seelenheil hingewiesen wurde, lässt sich diese exklusive Sichtweise so nicht mehr aufrechterhalten. Die Christozentrik der Eschatologie wird auch in der Göttlichen Komödie in Dantes Schilderung der visio Dei deutlich. Obgleich kirchliche Vermittlung (etwa in den Sakramenten und deren Heilszusage) in seinem Werk eine Rolle spielt, so ist der Finalisationspunkt der Jenseitswanderung doch eindeutig Christus – als menschliches Antlitz in der Dreieinigkeit Gottes. Die Christofinalität und die damit erwartete Christusbegegnung des einzelnen Lebens markiert Dante als Inbegriff ewigen Heils.31 Die Kirche selbst lebt als Gemeinschaft fort, lässt aber (wie Beatrice) in der Seligkeit alle Vermittlungsfunktion hinter sich.

Der Gemeinschaftsaspekt der Heiligen (communio sanctorum) existiert nicht nur als theoretische Behauptung, er gewinnt im Paradies Anschaulichkeit, wird lebendig. Der Himmel lebt von der freundlichen Atmosphäre der geschilderten Begegnungen.32 Diese bilden das Grundgerüst der Jenseitsreise Dantes. Im Infernum hingegen kann von einer positiven Gemeinschaft keine Rede sein. Begegnung als Notwendigkeit und Möglichkeit, den Glauben neu zu erschließen, wird bei Dante zum Leitmotiv jenseitiger Erklärung für alles, was im Diesseits noch verwirrt und ungeklärt bleiben muss. In der Begegnung klären sich die Fragen, nicht in der theoretischen Definition, einem definierten Lehrsatz. Diese setzt Dante zwar voraus, interpretiert sie allerdings nun in der Sprache persönlicher Begegnung und eigener Betroffenheit. Dadurch gewinnt die Lehre in der Begegnung erst Verständnis, wird existentiell bedeutsam. Dantes ›Theologie der Begegnung‹ weist damit eine Nähe zu aktuellen theologischen Überlegungen auf, welche eine Rückbindung der Theorie an die Praxis und ihren interpersonalen Gehalt anzielen.33

Ein weiterer Aspekt gegenwärtiger Theologie ist die Sichtweise des Spannungsgefüges der jesuanischen Botschaft vom Reich Gottes im NT, welches bereits im Diesseits anhebt, dennoch darüber hinaus weist und auch dem Tod nicht das letzte Wort (und damit das mögliche Scheitern dieser Verheißung) zugestehen will. In dieser Spannung des ›Schon-und-noch-nicht‹ befindet sich Dante selbst. Als Lebender und dennoch im Jenseits sich Befindender personifiziert er geradezu diese Spannung. Er weiß, dass er nach seiner Jenseitsreise wieder auf die Erde zurückkehren muss, er erfährt hier, was ihn dort noch erwartet. Zugleich ist er ganz in der eschatologischen Wirklichkeit unterwegs, muss das Sühneleiden der Läuterung teilweise selbst ertragen und kann die empfundene Herrlichkeit im Paradies kaum mit den Worten und Vergleichen des irdischen Lebens wiedergeben. Dante verweist hierbei auf einen wesentlichen Aspekt des christlichen Lebens selbst : das Stehen im Diesseits mit allen Konsequenzen, bei gleichzeitiger Hoffnung auf eine Fortexistenz nach dem Tode, welche alle irdisch nicht erfüllbare Sehnsucht aufgreift und vor dem Hintergrund dieser christlichen Verheißung zu deuten sucht. Der Christ lebt daher in der Welt mit Erwartungen, die über diese hinausgehen. Andererseits kann er seine Lebenswirklichkeit aus diesen eschatologischen Erwartungen heraus deuten. Die jenseitige Verheißung hält die Sehnsucht wach und hindert daran, dass Enttäuschung und Ernüchterung in dieser Welt den Glauben an das Leben selbst und den Wert der eigenen Existenz letztlich untergraben. In dieser Perspektive der Ewigkeit ist dann alles aufgehoben, was im zeitlichen Leben fehlläuft oder an Gutem verhindert wird. So kommt Dante mit einer doppelten Botschaft von seiner Jenseitsreise zurück : dem klaren Hinweis, wie ernst dieses irdische Leben ist (mit seinen bleibenden Konsequenzen) und zugleich, dass die Menschen es nicht zu wichtig nehmen sollen im Vergleich zu dem, was sie erst noch erwartet bzw. was sie erwarten dürfen. Diese Spannung charakterisiert eine christliche Weltsicht, die deswegen im Diesseits aufgehen kann, weil sie weiß, dass dieses nur Vorletztes enthält. Ein vom Jenseits immer schon umgriffenes Diesseits verliert seine vermeintlich letztentscheidende Ernsthaftigkeit ; Leid und Tod ist der Stachel genommen.34

Obgleich neuere theologische Fragestellungen wie die Theorie des Ganztodes oder der ›Auferstehung im Tode‹35 in der DC verständlicherweise kein Thema sind, so gibt Dante doch seinerseits indirekt Antwort auf deren Ausgangsproblem. Die eschatologische Leib-Seele-Problematik, die Annahme einer Auferstehung des Leibes am Ende aller Zeiten verbunden mit einem Zwischenzustand der Seele ohne ihren Leib, umgeht er, indem er einen quasi-leiblichen Zustand mit quasi-leiblichen Erfahrungsmöglichkeiten annimmt.36 Gerade in Infernum und Purgatorium, dort also, wo die Gottferne schmerzlich empfunden wird, rückt eine plastische Präsenz der jeweils Verstorbenen in den Vordergrund, welche die Begegnung untereinander und mit Dante (der ja als noch nicht Gestorbener seinen Schattenleib mit hineinbringt in diese Erfahrungswelt und dadurch als noch Lebender erkennbar für die bereits Verstorbenen wird) erst ermöglicht. Wenn auch eine Auferstehung des Leibes am Jüngsten Tag explizit vorausgesetzt wird, so ist doch das Problem einer leiblosen Seele gelöst, indem nicht nur eine formale Verwiesenheit im Raum steht, sondern von einer Erfahrungs- und Begegnungsmöglichkeit ausgegangen wird, welche auf der je eigenen, in den Tod mit hineingenommenen Personalität und Individualität aufbaut. Die anima separata als Seele ohne leibliches Moment interpretiert Dante als auf ihren Leib hingeordnete Person, die gerade aufgrund dieser bleibenden Verwiesenheit schon vor der Auferstehung des Leibes quasi-leiblich erscheinen muss, soll Begegnung und Erfahrung im Jenseits überhaupt möglich sein, womit gerade diese personale Hinordnung auf die leibliche Auferstehung sichtbar und deutlich wird. Der auf Seiten von Theologen kritisierten Abstraktheit einer leiblosen Seele, ihrer vermeintlichen Geschichtslosigkeit, begegnet Dante mit der Vorstellung Verstorbener, die ihre Lebensgeschichte mit hineinnehmen in den Tod, deren Leben schließlich ihren Tod ausmachen, deren Diesseits ihre Befindlichkeit und Konkretheit im Jenseits bedingen. Hierbei lässt sich die Frage stellen, ob das Ausgangsproblem37 der Überlegung einer ›Auferstehung im Tode‹ für den Christen historisch solange gar keines darstellte, als er von Vorstellungen geprägt war, die sich wie bei Dante an diesseitigen Erfahrungen bewusst festmachen, da nur in dieser Analogie überhaupt veranschaulicht werden kann, was letztlich niemals mit der diesseitigen Vorstellungswelt beschreibbar ist. Empirisch lässt sich die Jenseitswirklichkeit nicht festmachen ; die auf der Empirie und der physiologischbedingten Wahrnehmung beruhende Erlebniswelt des Menschen ist aber einziger Standpunkt, von dem her das Jenseits selbst vorstellbar werden kann.38 Die Vorstellung einer ›Auferstehung im Tode‹ lässt die Auferweckung mit Leib und Seele und die Geschehnisse des ›Jüngsten Tages‹ mit dem eigenen Tod zusammenfallen, womit sie dem individuellen Problem eines körperlosen Zwischenzustandes der Seele entgegentreten will. Es gibt dann keine Zeit zwischen Tod und Jüngstem Gericht, das Purgatorium als Zwischenzeit entfällt, Tod und Parusie koinzidieren.39 Letztlich geht es hierbei um den Aspekt der Zeit und die Annahme einer Gleichzeitigkeit aller Ereignisse in der Ewigkeit.40 Ewiges Leben ist allerdings nicht mit der diesseitigen Zeitlichkeit zu vergleichen. Insofern ist die Vorstellung einer eschatologischen Gleichzeitigkeit, in der jenseitige Erfahrung wie in einem einzigen Moment abläuft, der immer nur als aktueller zu verstehen ist, ein Anhaltspunkt, dieser sich verbietenden Übertragung des Diesseits auf das Jenseits zu begegnen.41 Allerdings wird auch hier der Rahmen eines analogen Zuganges nicht verlassen.42 Gleichzeitigkeit und momentane Aktualität heben ebenso in der Vorstellungswelt des irdischen Lebens an, wie die Überlegung eines Zwischenstandes oder einer Jenseitswanderung in der Ewigkeit.43

Wenn individuelle und allgemeine Auferstehung zusammenfallen (was hinsichtlich der Zeitlosigkeit der Ewigkeit bzw. des lediglich analogen Verstehens jenseitiger Abläufe ausgehend von diesseitigem Zeitverständnis durchaus reflektiert werden kann), so bleibt doch die Frage nach der Gemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen damit virulent. Die Verbundenheit von Lebenden und Toten beruht ja auf der Vorstellung einer aktuellen Möglichkeit der Gemeinschaft.44 Auf dieses Problem verweist Bertram Stubenrauch, indem er im Blick auf die Theorie der ›Auferstehung im Tode‹ schreibt : »Im Grunde genommen aber gäbe es – für den Toten – gar keine Hinterbliebenen mehr. Diese wären bereits wie er selbst in die große Versammlung vor Gottes Richterstuhl einbezogen ; in sie hinein auferstehend träfe jeder sofort wieder auf die Angehörigen und Freunde. Aber sie trauern nun einmal am Totenbett. Dort müssten sie allerdings davon ausgehen, dass der soeben Verstorbene im selben Augenblick mit ihnen zusammen vor Gott steht – die Sache wird spätestens jetzt unannehmbar kompliziert.«45 Da die Perspektive der Ewigkeit immer eine aus dem Diesseits (wenn auch analog) konstruierte ist, steht auch die Theorie einer ›Auferstehung im Tod‹ unter eschatologischem Vorbehalt.46

Dante setzt – im Gegensatz zur Ganztodtheorie47 – die Unsterblichkeit der Seele ebenso voraus wie die noch kommende, allgemeine Auferstehung. Diese Trennung von individueller und allgemeiner Auferstehung erweist sich als Grundlage des gläubigen Vollzugs der Verbundenheit von Lebenden und Toten (etwa im Gebet).48 Für ihn stellt die vorausgesetzte, bleibende Hingeordnetheit der ganzen Schöpfung wie jedes Einzelnen (Lebender und Verstorbener) auf eine universale Vollendung durch den wiederkehrenden Herrn am Ende der Zeit kein Problem dar.

Auch die Vorstellung einer Endentscheidungshypothese49, wonach der Verstorbene im Augenblick seines Todes einen Moment ausgezeichneter Freiheit erfährt und deshalb seine Entscheidung für (oder gegen) Gott allein in diesem Moment für seine jenseitige Fortexistenz ausschlaggebend trifft, findet in der Divina Commedia keine Anhaltspunkte. Im Gegensatz dazu wird die Einmaligkeit und bleibende Verantwortung für das irdische Leben betont.50 Das Leben im Jenseits ist Folge der Lebensführung im Diesseits. In der Endentscheidungshypothese hingegen findet eine Relativierung des individuellen Lebens statt : »Der Augenblick des Todes wird überfrachtet, die konkreten Bedingungen des Menschseins in Raum und Zeit unterbewertet.«51 Andererseits wird mit der Endentscheidungshypothese auch die Sichtweise relativiert, dass christliche Hoffnung eine Antwort auf die Ungerechtigkeit in der Welt ist. Gerade aus dieser Hoffnung heraus speist sich jedoch die Notwendigkeit, im Hier und Jetzt bereits umzudenken. Das Jenseits als Konsequenz diesseitiger Lebensführung impliziert eine moralische Handlungsaufforderung. Für alle, die trotz oder aufgrund ihres Glaubens und ihrer guten Lebensführung Benachteiligung und Unterdrückung erfahren, bietet der christliche Jenseitsglaube Trost und Zuversicht (ohne damit bereits ein Urteil über vermeintliche Böse zu fällen).52

Mit der Göttlichen Komödie bleibt die Theologie allerdings bewusst in der Analogie verhaftet. Dante nimmt die Analogie als Mittel zur Hand, um daraus seine Bilderwelt des Jenseits zu gestalten. Theologische Vorbehalte sind daher allerdings umso notwendiger an das Werk zu stellen.53 Das Selbstbewusstsein des Jenseitspilgers könnte ansonsten dazu verleiten, seine Fiktion als die richtige Glaubensposition anzusehen. Er sieht darin weniger Gefahr und Verzerrung als vielmehr Möglichkeit und Werkzeug.

1.5 Dantes Divina Commedia als Anregung, Theologie existentiell als Beziehungsgeschehen zu verstehen

Im Gegensatz zur Religionsphilosophie setzt die Theologie den Glauben der Kirche nicht nur in seiner Gegebenheit, vielmehr in seiner Wahrheit voraus. So gesehen ist der Theologe nicht vorurteilsfrei, seine Wissenschaftlichkeit ist eingebettet in den Glauben der Kirche. Dieser Glaube ist ihm aber nicht einfach vorgegeben, vielmehr gilt im dialektischen Miteinander, dass die Theologie dem Glauben der Kirche (in Schrift, Tradition und Lehramt) verpflichtet ist, der Glaube aber wiederum von der Theologie Interpretation, Vertiefung und Erweiterung in dem Bemühen um seine jeweilige Aktualisierung erfährt. Die Lebendigkeit des Glaubens (in ihrer Vorfindlichkeit und in ihrem Ideal) ist dabei Motivation der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten und -formen. Es entspricht dem Selbstverständnis von Theologie, dass sie sich nicht nur bewusst dem naturwissenschaftlichen Kriterium einer möglichen Falsifizierbarkeit ihrer Untersuchungsgegenstände entzieht, sondern zudem Voraussetzungen aufweist, die auch anderen hermeneutischen Wissenschaften fremd sind.