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Peterchens Mondfahrt –

Peter Sloterdijk,

die Religion und die Theologie

Siegfried Grillmeyer ·
Erik Müller-Zähringer ·
Johanna Rahner (Hg.)

Peterchens Mondfahrt –

Peter Sloterdijk,

die Religion und die Theologie

Band 12 der Reihe
Veröffentlichungen der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus
www.cph-nuernberg.de

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2015
© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Gestaltung: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de)
Coverbild: © MK2, Paris
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN
978-3-429-03823-6 (Print)
978-3-429-04782-5 (PDF)
978-3-429-06221-7 (ePub)

Inhalt

Erik Müller-Zähringer

Vorwort

Erik Müller-Zähringer

Sieben für Theben

Eine kleine philosophische Heldengeschichte in der alternden Moderne

Klaus Müller

Rhetorik des Wegzauberns oder: Wahrheit, Religion und Sloterdijk

Gregor Maria Hoff

„Ein Gespenst geht um …“

Die religionskritischen Sphären des Peter Sloterdijk

Johanna Rahner

Der Garten Eden ist kein Zoo!

Warum eine genmanipulierende Anthropotechnik als Königswissenschaft der späten Moderne nicht taugt und eine aufgeklärte Theologie nottut

Martin Kirschner

Gnadentheologische „Dehnübungen“ im Menschenpark

Transformationen der Anthropotechnik unter dem Vorzeichen der größeren Liebe Gottes

Johannes Först

Metapher, Fragment und Sakrament

Peter Sloterdijks metaphorische Sprachkunst als Impuls für eine sakramentale Daseinshermeneutik

Siegfried Grillmeyer

Fragen der Zeit: Eine Neuverortung der Theologie

Nachwort des Herausgebers der Reihe

Die Autorin und die Autoren

Vorwort

Eine Mondfahrt1 ist eine ernste Sache. Sie ist ein Ausgriff auf die Transzendenz – mit hilfreicher Unterstützung der Naturkräfte. Den Seefahrten der Neuzeit vergleichbar, ist sie Sinnbild einer Moderne, die nicht zuletzt Gott den Himmel zunehmend entzogen hat. Sinnbild einer Moderne auch, deren riskante Aus- und Auffahrt unsanft enden könnte.

Peter Sloterdijk ist ein ernst(zunehmend)er Philosoph? Für ihn „sind die frühen Seefahrten vergleichbar dem, was man Transzendenz, ein Hinübergleiten in höhere Sphären, nennt. […] Meine Gedankenflüge, meine philosophischen See- und Raumfahrten sind Alternativen zu den Bodenkämpfen meiner Kollegen.“2 Für manche schwebt seine fröhliche Wissenschaft in Sphären, in denen nichts als dünne Luft, darin gar manche Blase zu finden ist. Andere schätzen seine zeitdiagnostischen Analysen jener Aus- und Übergriffe des in ‚Vertikalspannung‘ existierenden modernen Menschen, der sich nicht nur nach der Decke streckt, sondern gegen die Deckelung selbst revoltiert. Ausgriffe und Übergriffe sind oft auch sie selbst: Sloterdijks sprachliche Salti und gedankliche Aeronautik, für manche Missgriffe, auf alle Fälle keine weichen Schaumteppiche für abstürzende Akrobaten der Moderne, aber auch keine kantigen Argumentationen, sondern eher schwammartige Gebilde, die dennoch provozieren.

Wie hält es der Sphärenforscher Sloterdijk mit der Religion? Welche Herausforderungen und Anstöße hält er für die Theologie bereit? In diesem Band geben eine katholische Theologin und fünf katholische Theologen aus verschiedenen Perspektiven eine Antwort. Es geht dabei immer auch um die Fragen der Zeit, um die hoffnungsvollen Ausfahrten der Neuzeit bzw. Moderne: Enden sie im Eismeer? Es geht um unsere Mondfahrten: Enden sie als Bruchlandung?

Dass die Hoffnungen auf Erscheinen dieses Buches nicht im Eismeer verschollen sind, dieses Verdienst gebührt allen, die daran mitgewirkt haben: der Autorin und den Autoren, jenen, die in verschiedenen Korrekturstufen das Buch begleitet haben, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Echter Verlags und der katholischen Akademie der Erzdiözese Bamberg und des Jesuitenordens Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Von Herzen Dank für die schönen Stunden der gemeinsamen Arbeit an diesem Buch!

Zierenberg, am Hochfest der Erwählung Mariens 2014
Erik Müller-Zähringer

1 G. von Bassewitz’ Märchen gab über die Jahre schon oft die Formulierung für eine Auseinandersetzung mit P. Sloterdijk vor: vgl. z. B. U. Holbein, Peterchens Mondfahrt, in: Der Spiegel 42/1993 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9289217.html; abgerufen am 17. 5. 2014); A. Platthaus, Peterchens Mondfahrt. Fährmann, ahoi: Käpt’n Sloterdijk bezwingt den Weltinnenraum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 63/2005 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/peterchens-mondfahrt-1215038.html; abgerufen am 17. 5. 2014); vgl. auch H.-J. Heinrichs, Peter Sloterdijk. Die Kunst des Philosophierens, München 2011, 173 f.

2 So legt es ihm H.-J. Heinrichs in seinem fiktiven Interview in den Mund: Fiction: P. Sloterdijk trifft Kapitän Nemo und den Seefahrer Ismael, in: M. Jongen u. a. (Hrsg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München 2009, 16 f. „In diesem Sinn wird der Philosoph zu einem Astronauten des Denkens und der psychischen Innen-Räume. Und in der Tat: Dem Leser von Peter Sloterdijks Büchern geht es noch am ehesten wie dem Zuschauer, der die luftigen Bewegungen der Astronauten in der Weltraumkapsel verfolgt, wie sie die menschlichen Lebensmöglichkeiten in einen größeren Raum ausweiten“ (H.-J. Heinrichs, Peter Sloterdijk, 17 f.; vgl. zu diesem Motiv ferner ebd., 10 f.21 f.). Vgl. auch Sloterdijks Beschreibung des ‚wachen Lebens‘ als ein „meteorisches Phänomen“: „Der Mensch ist ein denkender Meteorit“ (P. Sloterdijk, Der Zauberbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785. Ein epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie, Frankfurt a. M. 1987, 282).

Erik Müller-Zähringer

Sieben für Theben

Eine kleine philosophische Heldengeschichte in der alternden Moderne

Jede Zeit hat ihre Helden, und Helden haben ihre Zeit – gerade die klassischen. Auch die Philosophie, die an der Zeit ist, hat ihre Helden. Frei nach Fichte: Was für einen Helden man wählt, hängt davon ab, in was für einer Zeit man lebt. Helden werden aus der Not geboren, und unterschiedliche Nöte fordern unterschiedliche Helden – das gilt auch für Erklärungsnöte.

Im Helden legieren sich die allgemeinen Signaturen einer Zeit mit höchst individuellen Zügen1 in der Spannungseinheit von kraftvoller Tat und verhängtem Schicksal.

Die Neuzeit wähnte den Einzelnen frei im Kampf gegen die Schimären des Schicksals; sie entdeckte, beschwor und verherrlichte seine Handlungsmacht bis zu ihrer Vergötzung. Die Moderne erhob das Schicksal zum Projekt der einen Menschheit, zum Projekt der Geschichte des Kollektivsubjekts Mensch; Aufklärung war ihr Weg. Aufklärung als Entlarvung aller Mächte, die als unverfügbar galten, im Interesse ihrer Beherrschbarkeit. Frei nach Camus: Es gibt kein Schicksal, das durch Entlarvung nicht in unsere Hände gelegt werden kann; ja, Aufklärung sucht fürwahr „aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit [zu machen], die unter Menschen geregelt werden muß.“2 Doch mit dem Altern von Neuzeit und Moderne reift die Erkenntnis: Allen Entlarvungen zum Trotz behauptet sich das Schicksal mit Macht; auch selbstverschuldet, selbstgewebt ist es unverfügbar. Mehr noch: „Wir gehören nicht mehr zu jenem Geschlecht der tragischen Helden, die, nachträglich jedenfalls, zu erfahren hatten, daß sie sich selbst ihr Schicksal bereitet hatten. Wir wissen es schon vorher.“3

Dass sich aus dem Faden unserer Taten das Netz knüpfte, in das wir uns verschlingen, das uns verschlingt, diese Erkenntnis teilen die Heroen antiker Tragik mit jenen, die Einsicht in die Tragödie der Aufklärung gewannen; freilich mit unterschiedlichen Prämissen. Der Plan von der Abschaffung des Schicksals misslang; die entzauberte Welt, die vollends aufgeklärte Aufklärung strahlt im Zeichen seiner triumphalen Rückkehr. Ungerührt vom Tod der Götter, unberührt von metaphysischen Kräften schießt es aus unseren Handlungen zusammen und ist uns doch so transzendent wie die Moiren der Antike. Das Schicksal ist fürwahr autopoietisch; darin liegt seine Opazität. Von uns erzeugt und doch nicht geschaffen, selbstgesetzt und selbstgesetzlich in einem radikalen Sinne widersteht es jeglicher nomologischen Aufklärung. Mit dem Schicksal ist wieder zu rechnen; berechenbar ist es nicht. Die Theorie hat diesen Gedanken großflächig exekutiert – und mit ihm althergebrachte Vorstellungen kausal-linearer Handlungszusammenhänge; von der Biologie über die Soziologie hin zur Pädagogik: „Von der Autonomie zur Autopoiesis“4 heißt die Losung. Freiheit, Absichtlichkeit, Zweckdienlichkeit, Moralität einer Handlung – welche Rolle sollten solche Merkmale des klassischen Handlungsbegriffs noch spielen nach der Einsicht: Ich handle, also geschieht es? Längst ist selbst in einer naturwissenschaftlich-nomologisch geprägten Zivilisation wie der unseren das einst hypostasierte Band zwischen Ursache und Wirkung in komplexeren Zusammenhängen gerissen. Gelichtet und opak zugleich tritt das Schicksal in die Lücke.

Wie aber leben, wie aber handeln im Schatten dieser Erkenntnis? Leben, Handeln im Angesicht des Unverfügbaren ist das Schicksal des klassischen Helden. Der Helden aber sind viele, ebenso der Möglichkeiten, dem Schicksal zu begegnen. Im Folgenden sei eine kleine philosophische Heldengeschichte in der alternden Moderne versucht: nicht der Philosophie als Heldengeschichte, wie sie Hegel erzählt5, sondern eine Geschichte ihrer Helden. Und damit eine kleine Archäologie der europäischen Selbstverständigung6, ein Stück Zeitdiagnostik anstelle der üblichen Einleitung – insbesondere im Blick auf jenen, der sich und „seine eigene zeitdiagnostische Arbeit […] als ein ‚automatisches Klavier des Zeitgeistes‘ [sieht]“7: Peter Sloterdijk. „Genau wie Nietzsche sieht er sich selber als ‚Mundstück‘ und ‚Medium‘, ein Klangkörper, der epochale Stimmungen kommuniziert. […] Gleichzeitig weiß er, dass kein einziges Medium transparent ist: ‚Ich nehme Stimmungen leicht auf, aber ich sortiere ziemlich streng.‘“8 Überdies nimmt Sloterdijk in Anspruch, mit seinen Zeitdiagnosen mittendrin, glatt pur dabei zu sein: „zeitkrank […], um zeitdiagnostisch etwas zu sagen zu haben“, teilt er mit Nietzsche die Vision „vom Philosophen als Arzt der Kultur“9, der sich selbst der Gefahr aussetzt10, um als „Immunologe der Kultur“11 zu wirken. Mittendrin, das heißt aber auch: Zeitdiagnostik aus begrenzter Warte, aus dem Gewühl des Schlachtfelds, nicht vom Feldherrenhügel herab.

„Wir sind nicht die Briefträger des Absoluten, sondern Individuen, die die Detonationen der eigenen Epoche im Ohr haben. Mit diesem Mandat tritt der Schriftsteller heute vor sein Publikum, es lautet in der Regel nur ‚eigene Erfahrung‘. Auch diese kann ein starker Absender sein, wenn sie ihr Zeugnis vom Ungeheuren ablegt. Sie ermöglicht unsere Art von Mediumismus. Wenn es etwas gibt, wovon ich überzeugt bin, dann davon, daß es nach der Aufklärung, wenn man sie nicht umgangen hat, keine direkten religiösen Medien mehr geben kann, wohl aber Medien einer historischen Gestimmtheit oder Medien einer Dringlichkeit.“12

„Um Sloterdijks Werk philosophisch ernst nehmen zu können, ist eine großzügige Auffassung von Philosophie erforderlich. […] Sloterdijk ist ein Hyperboliker; seine provokativen Thesen ertragen daher keine dauerhafte Relativierung und Präzisierung. Es ist das Merkmal einer fröhlichen Wissenschaft, dass Ernst und Parodie oder Naivität und Ironie nicht immer unterschieden werden können.“13 Getragen wird sie von durchaus bedenkenswerten zeitdiagnostischen Intuitionen, den „Traumüberschüsse[n] der eigenen Epoche und ihre[m] Terror“14. Theologie, die an der Zeit ist, kann sich eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht ersparen. Im Folgenden lasse ich mich von ihnen anregen, bildreich, evokativ, höchst subjektiv, auch in Auswahl und Montage, im Zeichen des Spatzes15, die Detonationen der eigenen Epoche im Ohr.

Odysseus

Aufklärung ist der Aufstand des Menschen gegen die fremdverschuldete Ohnmacht16; ihr Motiv ist Furcht, ihr Programm Entzauberung, ihre Sehnsucht umfassende Selbstbestimmung, ihr Held Odysseus. Der Sohn des Laërtes17 wird für Horkheimer und Adorno zum Urbild des bürgerlichen Individuums18, an ihm exemplifizieren sie im „Grundbuch der neueren Vernunftkritik“19 die Dialektik der Aufklärung. Aber der Reihe nach.

Aufklärung ist der Aufstand des Menschen gegen die fremdverschuldete Ohnmacht: Ihr Ziel im Interesse des Selbsterhalts ist die „Entmächtigung der Mächte“20 in uns und außer uns. Ihr Motiv ist Furcht: Die Quelle der Furcht liegt in der Fremdheit des Fremden und seiner möglichen Macht. Wir fürchten, was sich unserem Verständnis entzieht, und wir ahnen die potenzielle Gewalt, die im Dunkel dieser Fremde lauert. „Der Furcht aber“ wähnen wir „ledig zu sein, wenn es nichts Unbekanntes mehr gibt. […] Aufklärung ist die radikal gewordene mythische Angst. […] Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.“21 Ihr Programm ist Entzauberung22: Entlarvung aller Mächte, die für unverfügbar galten, und Herrschaft über die Mächte im Zeichen von Formel, Zahl, Gesetz, von Wissenschaft und Technik. In hoc signo sucht Aufklärung zu siegen und ihre Sehnsucht zu befriedigen: umfassende Selbstbestimmung. Niemand, nichts Anderes, nichts Fremdes, soll über mich bestimmen oder Gewalt haben, kein Gott, nicht Natur noch Mensch. An Odysseus illustrieren Horkheimer und Adorno das Scheitern dieser Hoffnungen.

Für Horkheimer und Adorno legt Homers Odyssee, „der Grundtext der europäischen Zivilisation“23, beredtes „Zeugnis ab von der Dialektik der Aufklärung“24; für sie ist Odysseus’ Irrfahrt „ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung“25 und „Urgeschichte der Subjektivität“26 zugleich. „Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des […] unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst […]. Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen.“27 Jedoch: „das Selbst macht nicht den starren Gegensatz zum Abenteuer aus“28. Gerade in der Auseinandersetzung mit den vorweltlichen mythischen Mächten, gerade „an der Erfahrung des Vielfältigen, Ablenkenden, Auflösenden“29, formt das Selbst „in seiner Starrheit sich erst durch diesen Gegensatz“30 – zu eben jenem Selbst, jenem „identische[n], zweckgerichtete[n], männliche[n] Charakter“31, jenem Urbild des bürgerlichen Individuums, das Adorno und Horkheimer ins Zentrum ihrer Kritik stellen.

Odysseus sucht „den Mächten der Auflösung zu widerstehen“32, „den Figuren des Zwanges“33 und „des abstrakten Schicksals, der sinnfernen Notwendigkeit“34 zu trotzen; er stellt sich „wider die Unausweichlichkeit des Schicksals.“35 „Aber die Lockung der Sirenen bleibt übermächtig.“36 Die Mächte lassen sich nicht entmächtigen, sie lassen sich lediglich überlisten. „Das Organ des Selbst, Abenteuer zu bestehen, sich wegzuwerfen, um sich zu behalten, ist die List“37 – „List aber ist der rational gewordene Trotz.“38 „Der Seefahrer Odysseus übervorteilt die Naturgottheiten“39 – hierin liegt der Witz des Odysseus: „Niemals kann er den physischen Kampf mit den exotisch fortexistierenden mythischen Gewalten selber aufnehmen.“40 Ihre Macht vermag er nicht zu brechen. „Stattdessen macht er sie formal zur Voraussetzung der eigenen vernünftigen Entscheidung.“41

So bedingt die Überlistung der mythischen Mächte just die Anerkennung ihrer Macht, so fordert sie ihren Preis, der für Horkheimer und Adorno die Dialektik der Selbstbehauptung zeigt: Im Versuch, dem Bannkreis fremder Mächte zu entrinnen und sich zu erhalten, formt sich das identische Selbst – und deformiert zugleich, weil es ihrem Bannkreis eben nicht zu entrinnen vermag. So wird die Odyssee zur Allegorie der Dialektik der Aufklärung. Wie Odysseus die mythischen Mächte, sucht Aufklärung nach deren Entzauberung die Natur zu beherrschen im Interesse des Selbsterhalts. Wie Odysseus die mythischen Mächte, vermag sie die Natur jedoch nicht eigentlich zu beherrschen, sondern nur zu benutzen.

„Gerade vom naturbeherrschenden Geist wird die Superiorität der Natur im Wettbewerb stets vindiziert. Alle bürgerliche Aufklärung ist sich einig in der Forderung nach Nüchternheit, Tatsachensinn, der rechten Einschätzung von Kräfteverhältnissen. […] Nur die bewußt gehandhabte Anpassung an die Natur bringt diese unter die Gewalt des physisch Schwächeren. […] Das Schema der odysseischen List ist Naturbeherrschung durch solche Angleichung.“42

Aufklärung suchte die Natur zu ent-fremden und zu beherrschen qua Zahl, Formel, Gesetz. Doch unser Zugriff auf Natur bleibt instrumentell, die Zwecklosigkeit ihrer Zwecke uns unverfügbar und verschlossen. „Technik ist das Wesen dieses Wissens“43, das Macht ist, weil wir uns damit die Kräfte der Natur dienstbar machen – ihr Wesen bleibt uns verborgen. So bezahlen die Menschen

„die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft. Diese Identität konstituiert die Einheit der Natur.“44

In ihrem Bann verbleibt die Aufklärung – und mit ihr Subjekt und Gesellschaft, Vernunft und Sinne, Philosophie und Kunst, ja, alle Bereiche des menschlichen Daseins. Mit „der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten […] wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich.“45 Verdinglichung und Verhärtung, Entfremdung und Entsagung, Aufschub der eigenen Glücksansprüche und regredierte Wahrnehmung, eine Erfahrungswelt, die sich „tendentiell wieder der der Lurche an[ähnelt]“46; eine Gesellschaft im Zeichen des Tauschs, in der alles und jeder zur Ware wird, in der selbst scheinbar Mächtige zur puren Funktion des Apparats werden; ein Rationalismus, der, in instrumentelle Vernünfte ausdifferenziert, sich in der Anhäufung technischen Wissens verausgabt – dies sind u. a. die Stichworte, mit denen Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung schildern. Kurz: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn europäischer Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation.“47 Eine solche Aufklärung als Angleichung an die – wohlgemerkt bereits entzauberte – Natur ist „Mimikry ans Amorphe“48, „ist selber Mimesis: die ans Tote“49.

Dante, der Homers Odyssee nicht kannte50, hatte den Betrüger Odysseus im XXVI. Gesang des Inferno seiner Göttlichen Komödie im achten Kreis der Hölle platziert.51 Im Gespräch enthüllt Odysseus seine Geschichte: Seine Neugier trieb ihn aufs Meer und lässt ihn Familie und Heimat flüchten. Immer weiter strebte er, die Welt zu erkunden. So hat Dante „Odysseus als die weltliche Seite des Renaissancemenschen gestaltet […]. Befreit von echter Bindung, strebt er entfesselt und haltlos ins Unbekannte. Keine Familie vermag ihm mehr zu genügen. Die Säulen des Herkules, einst heilige und unverletzbare Grenze des Forscherdrangs, können seinen Wissensdurst nicht mehr hemmen.“52 Er erliegt der curiositas, der cupiditas sapientiae und damit der „Verlockung der Sirenen nämlich als Versuchung zum hybriden Mißbrauch der Vernunft“53 – und stirbt auf dem Meer.

Nietzsches neue Losung aus seiner Fröhlichen Wissenschaft (IV. Buch, Nr. 289) – „Auf die Schiffe!“ – kann fürwahr als Motto über der Neuzeit stehen. Es ist eine Fahrt ohne Wiederkehr. Le siècle des Lumières hat die Anker gelichtet, die Trossen zur alten Welt des Sinns gelöst. Die Götter schwimmen unbewiesen in ihrem Blute (H. Heine), die mythischen Mächte sind entzaubert, die Natur entseelt, der Mensch verdinglicht. Der Versuch, „aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit [zu machen],“54 ward den Menschen zum Schicksal. Es ist eine Ausfahrt zu einem Horizont, hinter dem kein Land liegt. Und auf dem Meer, in der Rückschau, erweist sich auch die alte Welt als Trug: Heimat ist ein Ort, „worin noch niemand war“55. Ohne Heimat, ohne Ziel bleibt uns nur das Meer – „es gibt kein ‚Land‘ mehr!“56 Der Fliegende Holländer ist unser zu Hause: ewige Weiterfahrt, ohne Aussicht auf Erlösung. Wir sind allein auf dem Meer.57 Heimat wäre das Entronnensein.58 Doch Odysseus, der betrogene Betrüger, sitzt in der Hölle, die er selbst erschuf. Sie hat schwankende Planken.59

Diogenes

Horkheimer und Adorno hatten die Detonationen ihrer Epoche im Ohr, die Gaskammern von Auschwitz ahndend vor Augen, als sie ihre Meditation über den Satz ‚Wissen ist Macht‘ verfassten und die Dialektik dieses Wissens zeigten. Peter Sloterdijk beschreibt sie in seiner „Meditation über den Satz: ‚Wissen ist Macht‘“60, der Kritik der zynischen Vernunft, so:

„Wenn einst Aufklärung – in jedem Wortsinn – der Angstminderung durch Mehrung von Wissen diente, so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet, was zu verhindern sie angetreten war, Angstmehrung.“61 „Unter den ‚Erkenntnissen‘ sind allzu viele angsterregende“62; „[e]s gibt kein Wissen mehr, dessen Freund (philos) man sein könnte. Bei dem, was wir wissen, kommen wir nicht auf den Gedanken es zu lieben, sondern fragen uns, wie wir es fertigbringen, mit ihm zu leben, ohne zu versteinern.“63

Sloterdijks ‚dissidente Variante‘64 der Kritischen Theorie handelt wie die Dialektik der Aufklärung „von nichts anderem als von dieser Selbsterhaltung zum Tode.“65 Zu dieser trägt schließlich auch die Resignation erzeugende Aufklärung über die Aufklärung bei, wo sie deren Aporien vollends ins Auge fasst. „Was wir als Kritik produziert hatten, war auch nur die Fortsetzung der Selbstzerstörung mit anderen Mitteln.“66 Nicht zuletzt deshalb möchte Sloterdijk das von Adorno übernommene Motiv der Selbsterhaltung zum Tode „aus der Tonart der traurigen Wissenschaft in die der fröhlichen oder tragikomischen Wissenschaft“67 übersetzen – und damit die Erstarrung der Kritischen Theorie lösen. Doch deren Erstarrung folgte aus der Aporie der Sache – und diese vermag auch Sloterdijk nicht loszuwerden. Aber wieder der Reihe nach.

Wie leben und handeln angesichts dessen, was wir über unser Leben und Handeln wissen? Angesichts dessen, was die Dialektik der Aufklärung und die Geschichte des 20. Jahrhunderts über uns ans Licht gebracht hat? Wir können nicht nicht-handeln. Doch die Wege zu einer gelingenden Praxis scheinen versperrt und „[k]ein Denkvermögen hält mit dem Problematischen Schritt. […] Weil alles problematisch wurde, ist auch alles irgendwo egal. Dieser Spur gilt es zu folgen. Sie führt dorthin, wo von Zynismus und ‚zynischer Vernunft‘ die Rede sein kann.“68 Wir wissen, was wir getan haben, wir wissen, was wir tun – und tun wissentlich weiter, was wir taten. Wer aber „die Wahrheit über sich weiß, und trotzdem weitermacht wie bisher, verhält sich zynisch.“69 Die Aporien, die die Selbstbesinnung der Aufklärung zu Tage förderte, führen zu einem allgemeinen Zynismus, und der Zynismus führt zur

„Diffusion des Wissenssubjekts […], so daß der heutige Systemdiener durchaus mit der rechten Hand tun kann, was die linke Hand niemals erlaubte. Des Tags Kolonialisator, des Abends Kolonialisierter; von Beruf Verwerter und Verwalter, als Freizeitperson Verwerteter und Verwalteter; offiziell Funktionszyniker, privat Sensibilist; […] objektiv Zerstörungsträger, subjektiv Pazifist; an sich Katastrophenentfeßler, für sich die Harmlosigkeit selbst. Bei Schizoiden ist alles möglich, und Aufklärung und Reaktion machen nicht mehr viel Unterschied. Beim aufgeklärten Integrierten – in dieser Welt cleverer instinktiver Konformisten – sagt der Körper nein zu den Zwängen des Kopfes, und der Kopf sagt nein zu der Art und Weise, wie sich der Körper seine komfortable Selbsterhaltung erkauft. Diese Gemischtheit ist unser moralischer Status quo.“70

Der moderne Zyniker macht weiter, wo im emphatischen Sinne gar nichts mehr zu machen ist. Es scheint keine Alternative in Sicht.71 „Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein – das unglückliche Bewußtsein in modernisierter Form.“72 Es weiß um den „tiefen Riß, der durch die modernen Bewußtseine geht und der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das, was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint.“73 „Handeln wider besseres Wissen ist das globale Überbauverhältnis heute; es weiß sich illusionslos und doch von der ‚Macht der Dinge‘ herabgezogen.“74

In Bezug auf die einstmals großen Hoffnungen und Weltgeschichtsphilosophien sind wir pessimistisch, ja: „Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch.“75 „Unsere schwunglose Modernität weiß zwar durchaus ‚historisch zu denken‘, zweifelt aber längst daran, in einer sinnvollen Geschichte zu leben. ‚Kein Bedarf an Weltgeschichte.‘“76 Die Aufgeklärten, das sind die „vom Gegebenen Erzogenen“77. Sie verbitten sich, „von geschichtlicher Erfahrung belehrt, billige Optimismen“78. Der Zyniker richtet sich ein im ‚wunschlosen Unglück‘ (P. Handke)79; ihm gehört die Welt: „Nach den trotzigen Hoffnungen macht sich die Schwunglosigkeit der Egoismen breit.“80 Im vollen Bewusstsein arbeitet der moderne Zyniker subjektiv an seiner Selbsterhaltung, objektiv an seinem Untergang. Er ist nicht mehr der ‚einzelgängerische Kauz‘, der ‚provozierende eigensinnige Moralist‘, der ‚bissige und böse Individualist‘ der Antike, sondern tritt „als Massentypus auf; ein durchschnittlicher Sozialcharakter im gehobenen Überbau“81; ein „Grenzfall-Melancholiker, der seine depressiven Symptome unter Kontrolle halten und einigermaßen arbeitstüchtig bleiben kann. Ja, hierauf kommt es beim modernen Zynismus wesentlich an: auf die Arbeitsfähigkeit seiner Träger – trotz allem, nach allem, erst recht. Dem diffusen Zynismus gehören längst die Schlüsselstellungen der Gesellschaft“82. Im umfassenden Sinne bedeutet der ‚universale diffuse Zynismus‘83 als Daseinsweise: „Teilhabe an einer kollektiven realistisch herabgestimmten Sehweise.“84

Diese zu beschreiben, dazu dient die Kritik der zynischen Vernunft. Aber es soll auch nicht bei bloßer Beschreibung bleiben. Es mag nicht beim Eindruck bleiben, es handle sich bei ihr „um einen Rettungsversuch für ‚Aufklärung‘ und Kritische Theorie“85. Und doch: die bisher geschilderte Art des Zynismus soll auch nicht das letzte Wort sein. „Scheint es anfangs, als münde die Aufklärung notwendig in zynische Enttäuschung, so wendet sich bald das Blatt, und die Untersuchung des Zynismus wird zur Grundlegung guter Illusionslosigkeit.“86 Sloterdijk möchte eine Bejahung versuchen, um – durchaus den Impulsen Kritischer Theorie verhaftet – „die Klammer des Negativismus zu sprengen.“87 Es bedarf dazu einer anderen Wissenschaft, einer Fortsetzung von Aufklärung und Kritik mit anderen Mitteln, eines anderen Helden. Gerade die Selbstbesinnung der Aufklärung hatte den „Ausblick auf ein Leben in totaler Unaufklärbarkeit“ gegeben; gerade die großen Blicke der Theorie zeigten eine grundlegende Unübersichtlichkeit, ja mehr noch, mit einem Zitat aus späterer Zeit:

„Die Gegenwart hat uns Denkenden eine böse Entdeckung eingebracht; uns machen die großen Blicke überhaupt nicht froh, sie sind niederschmetternd. Unsere Aussicht aufs Ganze ergibt keinen Postkartengruß. Denken im 20. Jahrhundert heißt nicht, ein Kosmos-Ganzes anschauen, sondern eine Explosion mitdenken. […] Von Explosionen gibt es keine Theorie. Man kann Spurensicherung treiben“.88

‚Theorie‘ scheint heute allenfalls zu bedeuten: Wissen, was sich nicht ändern lässt.89 Wo die Spannung „zwischen dem, was ‚kritisieren‘ will, und dem, was zu ‚kritisieren‘ wäre, […] so überzogen [ist], daß unser Denken hundertmal eher mürrisch als präzise wird“90, wo Aufklärung als ‚traurige Wissenschaft‘ „wider Willen die melancholische Erstarrung [fördert]“91, wo „der Ernst des falschen Lebens im falschen Ernst der Philosophie“92 wiederkehre, da gelte es, „die kritische Sucht des Besserns auf[zu]lösen, dem Guten zuliebe“93. Das Ziel könne keine neue Theorie sein, die noch einmal besser wissen möchte, was sich besser machen ließe. Und ist es für Sloterdijk auch nicht. Dies hieße doch nur, auf einen Schelm anderthalb zu setzen. „Die Kritik der zynischen Vernunft verspricht sich darum mehr von einer Erheiterungsarbeit, bei welcher von Anfang an feststeht, daß sie nicht so sehr Arbeit ist als Entspannung von ihr. […] Ironischerweise ist das Ziel der kritischsten Anstrengung das unbefangenste Sichgehenlassen.“94 Und nach dem Ende der großen Blicke vom Feldherrenhügel herab, wenn im Gewühl des Schlachtfelds „die Dinge uns brennend auf den Leib rücken, muß eine Kritik entstehen, die das Brennen zum Ausdruck bringt. Sie ist keine Sache richtiger Distanz, sondern richtiger Nähe.“95 Diogenes von Sinope ist ihr Held.

Mit Diogenes begibt sich Sloterdijk auf die „Spur einer leibnahen untheoretischen Geistigkeit von dionysischem, jedoch nicht-tragischem Charakter.“96 Der antike kynische Philosoph ist für ihn „der eigentliche Begründer der Fröhlichen Wissenschaft“97 als der „höflichste[n] Art und Weise, öffentlich von den Unerträglichkeiten des Seins zu sprechen.“98 Diogenes ist im Wortsinne die Verkörperung eines atheoretischen, frechfröhlichen Widerstands. Mit ihm bringt Sloterdijk in der Spur Heinrich Niehues-Pröbstings99 die Unterscheidung zwischen Zynismus und Kynismus ins Spiel, „die Differenz zwischen dem Zynismus als der Infamie des Mächtigen und dem Kynismus als der Noblesse des Machtlosen“100.

Diogenes’ „theoretische Hauptleistung besteht darin, die Wirklichkeit zu verteidigen gegen den Wahn der Theoretiker, sie hätten sie begriffen. […] Der Kyniker besitzt untrüglichen Instinkt für die Tatsachen, die nicht in die Großtheorien (Systeme) passen.“101 Seine ‚Methode‘ ist das satirische Verfahren102, die ironische „Aufhebung der aufgezwungenen ‚Ordnungen‘“, das „Spiel mit dem, was sich als ‚Gesetz‘ ausgibt“103. Die Satire offenbart „das von Adorno beschworene ‚Nicht-Identische‘; jenes Dies-da, an dem die bloße begriffliche Benennung schon Unrecht tut, indem sie Begreifen vortäuscht“104. Diogenes verkörpert, was nicht in die Theorie passt: nackte Wahrheiten, unbekleidet mit theoretischem Überhang.105 Er tritt für es ein, mit beißendem Spott, der das Brennen zum Ausdruck bringt, und mit Gesten, mit dem Körper als Argument, mit dem Körper als Waffe.106 Bissig, aber nicht verbissen ist dieser Diogenes. „Bei all seinen Kraßheiten ist Diogenes nicht oppositionell verkrampft und im Widerspruch fixiert“107. Denn Sloterdijks asiatisch-orientalisch imprägnierter108 Diogenes ist eben auch das Vorbild für ein heiteres Sichgehenlassen, das Sloterdijk gegen „die Neuzeit mit ihrem aktivistischen Selbstbehauptungsethos“109 setzt, gegen deren „aktivistischen Sturmlauf des Selbermachens, Selberplanens und Selberdenkens“110. Diogenes’ vitaler, dionysisch-materialistischer, „kritische[r] Existentialismus des satirischen Bewußtseins“111 steht für ein unambitioniertes Glück.

„Er ist der dionysische Retter vor dem Allzudionysischen. Weil er mit den Extremen seine Erfahrungen gemacht hat, ist er wachgeworden für das Abenteuer der Mittellagen. [… D]ort sitzt Diogenes in seiner Sonne, faul und tief, vorsichtig und glücklich, die leibhaftige Verweigerung der Explosion, die erleuchtete Vorbeugung gegen die tödliche Verstrahlung, der Schirmherr des Gewöhnlichen und der Denker der dionysischen Erträglichkeit. [… E]r demonstriert sein glückliches Nichts-zu-sagen-haben und lebt ein Dasein, das sich spielerisch allen Missionen entzieht; er übt sich darin, mit größter Geistesgegenwart den Machtworten einen Sinn abzugewinnen, der von den Mächten so nicht gemeint war; er ist der Meister der humoristischen Subversion.“112

Mit Diogenes möchte Sloterdijk wieder anknüpfen an die „mächtigen Lachtraditionen des satirischen Wissens, die philosophisch im antiken Kynismus wurzeln“113, von denen sich, so seine These, die moderne Ideologiekritik verhängnisvoll losgelöst hatte. Im Lachen artikuliert sich der Widerstand gegen die Macht des Bestehenden wie die Macht des Begreifens – „ein Lachen, das dem ernsthaften Denken den Respekt aufkündigte“ und doch „im Kynismus des Diogenes von Sinope […] selbst philosophisch geworden ist.“114 Anknüpfen könnte Sloterdijk durchaus auch an den folgenden Passus der Dialektik der Aufklärung, der sich just am Ende des ersten Exkurses über Odysseus oder Mythos und Aufklärung findet. Er wirft jedoch zugleich ein bezeichnendes Licht auf Sloterdijks Ausführungen:

„Ist Lachen bis heute das Zeichen der Gewalt, der Ausbruch blinder, verstockter Natur, so hat es doch das entgegengesetzte Element in sich, daß mit Lachen die blinde Natur ihrer selbst als solcher gerade innewerde und damit der zerstörenden Gewalt sich begebe. […] Lachen ist der Schuld der Subjektivität verschworen, aber in der Suspension des Rechts, die es anmeldet, deutet es auch über die Verstricktheit hinaus. Es verspricht den Weg in die Heimat“115

aber bleibt doch nach Horkheimer und Adorno der Schuld verschworen, ist doch dem falschen Leben nicht enthoben, weshalb die Dialektik der Aufklärung traurige Wissenschaft blieb. Auch Sloterdijks Diogenes vermag sich nicht über diese Aporie und den von Horkheimer und Adorno diagnostizierten „Schuldzusammenhang“ zu erheben, mag er auch beides verlachen. Deshalb kann (und will?) Sloterdijk nicht klar und deutlich zwischen Zynismus und Kynismus unterscheiden.116 Auf welcher Seite man steht, ist nie klar; ja, jeder kynische Akt lebensbejahender Verneinung erweist sich – aufs Ganze gesehen – in seiner heiteren Enthaltsamkeit als zugleich zynische lebensverneinende Bejahung bestehender Macht. Aufs Ganze gesehen verpufft Diogenes’ Widerstand wie ein kurzweiliger Witz. Anders formuliert, auch für den Kyniker gilt: „Wer zuletzt lacht, lacht wie im Pleura-Schock.“117

Abraham

Betonung des Nichtidentischen, Singulären, Anderen, Heterogenen; Kritik an (idealistischer) Identitäts- und Bewusstseinsphilosophie u. v. m.: Emmanuel Lévinas teilt viele Intentionen mit den Autoren der Dialektik der Aufklärung, vor allem mit Adorno. Getrieben von dem „Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen von einer unüberwindbaren Allergie“, fällt auch für Lévinas die abendländische Philosophie „mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere […] seine Andersheit“118 – zumindest vordergründig, in unseren Augen, so wäre zu ergänzen. Philosophie möchte das Andere auf den Begriff und in den Griff kriegen; sie wird übergriffig im Versuch, „alles Andere in das Selbe hinein aufzuheben und die Anderheit zu neutralisieren.“119 „Es ist vielleicht die eigentliche Definition der Philosophie, ein Tun zu sein, das sich schon im voraus eingeholt hat in dem Licht, das es leiten sollte.“120 Ihr Sinnbild ist bei Lévinas wieder die Irrfahrt des Odysseus – allerdings unter anderer Ausdeutung seiner Bewegungsmuster als bei Horkheimer und Adorno: „Der Weg der Philosophie bleibt der des Odysseus, dessen Abenteuer in der Welt nichts anderes als die Rückkehr zu seiner Geburtsinsel war – ein Sich-Gefallen im Selben, ein Verkennen des Anderen.“121 Dem so verstandenen Mythos von Odysseus möchte Lévinas „die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.“122 Abraham ist für Lévinas der Heros einer „Bewegung ohne Wiederkehr“123, einer „Bewegung des Selben auf das Andere hin, die niemals zum Selben zurückkehrt.“124 Eine solche „Orientierung, die frei vom Selben zum Anderen geht, ist Werk.“125 Unter diesem und anderen Stichworten sucht Lévinas seinen Zugang zum Anderen, zu einer Philosophie uneinholbarer Alterität und Transzendenz. Und er sucht nach der paradoxen Möglichkeit einer „heteronomen Erfahrung“, bei der sich

„das Selbe weder ekstatisch im Anderen verliert, sondern dem Gesang der Sirenen widersteht, noch sich auflöst in dem Brausen eines anonymen Ereignisses. Erfahrung, die noch Bewegung des Selben bleibt, Bewegung eines Ich; Erfahrung, die sich folglich dem Transzendenten in einer Bedeutung nähert, die sie ihm nicht verliehen hat“126

Erfahrung, die aber doch die Erfahrung eines Subjekts, meine Erfahrung eines Anderen sein soll. Die ist ein Akzent, der in Lévinas’ Texten fast verloren geht unter dem Eindruck all der Metaphern der Passivität und Überwältigung durch das Andere!

In Bezug auf Abraham und Odysseus zeigt sich auch bei Lévinas: „Typologische Schemata funktionieren immer nur um den Preis grober Vereinfachungen, die dann als Sprungbrett für eigenständige Spekulationen dienen.“127 Texte mögen nicht unendlich interpretierbar sein, aber sind doch unendlich benutzbar128 – als Projektionsfläche der eigenen Ideen. Dabei kommt es auf die Bezugspunkte an – bei Lévinas, grob vereinfacht und auf Schlagworte gebracht: griechisches vs. jüdisches Denken, Athen vs. Jerusalem, Identitäts- vs. Alteritätsphilosophie. Zur schärferen Profilierung seiner alternativen Philosophie reduziert Lévinas „die Odyssee auf den Gedanken der Heimkehr“, „muß die Odyssee […] zu einer glücklichen Heimkehrer-Geschichte verkürzt werden.“129 Schon Homers Odyssee ist im Grunde alles andere als das. Dies haben auch Horkheimer und Adorno so gesehen130, auch dass die Irrfahrt bei Homer nicht in Ithaka endet131. Für Lévinas’ „nomadisches Denken“132 dagegen dient die Kontrastierung ‚Odysseus vs. Abraham‘ einer vielleicht allzu planen Illustration der Gegenüberstellung zweier philosophischer Paradigmen. Die Ambivalenzen beider Figuren blendet er aus. Wie Walter Lesch treffend bemerkt, beispielsweise im Falle Abrahams, „dessen Problematik Kierkegaard in ‚Furcht und Zittern‘ (1843) so scharfsinnig herausgearbeitet hat, wenn er fiktiv darlegt, wie Abrahams (blinder?) Gehorsam bei Isaak zum Verlust des Glaubens führt.“133

Zur Charakterisierung der geistigen Situation der Zeit, nicht der Philosophie, scheint Abraham denn auch weniger geeignet. Der biblische Abraham jedenfalls hat Gott und den Glauben im Rücken, das verheißene Ziel nicht vor Augen, aber doch im Sinn. Wir dagegen „sind ‚heimatlose Seelen‘, die im ewigen ‚Wintertag‘ der Moderne übers Lebensmeer irren, wie Georg Heym in einem lyrischen Fragment übers Odysseus-Thema schreibt.“134 Dantes Odysseus ist so wohl das geeignetere Sinnbild für die Entbildung des Sinns, für diese „Bewegung ohne Wiederkehr“, die uns seit dem nominalistischen Zeitenbruch, dem Zerbrechen des alten ordo und dem neuzeitlichen Aufbruch umtreibt. Noch Homers Odysseus

„stahl der Gott nur den Tag der Heimkehr, nicht das Ziel selbst. […] Der Aufschub […] durch die nicht endende Liste der Verhinderungen und Verführungen […] wird […] bewußt als Aufschub des Ziels. Schließlich darf man […] nicht übersehen, daß diese ganze Irrfahrt und Heimfahrt im axiologischen Rahmen einer eben noch intakten Mythologie sich abspielt. Die irdischen Konflikte haben ihre Präfiguration, ja ihren Beweggrund in den Rankünen und Streitigkeiten der Götter. Die wählen sich ihren Helden, lenken, strafen ihn unversehens, machen ihn jedoch in jedem Fall zum Werkzeug ihres Willens: alle seine Taten sind letztlich durch eine Ökonomie des Heils gerechtfertigt. […] Die unheldischen Heroen der modernen Odyssee hingegen […] erreichen ihr Ziel nicht mehr: der Ocean spaltet ihre Identität. Sie sind […] Irrende, d. h. sie haben aufgehört, Bewohner eines Kosmos, eines geordneten Weltganzen, zu sein. Ihre Geschichte geht darum auch in keiner Ökonomie des Eigenen mehr auf: die Entfremdung ist ihr Erbteil. […] Man ist nicht mehr heimisch in der Welt-als-Ganzem, und der neue Odysseus ist […] ein Bruder des Ewigen Juden und des Alten Seefahrers geworden“135.