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Hans-Joachim Höhn

Praxis des Evangeliums
Partituren des Glaubens

Wege theologischer Erkenntnis

Hans-Joachim Höhn

Praxis des Evangeliums
Partituren des Glaubens

Wege theologischer Erkenntnis

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2015

Gestaltung: Hain-Team (www.hain-team.de)

Vorwort

Wer zur theologischen Zunft gehört, muss hart im Nehmen sein. Ihre Reputation steht nicht immer und überall zum Besten. Häufig wird Kritik ausgeteilt, manchmal auch Spott: „Theologie ist jene Wissenschaft, die sich mit Problemen beschäftigt, die wir ohne sie nicht hätten!“ Hinter dieser ironischen Feststellung verbirgt sich aber auch ein Kompliment. Denn es wird der Theologie attestiert, dass sie leistet, was von jeder Wissenschaft erwartet wird. Sie ist wie die anderen Disziplinen dazu da, Probleme zu lösen, die zwar präsent, aber oft nicht bewusst sind. Wird auf sie frühzeitig aufmerksam gemacht, ersparen sie bei rechtzeitiger Lösung die mühsame Beschäftigung mit Folgeproblemen.

Problementsorgung und Problemersparnis sind auch Erwartungen an theologische Forschung und Lehre. Auf Problemerzeugungen reagiert man hingegen irritiert. Viele Studierende möchten in dem, was sie glauben, professionell und professoral bestätigt werden. Anfechtungen gibt es genug. Im Studium erwarten sie eine Bestärkung des Glaubens – und keine Provokation durch Zweifel und Kritik. Die willfährige Erfüllung dieser Erwartung bedeutet aber das Ende jeder Theologie als Wissenschaft. Sie darf es ihren Adressaten nicht ersparen wollen, sich jenen Problemen zu stellen, welche Zweifel und Kritik am Glauben provozieren. Andernfalls betreibt sie das Geschäft der frommen Ignoranz. Eine solche intellektuelle Bequemlichkeit kommt dem Glauben nicht zugute, sondern vermehrt seine Probleme. Gerade verdrängte Probleme machen auf Dauer die größten Schwierigkeiten.

Zu den häufig verdrängten Herausforderungen gehören jene Fragen, die im Rahmen einer theologischen „Epistemologie“ zu erörtern sind. Was mit diesem Fremdwort bezeichnet wird, ist zunächst nicht ein Thema weltabgehobener Gelehrter, die sich mit wissenschaftstheoretischen Problemen beschäftigen. Um was es hier geht, begegnet bereits in der Alltagskommunikation. Werden wir von jemandem mit Behauptungen konfrontiert, die nicht unmittelbar plausibel sind, reagieren wir mit Fragen, die sämtlich von erkenntnistheoretischer Tragweite sind: „Wie kommst du denn darauf?“ – „Wie kommst du überhaupt dazu?“ – „Woher weißt du das eigentlich?“ – „Bist du dir dessen so sicher?“ – „Kannst du mir das auch beweisen?“ In diesen Fragen geht es um

– den konkreten Anlass, bestimmte Behauptungen vorzutragen;

– die Berechtigung, jemanden mit bestimmten Behauptungen zu konfrontieren;

– die Verlässlichkeit der Quellen und die Stringenz der Herleitung von behaupteten Einsichten;

– die Zweifel an der Schlüssigkeit von Begründungen;

– die Kriterien und Methoden zur Etablierung und Überprüfung von Begründungsverfahren.

Es müssen keineswegs akademische Zusammenhänge sein, in denen solche Fragen auch im Blick auf Themen des christlichen Glaubens aufkommen. Um die eingespielte Routine in der Glaubenspraxis zu irritieren, genügen oft kleine Anlässe. Bisweilen führen auch übergangene, von frommen Christen für unbotmäßig gehaltene Einsprüche zu Zweifeln an bisher grundlegenden Ansichten:

– Die Bibel mag eine erste Quelle für das Reden von Gott sein, aber was macht sie eigentlich zur „Heiligen Schrift“?

– Auf welchen Wegen lässt sich sicherstellen, dass man tatsächlich der authentischen Botschaft des Evangeliums begegnet und nicht Übermalungen, Entstellungen und Verzerrungen, die im Lauf der Zeit entstanden sind?

– Kann es wirklich Glaubensaussagen geben, die für alle Zeiten gültig sind, oder braucht nicht jede Zeit das ihr gemäße Glaubenszeugnis – in Theorie und Praxis?

– Mit welchem Recht beanspruchen bestimmte Amtsträger in der Kirche ein letztes, unfehlbares Wort über strittige Themen und überlassen es nicht dem Diskurs der Fachleute, die vielleicht zu dem Konsens kommen, dass es bei bestimmten Themen gar keine letzten Worte geben kann?

Werden diese Fragen mit den traditionellen Antworten versehen, wie sie etwa der „Katechismus der Katholischen Kirche“ (1997/2003) oder etablierte theologische Lehrbücher bieten, stellen sie die Fragesteller oft nicht zufrieden. Denn sie sind nicht nur am Wortlaut der traditionellen Antworten interessiert, sondern erwarten auch Aufklärung darüber, wie man zu den traditionellen Antworten gekommen ist und inwiefern diese immer noch Geltung beanspruchen können. Es kann aber sein, dass auch die darauf erteilten – meist theologiegeschichtlich angelegten – Auskünfte nicht überzeugen. In diesem Fall müssen neue Formen und Formate der Herleitung von Glaubensaussagen aus den Quellen des Glaubens entwickelt – und vielleicht auch neue Brunnen gebohrt werden.

Von einer sach- und zeitgemäßen Theologie darf man erwarten, dass sie bewährte Wege absichert, auf denen man dazu kommt, die Inhalte des christlichen Glaubens für rational vertretbar, existenziell verlässlich und sozio-kulturell vermittelbar zu halten. Sie muss aber immer auch neue Routen erkunden, um ans Ziel zu gelangen – vor allem dann, wenn die alten Pfade nicht mehr gangbar sind. Im Folgenden werden einige Wege zu den Quellen des Glaubens, zu den Orten seiner Praxis und zu den Kontexten seiner Verantwortung vorgestellt. Dabei handelt es sich um die Beschreibung von Routen, auf denen ich seit etlichen Jahren in der Theologie unterwegs bin und von denen ich überzeugt bin, dass es sich lohnt, sie weiter auszubauen. Diese Erkenntniswege sind gewiss nicht alternativlos. Für einzelne Streckenabschnitte kann man sich auch auf andere Routenplaner verlassen. Auf einigen Etappen habe ich Schnellstraßen und Abkürzungen genutzt, die andere angelegt haben, um zügig voranzukommen. Gelegentlich führt mein Kurs auch über Kreuzungen und Abzweigungen und ermöglicht Richtungsänderungen. Natürlich würde es mich freuen, wenn möglichst viele Leser / innen davon nicht Gebrauch machen. Denn dabei ist nur wenig zu gewinnen. Wer auf halber Strecke umkehrt, ist genauso lange unterwegs wie jene, die den Weg bis zum Ziel fortsetzen. Vielleicht sind die letzten Etappen besonders herausfordernd und beschwerlich. Bisweilen fehlen die Leitplanken oder die Markierung von Fahrstreifen. Und mit riskanten Manövern des Gegenverkehrs ist ebenfalls zu rechnen. Allerdings haben diese Abschnitte auch einen Vorteil. Hier gibt es für das eigene theologische Vorankommen keine Schilder mit Geschwindigkeitsbegrenzung.

Solchermaßen vorgewarnt und ermutigt soll ein letztes Mal die Weg-Metaphorik strapaziert werden: Auf geht’s!

Köln, im Januar 2015

Hans-Joachim Höhn

Inhalt

I.   Einstieg: Die Intelligenz des Glaubens

§ 1 Vermutungen:
Glaube als Defizitwissen?

§ 2 Distanzierungen:
Sich Gott zuwenden – abseits des Menschen?

1. Religiöse Vertikalorientierungen:
Nach Höherem streben – Gott finden?

2. Das Unterste zuoberst:
Die wohltuende AnArchie des Evangeliums

II.  Koordinaten: Theologie – Theorie welcher Praxis?

§ 3 First things first!
Praxis und Reflexion des Glaubens

§ 4 Form follows function!
Maß und Ziel theologischer Reflexion

1. Gottes Selbst- und Weltverhältnis:
Übersetzung als Grundprinzip christlicher Theologie

2. Wort Gottes – maßgeblicher Maßstab:
Schöpfung und Offenbarung als Sprachereignis

3. Partituren des Glaubens:
Evangelium – Tradition – Bekenntnis

3.1. Heilige Schrift:
Den Glauben bezeugen

3.2. Tradition:
Das Zeugnis des Glaubens übersetzen

3.3. Dogma und Lehramt:
In der Übersetzung des Glaubens übereinstimmen

3.4. Regula fidei – consensus fidelium:
Sich der Übereinstimmung im Glauben vergewissern

§ 5 Keine Alleingänge! Orientierung im Glauben an der Vernunft

III. Konstellationen: Vernunft und Glaube

§ 6 Glauben – Hoffen – Lieben:
Wozu Theologie?

§ 7 Theologie im Dienst des Glaubens:
Wissenschaft oder hölzernes Eisen?

1. Theologie und Wissenschaft:
Kritische Selbstreflexion

2. Theologie und Kirche:
Nähe und Distanz

3. Theologie und „Gott“:
Begriffe vom Unbegreifbaren?

§ 8 Theologie im Diskurs mit der Philosophie:
Glaube – das vernunftgemäße Andere der Vernunft?

1. Umstrittene Instanz:
Die Vernunft der Kritik und die Kritik der Vernunft

2. Kritische Distanz:
Wider eine Vermischung von Vernunft und Glaube

2.1. Unter dem Anspruch der Vernunft:
Kriterien und Formate rationalen Handelns

2.2. Unter dem Zuspruch des Evangeliums:
Basis und Eigenart des christlichen Glaubens

3. Kritische Nähe:
Wider eine Trennung von Glaube und Vernunft

3.1. Entdeckungen:
Sinn – Wert – Sein

3.2. Einstellungen:
Sollen – Wollen – Können

3.3. Erwartungen:
Moral – Zeit – Transzendenz

4. Auf Bewährung:
Postulat der Vernunft – Praxis des Glaubens

IV. Kontraste: Theologie und intellektuelle Redlichkeit

§ 9 Diskursive Theologie:
Vom Bezeugen zum Überzeugen

1. Auf dem Prüfstand der Vernunft:
Glaube im Diskurs

2. Verantwortung des Glaubens:
Ausschluss von Fideismus und Rationalismus

§ 10 Defensive Theologie:
Im Zweifel gegen den Zweifel?

1. Apologie des Glaubens:
Beweislastverteilung zu Lasten der Glaubenskritik?

2. Mangelhafte Apologetik:
Reformbedarf der „Reformed Epistemology“

V. Transformationen: Theologie – mit allen Sinnen

§ 11 Vom cultural turn zum sensual turn:
Wendepunkte der Theologie

1. Vom Sagen zum Zeigen:
Kultur verstehen

2. Vom Hören und Sehen:
Theologische Entdeckungen

§ 12 Die Sinne und der Sinn:
Theologische Spurenlese

1. Sinnübertragung:
Hermeneutik und Metaphorik der Sinne

2. Resonanzen:
Einstellung – Stimmung – Atmosphäre

3. Inszenierungen:
Sinnenhafter Sinn – sinnlicher Glaube?

§ 13 Zeichen setzen – Zeichen lesen:
Existentiale Semiotik des Glaubens

1. Lebenszeichen – Glaubenszeichen:
Theologie im semiotic turn

1.1. Entsprechungen:
Sein – Sinn – Sprache

1.2. Beziehungen:
Existenz – Symbol – Glaube

2. Zeichen, die zu denken geben:
Theologisch-semiotische Diskurse

2.1. Reflexionsbedarf:
Geltungsansprüche ansprechen!

2.2. Theoriekritik:
Problemerzeugende Problemlösungen?

Epilog: Gute Theologie – eine Stilfrage?

Personenregister

I.

Einstieg:
Die Intelligenz des Glaubens

Die Fundamentaltheologie interessiert sich um der Sache des Glaubens willen für die Sache der Vernunft. Darum ist sie der Ort einer doppelten Interessenvertretung – der Interessen der Vernunft und des Glaubens. Als Interessenvertretung der Vernunft versteht sich jedoch auch die Religionskritik. Sie konfrontiert und provoziert Theologie und Glaube mit dem Vorwurf, Defizitgestalten einer vernunftgemäßen Einstellung zur Wirklichkeit zu sein. Religiösen Menschen wird attestiert, dass sie an einer Unterfunktion ihres Vernunftvermögens leiden und dass sie darum außer Stande sind, ihr Leben im Zeichen von Aufklärung und Mündigkeit zu führen. Wo Religionskritiker nicht den erwünschten Erfolg haben, halten sie für ihren Misserfolg eine wiederum religionskritische Antwort parat: Die Aufklärung über Religionsdefizite bleibt erfolglos, weil religiöse Menschen an ihrem Glauben umso bornierter und fanatischer festhalten, je größer ihre Vernunftdefizite sind. Sie bemerken diesen Mangel noch nicht einmal.

Weniger rigoros und unversöhnlich ist die Haltung, die Vertreter einer kritischen Religionsphilosophie einnehmen, wenn sie ebenso aufgeschlossen wie skeptisch religiöse Daseinsdeutungen auf ihre Modernitätskompatibilität befragen. Aber auch ihr Urteil fällt letztlich negativ aus, wenn es darum geht, dem Glauben eine eigene Intelligibilität zuzuerkennen. So vermag für J. Habermas die Vernunft sich nur unvollständig des Glaubens anzunehmen, weil er wegen seines „opaken“ Charakters seinerseits nur unvollständig Vernunft anzunehmen vermag. „Das nachmetaphysische Denken verhält sich zur Religion lernbereit und agnostisch zugleich. … Aber eine Apologie des Glaubens mit philosophischen Mitteln ist nicht Sache der agnostisch bleibenden Philosophie. Bestenfalls umkreist sie den opaken Kern der religiösen Erfahrung, wenn sie auf die Eigenart der religiösen Rede und den Eigensinn des Glaubens reflektiert. Dieser Kern bleibt dem diskursiven Denken so abgründig fremd wie der von der philosophischen Reflexion auch nur eingekreiste, aber undurchdringliche Kern der ästhetischen Anschauung.“1

Sehen sich religiöse Menschen von den Wortführern einer aggressiven Religionskritik2 auf groteske Weise verunglimpft, kontern sie den Vorwurf der Vernunftpathologie meist mit der Diagnose, dass die Religionskritik selbst pathologische Züge trage.3 Damit ist vorerst ein Patt hergestellt, das zwar keinen Gleichstand in der Sache bedeutet, aber immerhin deutlich macht, dass ein solcher Stil kaum sachdienlich ist. Gegen weniger verächtliche Kritiker des Glaubens bringt jedoch nicht die Schärfe der Sprache, sondern nur eine geschärfte Argumentation etwas ein. So ist etwa gegen Hinweise auf die Opazität des Glaubens deutlich zu machen, dass sie sowohl dem Glauben als auch der Vernunft zu wenig zutrauen: Wo die Wissenschaft auf Opakes trifft, sind höchst unterschiedliche Stufen des Durchdringens möglich. Die Kategorie der Opazität steht in der Physik für eine graduelle optische Transparenz bzw. bezeichnet den Grad der Lichtabsorption. Opak sind in diesem Sinne auch Gegenstände und Medien, die zwar nicht durchsichtig, aber doch lichtdurchlässig sind. Wenn die Philosophie auf solche Phänomene stößt, muss sie damit rechnen, dass diese das Licht der Vernunft nicht abblocken, sondern es durch sich hindurchgehen (und auf anderes fallen) lassen. Das gilt auch für die Religion. Wenn sie der Aufklärung auf dem ersten Blick im Wege steht, so kann diese ihren eigenen Weg gleichwohl durch sie nehmen.

Um die Besonderheit des Verhältnisses von Philosophie und Religion, Theologie und Glaube genauer zu erfassen, ist die Lichtmetaphorik vor allem dann hilfreich, wenn man sie anhand eines Beispiels aus der Ästhetik variiert: In der Theologie wird der Glaube so betrachtet, als wäre er ein Fenster, das aus vielen bunten Scheiben zusammengesetzt ist, die ein Bildmotiv erkennen lassen. Der Zweck eines solchen Fensters besteht nicht darin, einen Blick von innen nach außen gehen zu lassen, um etwas zu erkennen, das sich außerhalb des Raumes befindet – oder umgekehrt nach Art eines Schaufensters den Blick von außen auf Objekte innerhalb eines Raumes zu ermöglichen. Ein Buntglasfenster hat zwar auch die Funktion, Licht in einen Raum zu lassen. Aber es will diesen Raum nicht primär hell und licht machen. Und es ist auch nicht dazu da, dass man durch es ins Freie sehen kann. Vielmehr will es durch den Lichteinfall sichtbar machen, was es selbst zeigen kann bzw. was „in ihm steckt“.4 Das einfallende Licht soll gebrochen werden, damit betrachtet werden kann, was es in und mit dem Fenster zu sehen gibt.

Würden Philosophie und Religionskritik ihr Interesse an Aufklärung so verstehen, dass sie nur Fenster akzeptieren, die einen klaren Durchblick ermöglichen und ungetrübt den Blick freigeben auf Dinge, die sich dahinter befinden, müssten sie ein Buntglasfenster so bearbeiten, dass sie alles an ihm tilgen, was den klaren Blick mindert oder verhindert. Alles Farbige an ihm müsste entfernt werden. Jede farbige Scheibe müsste ersetzt werden durch Klarglas. Nur so kann gesichert werden, dass das Fenster seine vermeintlich eigentliche Funktion optimal erfüllt: wahrnehmbar zu machen, was jenseits des Fensters ist. Um solche klaren Aus- und Einblicke zu ermöglichen, müssen Buntglasfenster letztlich beseitigt und durch funktionale Äquivalente ersetzt werden. Dann aber wird genau das zerstört, was das bunte Fenster eigentlich zeigen wollte. Das Einzige, das in einem solchen Fenster bei entsprechendem Lichteinfall konturenscharf zu sehen ist, steckt nämlich im Fensterbild und nicht dahinter.

Trifft dieser Vergleich zu, dann muss die Theologie daran interessiert sein, dass möglichst viel Licht möglichst intensiv auf den Glauben fällt, damit erkennbar wird, was er aufzeigen will. Philosophie und Religionskritik kommen auf diesem Weg mit ihrer aufklärerischen Absicht ebenfalls an ihr Ziel. Entweder wird im Licht der Vernunft klar, dass der Glaube nichts Ansehnliches vorzuweisen hat. Oder der Vernunft geht auf, dass der Glaube etwas sichtbar macht, das es wert ist, genauer in Augenschein genommen zu werden.

Einer theologischen Epistemologie wird vor diesem Hintergrund klarer werden, was um der Sache des Glaubens und der Vernunft willen zunächst von ihr erwartet wird: Sie muss verdeutlichen, dass hinter dem Glauben eine eigene Praxis, eine eigene Technik des Zeigens und Sehenlassens steht, für die sich auch die Vernunft interessieren kann. Es handelt sich dabei um eine Praxis, die dem Menschen etwas für ihn Bedeutsames aufgehen lässt.

Bevor es dabei um bestimmte Inhalte des Glaubens (fides quae) geht, muss der Vollzug des Glaubens (fides qua), d. h. die mit einer bestimmten Einstellung zur Wirklichkeit verbundene Praxis, als vor der Vernunft verantwortbar aufgezeigt werden. Zu klären ist, ob es ein für die Vernunft einsichtiges existenzielles und epistemisches Problem gibt, auf das der Glaube Bezug nimmt. Im Zentrum steht dabei die Überlegung: Für welche Sinn-Frage will er eine Antwort anbieten? Welches Bild vom Leben, von Grund, Richtung und Ziel menschlichen Daseins will der Glaube zeigen? Welches Licht muss auf das Sinn-Bild des Glaubens fallen, damit sichtbar wird, was man mit ihm und in ihm sehen kann? Wie muss man auf dieses Bild und mit diesem Bild auf das Leben des Menschen im Ganzen blicken, um dabei jene Perspektive zu entdecken, aus der die Antworten des Glaubens auf Lebensfragen einleuchten?

§ 1 Vermutungen:
Glaube als Defizitwissen?

Um das existenzielle Bezugsproblem des Glaubens zu erörtern, bietet sich als Einstieg eine etymologische Rückfrage an. Im Wurzelwerk der Sprache finden sich oft grundlegende Einsichten und bis heute unabgegoltene Sichtweisen. Geht man nun dem Wort „glauben“ in den biblischen Sprachen nach, so zeigt der hebräische Wortstamm נמא, dass der (religiöse) Glaube durchaus ein Projekt verfolgt, das auch die Vernunft antreibt: Es geht um ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das ihr auf den Grund geht.5 Anders als bei den in der Neuzeit dominierenden Formaten einer instrumentellen und zweckrationalen Vernunft handelt es sich beim (religiösen) Glauben jedoch nicht um ein „Verfügungswissen“, das angestrebt wird. Er will die Welt nicht begreifen, um das, was in der Welt geschieht, in den Griff zu kriegen und aus bisher unverfügbaren Umständen menschlichen Daseins nun Folgen und Ergebnisse seines Handelns zu machen. Vielmehr ist er an einem spezifischen „Verständigungswissen“ interessiert, d. h., er will herausfinden, was es letztlich mit der Wirklichkeit im Ganzen auf sich hat und ob ihr eine Bedeutsamkeit zukommt, die über die reine Faktizität hinausgeht.6 Im Zentrum steht die Frage, ob in einer Welt, in der alles im Fluss ist, etwas erkennbar wird, worin der Mensch einen festen Halt findet. Woran kann man sich halten in einer Zeit, in der nichts auf Dauer Bestand hat? Gibt es für den Menschen etwas Bleibendes angesichts einer Welt, die selbst nicht bleibt?

Konstitutiv für eine religiöse Einstellung zur Wirklichkeit ist demnach das „Aus-sein“ auf einen Sinngrund des Daseins, von dem her man „Selbststand“ gewinnen kann im Unbeständigen: Zeigt sich angesichts einer vergänglichen Welt etwas, auf das man sich verlassen kann im Leben (und im Sterben)? Gibt es etwas Beständiges, von dem her man zu sich selbst stehen und anderen Menschen beistehen kann? Falls nicht, was befähigt den Menschen, mit den Ungewissheiten, Unsicherheiten und Aporien des Lebens umzugehen? Wie hält man es aus, wenn letztlich auf nichts in der Welt Verlass ist?

Bereits die Etymologie des Wortes „glauben“ relativiert die häufig antreffbare Aussage, der (religiöse) Glaube sei eine Defizitform von Wissen.7 Eine solche Aussage offenbart ein Halbwissen und ein Wissensdefizit. Der Glaube verfügt in der Tat nicht über ein technisch-instrumentelles Wissen, mit dem die Wirklichkeit beherrscht werden kann. Er konkurriert nicht mit der Vernunft bei der Suche nach einem Wissen darüber, was in der Welt geschieht, und was man mit diesem Wissen machen kann. Vielmehr will er verstehen, was es mit der Welt auf sich hat und wie man damit umgeht, wenn die Vernunft bei dieser Erkundigung nur Fehlanzeigen erstattet. Der Glaube repräsentiert insofern seinerseits ein „Defizitwissen“. Denn er weiß zum einen um das, was dem Menschen fehlt: Beständigkeit im Unbeständigen, Halt angesichts des Haltlosen. Zum anderen weiß er um die Defizite einer technisch-instrumentellen und zweckrationalen Vernunft hinsichtlich dieser existenziellen Herausforderung.8 In der Folge eines solchermaßen aufgeklärten Nichtwissens sucht er nach einem anderen Zugang zu dem, was dem Menschen fehlt, um zu sich stehen zu können. Diese Suche wird geleitet von der Hoffnung, dabei auch an ein Ziel zu gelangen (vgl. Hebr 11,1: „Glauben heißt: sich festmachen in dem, was man erhofft“). Dabei geht es nicht um vage Vermutungen über ein gutes Ende des Daseins, sondern um eine Ermutigung, mit den Härten und Nöten des Lebens so umgehen zu können, dass man angesichts des Inakzeptablen an und im Leben dieses Leben dennoch annehmen und bejahen kann. Sich auf eine solche Lebenspraxis zu verstehen erfüllt sich im „Standgewinnen“, in der Bezugnahme auf etwas Beständiges, wodurch man existenzielles „Stehvermögen“ erwirbt (vgl. Jes 7,9: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“).

Glaube und Vernunft ist gemeinsam, dass sie sich der Wirklichkeit stellen. Dabei praktiziert der Glaube zwar eine andere Einstellung als die technisch-instrumentelle Vernunft. Aber ihm ist kein prinzipielles Intelligenzdefizit anzukreiden. Er präsentiert kein ungesichertes Wissen, sondern will wissen, wie man mit Unsicherheiten umgeht. Er überredet nicht dazu, Beliebiges für wahr zu halten, sondern prüft, woran man sich in Wahrheit halten kann. Er zielt nicht auf das Unbezweifelbare, sondern auf das, womit man alles Zweifeln erträgt.9 Wer mit solchen Absichten nach einer angemessenen Einstellung gegenüber den Wechselfällen des Lebens sucht, kann es mit jedem philosophischen Ideal von Weisheit und Lebenskunst aufnehmen.10 Hier fällt der Vorwurf mangelnder Intelligenz zurück auf den, der ihn erhebt.

Glauben heißt nicht: nicht(s) wissen. Vielmehr zeichnet ihn die Nähe zu einer Größe aus, der man ebenfalls oft unterstellt, sie sei ein Widerpart des Wissens: die Skepsis. Aber ebenso wie der Glaube kein Doppelgänger des Unwissens ist, so ist die Skepsis keine Verwandte des Unglaubens. Beide sind auf Wissbares aus: die Skepsis im Modus des „spähenden Umherblickens“ und der Glaube im Modus der prüfenden Hoffnung. Beide kommen gut miteinander aus. Die Skepsis bewahrt den Glauben davor, leichtsinnig zu werden, und die Hoffnung bewahrt die Skepsis davor, im Argwohn zu enden.11

Anliegen und Ziel einer Theologischen Epistemologie sind

• die Herausarbeitung der dem Glaubensvollzug als Suche nach den Sinnbedingungen menschlichen Daseins eigentümlichen Intelligenz,

• die Ermittlung der den Glaubensinhalten zukommenden existenziellen Relevanz,

• die Rekonstruktion der Plausibilität von Vollzug und Gehalt des christlichen Glaubens,

• die Begründung der Validität von Quellen und Methoden, die für den Intelligenz-, Relevanz- und Plausibilitätsnachweis des Glaubens zu beachten bzw. einzusetzen sind.

§ 2 Distanzierungen:
Sich Gott zuwenden – abseits des Menschen?

Für eine genuin theologische Erkenntnistheorie ist mit dem Hinweis auf das existenzielle Bezugsproblem des Glaubens zwar eine grundsätzliche Möglichkeit gegeben, ihn vom Verdacht einer dem Menschen unzumutbaren Einstellung zur Wirklichkeit zu entlasten. Denn ihm kommt insofern eine unabweisbare Berechtigung zu, wie er sich für eine unabweisbare existenzielle Herausforderung interessiert. Damit ist aber noch nicht erwiesen, dass jene Bezugsgröße, von der er sich Stehvermögen, Halt angesichts des Haltlosen und Beständigkeit im Unbeständigen erhofft, auch tatsächlich von ihm erreicht werden kann – erst recht, wenn damit jene Wirklichkeit gemeint ist, für die in religiöser Sprache das Wort „Gott“ steht: Auf welche Weise ist es möglich, eine Beziehung zu dieser Wirklichkeit aufzubauen, auf die man sich unbedingt verlassen kann? Welche Richtung soll man einschlagen, wenn man sich dieser Wirklichkeit nähern will?

Häufig antreffbar und auch in existenziellen Angelegenheiten offenkundig gut erprobt sind Arrangements, die auf einer vertikalen Achse Verbindliches und Beliebiges, Vordringliches und Vernachlässigbares sortieren. Hier werden von unten nach oben aufsteigend Rang und Namen aufgelistet, Kompetenzen verteilt, Macht und Ansehen zugesprochen. „Oben“ ist, was Anspruch auf Anerkennung erheben darf. „Unten“ ist das Vernachlässigbare und Bedeutungslose. Auf den ersten Blick scheint ein solches Vorgehen anthropologisch berechtigt und theologisch aussichtsreich zu sein. Schließlich gilt der Mensch als das „Wesen der Transzendenz“ bzw. als resonanzfähig für eine „transzendente Wirklichkeit“12 und dass sich die Wirklichkeit des Göttlichen auf einem Aufstiegsweg finden lässt, spiegelt sich als Grundüberzeugung in vielen religiösen Zeugnissen nicht nur der monotheistischen Religionen.13

1. Religiöse Vertikalorientierungen:
Nach Höherem streben – Gott finden?

Gibt man etwas auf die Selbstdeutungen des Menschen, so sieht er sich auf einem Aufstiegsweg – und als Emporkömmling. „Griechischer Etymologie zufolge ist der Mensch der Aufrechte. Sein Name anthropos stammt vom Verb anatrepein: etwas in die Höhe bringen, emporheben“14, etwas aus der Waagrechten in die Senkrechte versetzen. Das Selbstverständnis des Menschen scheint sich ebenfalls an der Vertikalachse auszurichten: Menschen sind Aufsteiger – Wesen, die hoch hinauswollen und obenauf sein wollen. Erst wenn sie eine Höchst- oder Bestform erreichen, sind sie zufrieden. Um nach oben zu kommen, muss man sich auf die Hinterbeine stellen. Erst wer auf eigenen Füßen steht, hat sich selbständig gemacht (und ist ein Autostatiker). Um diese Stellung zu behalten, muss man sich behaupten. Dazu muss man den eigenen Kopf durchsetzen. Der Kopf ist jene Region, die den Menschen im Ganzen repräsentiert. Worauf es ankommt, muss man daher im Kopf haben. Von hier aus gewinnt man Übersicht und Eigenstand. Darum ergeht der kategorische Imperativ „Kopf hoch!“. Wer ihn hängen lässt, setzt aufs Spiel, worin die Griechen die Besonderheit des Menschen sehen: die Autokephalie (Selbstbehauptung). Und der aufrechte Gang, der für den Menschen nicht nur ein anatomisches Faktum, sondern ein Zeichen seiner privilegierten Stellung im Kosmos ist, verlangt ebenfalls, dass er erhobenen Hauptes auftritt.15

Der Mensch muss die Vertikalbewegung seiner Existenz nicht bei sich enden lassen. Menschen können den Kopf in den Nacken werfen und den Blick zu dem weitergehen lassen, was sich über sie erhebt. Was oben ist, muss aber noch nicht das Höchste sein. Das Endziel einer Aufwärtsbewegung ist erst erreicht, wenn man ankommt beim höchsten Gut, über das hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, d. h. beim schlechthin Erhabenen, beim Allerhöchsten, beim Göttlichen. Das Projekt der Religion besteht somit darin, die Welt als das zu Transzendierende und den Menschen als Transzendierenden zu verstehen. Die religiöse Semantik und Logik folgt dann ebenfalls der Struktur der Vertikalen: Man muss sich nach dem Höchsten ausstrecken, aber wird es nicht in Griff kriegen, wenn man nicht von ihm ergriffen wird. Wenn es etwas Höchstes gibt, kann es nicht in dem gefunden werden, was mit uns ist oder unter uns ergreifbar und begreifbar ist. All dies bleibt überbietbar. Das unüberbietbar Höchste muss über allem sein. Als Unbedingtes muß es jenseits des Bedingten gesucht werden. Wenn es einen Gott gibt, kann er nur jenseits des Endlichen gefunden werden. Der religiöse Lebensweg muss sich daher als Überstieg des Endlichen und Bedingten und als Aufstieg zum Unendlichen und Unbedingten realisieren.

Für diesen Auf- oder Überstieg stehen in modernen Gesellschaften unterschiedliche Routen zur Verfügung. Aber es ist keineswegs ausgemacht, dass alle auf denselben Gipfel führen. Moderne Gesellschaften sind davon geprägt, dass es in ihnen Religion nur noch im Plural gibt. Vielleicht bilden sie gemeinsam ein Gebirge. Aber nicht jeder Gipfel bietet den gleichen Ausblick. Dies gilt auch für das religiöse Grundwort, das sich eigentlich gegen eine Vervielfältigung wehrt: Gott. Seit geraumer Zeit werden in religionssoziologischen Erhebungen zur Gottesfrage höchst unterschiedliche Füllungen dieses Begriffs erhoben.16 Konsens scheint allenfalls darüber zu bestehen, dass damit eine vom Menschen unverfügbare und unüberbietbare Wirklichkeit benannt werden soll, die ihn unbedingt angeht und der gegenüber der Mensch sich nichts auszubedingen vermag. Dabei gilt etwa als „Gott / göttlich“ ein ewig gültiges Gesetz (nach Art des Karma oder Yin / Yang), nach dem sich alles kosmische Geschehen richtet und dem gegenüber der Mensch auch nur ein „Fall“ ist, in dem eine Verfügung oder Regel dieses Gesetzes zur Anwendung kommt. „Gott / göttlich“ ist für andere Menschen eine (Ur)Energie (nach Art des Chi), die alles durchströmt und für die man sich öffnen kann, wenn man alle inneren Blockaden löst. Bisweilen wird die Bezeichnung „Gott / göttlich“ auch an die Natur, an die Evolution oder an die Selbstorganisationsdynamik des Kosmos als das unüberbietbar Größte und alles Bestimmende vergeben.

Sämtliche Beziehungen des Menschen zu diesen Größen sind durch Asymmetrien gekennzeichnet. Die Momente der Unbedingtheit und Unüberbietbarkeit kommen jeweils nur dem Gegenüber des Menschen zu – nicht dem Menschen selbst und auch nicht seiner Beziehung zu diesem Gegenüber. Wenn nun der Vollzug des Glaubens das Aus-sein auf eine Wirklichkeit ist, die dem Menschen einen existenziell verlässlichen Halt gibt, um es mit dem Leben und dem Sterben aufnehmen zu können, kommt er dann bei den genannten Größen ans Ziel? Entdeckt der Mensch hier wirklich eine Beziehung, die es ihm ermöglicht, zu sich selbst stehen und anderen beistehen zu können? Oder wird ihm hierbei das Wissen um seine Hinfälligkeit und Minderwertigkeit nur noch einmal gespiegelt oder verdoppelt?

Die skizzierten Spielarten menschlichen Gegenüberseins zu einer absoluten Wirklichkeit (qua numinosem Gesetz, kosmischer Energie oder „natura semper maior“) relativieren das Dasein des Menschen bzw. machen ihm und seinem Dasein erneut seine bleibende Relativität bewusst. Alle Erfahrungen, die man im Gegenübersein zu diesen unbedingten und unüberbietbaren Größen macht, sind stets auch Erfahrungen der bleibenden eigenen Vergänglichkeit, Geringfügigkeit und Unterlegenheit. Gegenüber einer höheren Macht kann dem Menschen letztlich nur seine eigene Ohnmacht oder Machtlosigkeit aufgehen. Gegenüber der Natur ist er bestenfalls Teil eines größeren Ganzen; gegenüber einem höchsten Wert kann ihm nur seine eigene Minderwertigkeit bewusst werden.

Anders verhielte es sich, wenn der Mensch von sich aus bereits in der Sphäre der Unbedingtheit existieren würde – und wenn ihm diese Sphäre im Bedingten erschlossen werden könnte. Dabei müsste dem Menschen aufgehen, dass es eine unbedingte und unüberbietbare Wirklichkeit gibt, als deren Gegenüber er sich selbst unbedingt bejahen, frei selbst bestimmen und unverzweckt wertschätzen kann. Damit dies denkbar und erfahrbar sein kann, müsste auch für die Beziehung zu diesem Gegenüber gelten, dass sie die Merkmale der Freiheit und Unbedingtheit, der Wertschätzung und Unverzweckbarkeit aufweist.

Wenn dieser Gedanke sich nicht im Wunschdenken erschöpfen soll, müsste es Unbedingtheitserfahrungen geben, die dem Menschen eine Beziehung (zu Gott) offenbaren, die ihn in seiner Freiheit und Würde unbedingt anerkennt. Nur diese Beziehung wäre ihrerseits unüberbietbar. Und nur in ihr könnte sich der Mensch unbedingt geborgen wissen. Aber wie kann man sich auf einen Weg machen, der solche Erfahrungen ermöglicht? Wie muss ein Mensch vorgehen, damit ihm eine solche Gewissheit aufgeht?

Von den zahlreichen Beschreibungen eines solchen religiösen Erkenntnisweges erzielt seit etlichen Jahren die „via mystica“ besondere Aufmerksamkeit.17 Dieser Weg kann in zwei Richtungen beschritten werden und entweder in die „Mystik der Versenkung“ oder in die „Mystik des Überstiegs“ führen.18 Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass nur die Abwendung von allem Endlichen, Bedingten und Zeitlichen den Blick öffnen kann auf das Unendliche, Unbedingte und Ewige. Wer die Richtung der Entsicherung, der Preisgabe und des Loslassens einschlägt, wer alles aus der Hand gibt und selbst haltlos wird, dem wird in Aussicht gestellt, die Erfahrung des Gehaltenseins vom Unfassbaren machen zu können: Nur wo man nichts mehr ergreift und erfasst, kann man sich ergreifen lassen vom Unbegreifbaren. Auf dem Weg der Abgeschiedenheit von allem Äußerlichen, in der Selbstversenkung, im Abstieg in sein leer geräumtes Inneres soll der Suchende zu jenem „Nullpunkt“ gelangen, in dem die Fluchtlinien seines Daseins zusammenlaufen und wo Ende und Neubeginn ineinanderliegen. Wer dagegen die Richtung des Auf- und Überstiegs wählt, muss alles Endliche und Bedingte hinter sich lassen und überwinden, um dahin zu gelangen, was höher ist als alles, was im Bedingten erklommen werden kann. Das Unbedingte ist nur im Modus des Überbietens alles Bedingten erreichbar; zum Erhabenen gelangt nur, wer sich über das Unerhebliche hinwegsetzt und sich der Anziehungskraft einer höheren Macht überlässt.

In zahlreichen Misch- und Zwischenformen werden solche Exerzitien auch im christlichen Kontext angeboten. Die Elemente der Askese, der Meditation und Kontemplation haben zweifellos im Christentum ihre Berechtigung,19 wenngleich das Evangelium Jesu ihnen nur für gewisse Abschnitte des religiösen Weges Bedeutung zumisst. Auch von Jesus wird berichtet, dass er in diese Wüste gegangen ist, dass er immer wieder die Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit suchte. Auch von ihm werden Bergbesteigungen und Gipfelerfahrungen erzählt. Aber sie blieben Durchgangsstationen, bildeten provokative Unterbrechungen und markierten instruktive Auszeiten. Jesus von Nazareth taugt nicht als spiritueller Meister, der die Mystik der Selbstversenkung oder des Überstiegs in weltferne Sphären lehrt.20 Er setzt andere Prioritäten, die auf die Hinwendung zum Entgegenkommen Gottes zielen.21 Ohnehin sind die mystischen Auf- und Abstiegswege für sich genommen sehr riskant: Man kann sich auf den Wegen in die Tiefe der eigenen Psyche auch in der eigenen inneren Leere verloren gehen. Und der Selbstüberstieg ins Erhabene kann im metaphysischen Niemandsland enden.

Den Mystik-Boom der letzten Jahre kennzeichnet eine zweifellos berechtigte institutionenkritische und subjektzentrierte Wendung religiöser Praxis, die zahlreiche institutionelle Verknöcherungen und dogmatische Verkrustungen des Christentums aufgebrochen hat. Gleichwohl entspricht er auch einem durchaus zeitgeistigen Trend, eine individualistische Lebenskunst der „Selbstsorge“ in den Bereich der individuellen Heilssorge zu verlängern. Solche „Mystiker“ sind in der Lage, sich die Not der Welt und die Hilflosigkeit ihrer Mitmenschen mit spirituellen Mitteln vom Halse zu halten. Sie haben dabei kein schlechtes Gewissen.

Gegen diesen Trend zum Heilsindividualismus stehen die Bemühungen, Kraft aus dem Inneren zu schöpfen, um sich im Sinn des Evangeliums in den äußeren Angelegenheiten sozialen und politischen Engagements bewähren zu können.22 Sie geben der Versuchung zur Reduktion des Evangeliums auf einen mystischen oder einen politischen Kern nicht nach. Derartige Verkürzungen aber tauchen immer wieder auf. Und nicht selten suchen sie sich Flankenschutz bei prominenten Theologen. Am häufigsten bedient man sich dabei eines Diktums von Karl Rahner: „Der Fromme, der Christ der Zukunft wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“23 Dass Rahner diesen Satz mit einer spezifischen Begründung versah, wird oft übergangen.24 Dies macht es leichter, die Betonung darauf zu legen, dass es für christliche Mystiker darauf ankomme, „etwas“ erfahren zu haben. Dieses „etwas“ bleibt (absichtlich?) unbestimmt. Es sollte ausreichen, dass es irgend„etwas“ mit höheren Mächten zu tun habe!? Für K. Rahner war der Gegenstand einer „mystischen“ Erfahrung jedoch weder beliebig noch austauschbar. Für ihn war es entscheidend, dass es dabei um eine personale Erfahrung Gottes gehen müsse bzw. um eine Erfahrung der Wirklichkeit Gottes in der Sphäre des Interpersonalen.25 Wer am entscheidend Christlichen interessiert ist, muss diese Sphäre aufsuchen.

2. Das Unterste zuoberst:
Die wohltuende AnArchie des Evangeliums

So plausibel und attraktiv spirituelle Aufstiegs- und Versenkungsofferten auch sein mögen, gegen eine theologische Kennzeichnung als originär oder entscheidend christlicher Weg der Gotteserkenntnis spricht das Zeugnis des Evangeliums. Es bestreitet, dass in einer vertikalen Verlängerung oder Überbietung des innerweltlich Erhabenen und Eindrucksvollen die Wirklichkeit Gottes erreichbar ist. Es erhebt Einspruch dagegen, dass Macht, Pracht und Herrlichkeit, die in der Welt den Menschen beeindrucken und anziehen, auch gleichnisfähig sind für Größe, Glanz und Hoheit Gottes. Es schlägt die Vorstellung aus, dass das Welt- und Menschenverhältnis Gottes sich nach jenen Kriterien richtet, nach denen üblicherweise in der Welt Respekt und Anerkennung, Wert und Würde verteilt werden. Die dort praktizierte Überbietungslogik, die vom Kleinen zum Großen und von unten nach oben verläuft, macht es sich nicht zu eigen.

– Bereits die „Kontaktaufnahme“ zwischen Gott und Mensch wird im „Magnificat“ (Lk 1,46–55) als Aufhebung dieses Weges beschrieben. In gänzlich anderen Umständen, als es zu erwarten war, realisiert sich dieses Verhältnis zwischen Gott und Mensch und es ist höchst folgenreich für die etablierten Ordnungs- und Herrschaftsverhältnisse, in denen sich der Mensch eingerichtet hat: „Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“ (V. 48). – „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen“ (V. 52 f.).26 Durchkreuzt wird die Erwartungs- und Entsprechungslogik, dass auch vor Gott kein Ansehen findet, wer vor der Welt mit leeren Händen dasteht.

– Der Auftakt von Jesu öffentlichem Wirken besteht in der Proklamation seiner Sendung, „damit ich den Armen eine gute Botschaft bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht: damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18–19). Dass es hierbei um die in jeder Hinsicht Verarmten und Erblindeten, Gedemütigten und Vergewaltigten handelt, kehrt wieder in den Seligpreisungen der Bergpredigt (Lk 6,20–26; Mt 5,3–12). Dieses Leitmotiv der Verkündigung Jesu steht gegen jeden Versuch, seine Botschaft zu spiritualisieren und ihr damit jede soziale Sprengkraft zu nehmen.27 Wer im sozialen Abseits steht und wer den dorthin Abgedrängten beisteht, steht in der Fluchtlinie der Zuwendung Gottes.

– Das Gottesbild Jesu von Nazareth widerstreitet allen Momenten des Macht- und Herrschaftsförmigen. Die Erzählung von der Versuchung Jesu durch den Teufel (Mt 4,1–11) gipfelt in einem Dementi der Vorstellung, dass das Gottsein Gottes in der Verlängerung einer Demonstration menschlicher Größe und Stärke bzw. des Vermögens zur Beherrschung von Mensch und Natur(gesetzen) gedacht werden kann. Der Versucher operiert mit einer Überbietungslogik, die von Jesus nicht überboten, sondern aufgehoben wird. Wer meint, in einer aufsteigenden Linie auf einen mit unüberbietbarer Machtfülle ausgestatteten Potentaten zu treffen, wird ganz oben nichts entdecken, was in Wahrheit verdient „Gott“ genannt zu werden. Von Gottes Gottsein muss vielmehr abseits solcher Macht- und Herrschaftslogik gesprochen werden.28

Das Evangelium greift die Theo-Logik der Vertikale auf und kehrt sie um. Es redet von einer „Transzendenz nach unten“, nicht von einer „Transzendenz nach innen“. Jesus von Nazareth interessiert sich nicht für etwas Unzerstörbares, das im Innersten des Menschen entdeckt werden kann. Die Verkürzung des Abstandes zwischen dem faktischen Ich und dem wahren Selbst eines Individuums steht nicht auf seinem Programm. Er verlangt auch nicht die Überwindung des Zeitlichen als Bedingung für den Kontakt mit dem Ewigen. Es geht ihm um eine andere Praxis und um eine andere Sphäre, in der man sich buchstäblich „einhandeln“ kann, worauf im Leben und Sterben Verlass ist. Diese Praxis demonstriert er selbst. Es ist die Praxis unbedingter Zuwendung zum Menschen und ihr Ort ist die Sphäre der Interpersonalität. Hier lässt sich Gottes Weltverhältnis in die Lebensverhältnisse des Mitmenschen übersetzen. Jesu Praxis steht quer zu religiösen Suchbewegungen, die das Göttliche, Unbedingte und Unüberbietbare nicht in der Sphäre der Interpersonalität, sondern über deren Relativierung durch ein metaphysisch Transzendentes oder mystisch All-Eines finden wollen.29 Christliche Glaubenspraxis steht daher unter der Prämisse, dass keine größere Offenheit des Menschen für Gott außerhalb seiner Offenheit für seine Mitmenschen entdeckt werden kann.

Das Evangelium Jesu überführt die Logik der Über- und Unterordnung in eine wohltuende „AnArchie“. Es setzt das Unterste zuoberst. Kein Aufstieg zum Göttlichen ist der Heilsweg des Evangeliums. Für eine Legitimation menschlicher Ordnung, die nach dem Muster der Unterordnung und Fremdbestimmung funktioniert, ist es nicht zu gebrauchen. In seinem Zentrum steht die Rede von einem „heruntergekommenen Gott“ (vgl. Phil 2,6–8).30 Das Gottesverhältnis des Menschen muss fortan Maß nehmen am Menschenverhältnis Gottes, d. h. an seiner Zuwendung zu denen, die „ganz unten“ sind. In Jesus von Nazareth ist diese Bewegung Gestalt geworden. In ihm begegnen Gott und Mensch einander als ihresgleichen. Es gibt fortan kein wahres Gottesverhältnis neben oder außerhalb oder getrennt von einem Menschenverhältnis im Modus der Zuwendung zu den „Geringsten“. Als genuin und originär christlicher Heilsweg kommt nur die Nachfolge Jesu im Format dieser Praxis in Betracht. In dieser Nachfolge haben Christen Anteil am Menschen- und Gottesverhältnis Jesu.

Eben davon handelt die „Endgerichtsrede“ Jesu im Matthäus-Evangelium (Mt 25,31–46): „Ich war hungrig, und ihr gabt mir zu essen; ich war fremd und obdachlos, und ihr nahmt mich auf; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ Allerdings ereignet sich in diesen Umständen ein Gottesverhältnis im Menschenverhältnis nur „inkognito“. Denn es ist unter diesen Umständen weder zu erkennen noch zu erwarten, mit wem man es zu tun bekommt, wenn man den Asylanten, Wohnsitzlosen und ihrer Freiheit beraubten Nächsten beisteht. Erst im Nachhinein geschieht eine Aufklärung: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Diese späte Offenbarung hat ihren guten Grund. Es soll verhindert werden, dass die Frommen ihren Nächsten nur um Gottes willen beistehen. Es ist aber Gottes Wille, ihnen um ihrer selbst willen beizustehen. Darum ist es gut, den Geringsten es nicht anzusehen, dass man es mit Gott zu tun bekommt, wenn man sich ihnen zuwendet. Und eben darum sind die Frommen zwischenzeitlich so ungläubig verwundert: „Wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?“