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Erich Jooß

Das Kind,
das die Welt
verändert hat

Neue Weihnachtslegenden

Erich Jooß

Das Kind,
das die Welt
verändert hat

Neue
Weihnachtslegenden

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Inhalt

Die Legende vom Herbergsknecht

Die Legende vom Hirten, der einen Klumpfuß hatte

Die Legende vom Hausierer, den nicht einmal die Räuber erschrecken konnten

Die Legende vom Sterngucker

Die Legende vom Kamel, der Karawane und dem Weihnachtsstern

Die Legende von Rebecca und den Reitern des Herodes

Die Legende vom unwilligen Esel

Die Legende vom ängstlichen Mann, dem sieben Kamele gehörten

Die Legende vom Wirt, der zu spät kam und trotzdem zur rechten Zeit

Die Legende von der Flucht nach Ägypten

Nachwort

Die Legende vom Herbergsknecht

Aaron war alt geworden. An diesem Abend spürte er es so deutlich wie noch nie zuvor. Alles tat ihm weh. Als er in die enge Gasse zur Herberge einbog, hatte er den Eindruck, dass an seiner Stelle ein anderer ging. Er beobachtete sich wie einen Fremden. Dieser Fremde versuchte den Pfützen auszuweichen und machte einen Bogen um die Abfallhaufen, die überall vor den Häusern lagen. Dabei wirkte er schwerfällig und unsicher.

Manchmal musste er sich sogar an den Hauswänden abstützen, so sehr plagten ihn seine geschwollenen Gelenke. Der nasse Lehmboden, festgestampft von unzähligen Hufen, spiegelte den Mond. Wie eine große Laterne hing er über Betlehem. Aber Aaron schaute nicht zum Himmel empor. Er dachte nur an seine Strohmatte. Sie lag zusammengerollt in einer Ecke der Herberge und sie würde ihm hoffentlich einen schmerzfreien Schlaf schenken.

Ein Leben lang diente der alte Mann schon bei Josias, dem Wirt. Betlehem war ein kleiner Ort, fast noch ein Dorf. Jeder kannte hier jeden und es geschah nicht sehr häufig, dass die Herberge von Kaufleuten oder sogar von einer Karawane aufgesucht wurde. Welche Geschäfte hätten sich auch gelohnt in diesem Nest ? Lieber zogen die Reisenden gleich weiter in das prächtige Jerusalem. Mit seinen Mauern und seinem gewaltigen Tempel thronte es auf den Hügeln wie eine himmlische Stadt.

Obwohl Jerusalem nur drei Wegstunden entfernt lag, war Aaron erst einmal dort gewesen. In dem Gewimmel, zwischen den vielen Leuten, hatte er plötzlich Angst bekommen : So viel stürzte auf ihn ein ! Seine Ohren dröhnten von den Rufen der Händler und vom Geschrei der Lastesel. Wenn er nicht aufpasste, wurde er geschoben und gestoßen oder er trat in eines der Löcher, die sich zwischen den Pflastersteinen auftaten. Nur mit Mühe erreichte er den Tempel, aber selbst im Vorhof des Heiligtums reihte sich ein Verkaufsstand an den anderen. Auch dort herrschte ein unbeschreiblicher Lärm.

Damals war Aaron noch vor dem Paschafest aus dem Trubel geflohen und nie mehr nach Jerusalem zurückgekehrt. Doch jetzt wusste er, dass es nirgends, jedenfalls nicht auf Dauer, ein ruhiges, ungestörtes Leben gab. Seit überall im Land die Volkszählung ausgerufen worden war, füllte sich auch Betlehem mit Menschen, die sich in die Steuerliste eintragen mussten. Sie alle stammten aus dem Hause Davids. Das war, wie Aaron kopfschüttelnd feststellte, eine große, weitverzweigte Familie, zu der zahlreiche Nachkommen gehörten. Kein Wunder, dass sie den Ort ihrer Herkunft überschwemmten und selbst die kleinsten Kammern, sogar die Ställe belegten.

Während die Bewohner von Betlehem unter der ungewohnten Geschäftigkeit seufzten, rieb sich Josias die Hände. Noch nie hatte der Wirt so viel verdient wie in diesen Tagen. Der Ton der Drachmen, ihr silberhelles Klingeln auf den Steintischen, begleitete ihn bis in seine Träume und ließ sein Herz noch im Schlaf hüpfen.

Auch für Aaron, den Hausdiener, fiel ein Teil des Reichtums ab. Zwar waren es nur Kupfermünzen, die in seiner ausgestreckten Hand verschwanden. Aber dafür konnte er sich plötzlich Wein statt Wasser leisten. Früher hatte er von schmaler Kost gelebt und sich oft vor Schwäche kaum noch auf den Beinen gehalten. Jetzt rebellierte sein Magen, weil ihm der Überfluss an Speisen nicht bekam.

Bei dem Gedanken daran krampfte sich alles zusammen in Aaron. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Er hörte, wie sein Herz zu rasen begann, und tastete schon wieder hilfesuchend nach einer Hauswand. Die groben Steine, die notdürftig mit Lehm verstrichen waren, gaben ihm Halt. Aaron fühlte auf einmal einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Er sehnte sich nach der Wärme der Herberge. Hoffentlich hatte der Wirt seinen Schlafplatz noch nicht vergeben, sonst musste er sich draußen im Hof niederlegen, bei den Kameltreibern und ihren Tieren.

Sobald irgendwo ein Gewinn lockte, war Josias alles zuzutrauen. Wie lästigen Abfall kehrte er die Armen zur Herberge hinaus, während er die Reichen katzbuckelnd begrüßte und umschwärmte, als brächten sie königlichen Glanz in sein Haus. Aaron dachte an das Paar, das er zur Höhle bei den Schafweiden geführt hatte. Die Frau, die auf einem Esel saß, war schon in den ersten Wehen gewesen. Jedenfalls hatte sie immer wieder die Arme um den vorgewölbten Leib gepresst und dazu in leisen, heftigen Stößen gestöhnt.

Aaron kam nicht mehr los vom Bild dieser Frau. So vieles erschien ihm rätselhaft an ihr. Wieder hämmerte sein Herz. Die feuchte Luft setzte ihm zu. Er hustete, während er seinen Umhang enger um den Körper wickelte. Warum hatte er die Herberge so plötzlich verlassen ? Ohne auf die Verwünschungen des Wirtes zu achten, war er dem fremden Paar hinterhergelaufen. Wenn Aaron daran dachte, schüttelte er den Kopf über sich.

Mag sein, dass ihn die großen Augen der Schwangeren angerührt hatten. Diese Augen wollten, so schien es ihm, etwas sagen, was der Mund auf keinen Fall sagen durfte …

Während die Frau auf dem Esel gewartet hatte, war ihr Mann hilflos daneben gestanden. Seine Bitte um eine Unterkunft, die er stockend, kaum verständlich vorbrachte, blieb in der Luft hängen. Als er sich nach einer langen Pause aufraffte und noch einmal, noch dringender, um ein Lager für die Nacht bat, wurde er vom Wirt unterbrochen. Dieses Gesindel kam ihm gerade recht !

Aaron hatte die Weinkrüge am Brunnen gespült. Er wusste, dass er jetzt eine endlose Klage über die schlimmste aller Zeiten zu hören bekam. In jedem Menschen witterte der Wirt einen Schmarotzer und Betrüger. Damit pflegte Josias sein Gewissen zu entlasten, falls er überhaupt eines hatte. Während er auf die Bettler schimpfte, die von überallher nach Betlehem strömten, rückte er zu Aaron hinüber. „Schau mich an ! So wird man mit diesen Hungerleidern fertig“, sagte der triumphierende Blick des Wirtes.

Aber zum ersten Mal hatte Josias die Rechnung ohne seinen Hausknecht gemacht. Denn der stellte einfach die Krüge auf dem Brunnenrand ab. Dann folgte er dem Paar, das den Hof stumm vor Scham verlassen hatte. „Bist du verrückt ? Komm sofort zurück ! Meine Gäste wollen bedient werden“, brauste der Wirt auf. „Was gehen dich diese beiden Habenichtse an ?“

„Ich möchte ihnen nur die Höhle vor der Stadt zeigen“, gab Aaron zurück. „Die Frau braucht ein Dach über dem Kopf. Wenn sie heute Nacht ihr Kind bekommen sollte, dann …“

Er hatte den Satz nicht mehr vollendet. Stattdessen war er hinter den Fremden hergestolpert, mit verschlossenen Ohren, damit ihn die Schimpftiraden des Wirtes nicht mehr erreichten. „So wartet doch ! Ich kenne einen Ort, an dem ihr geschützt seid“, rief er. Seine dünne Stimme trug nicht sehr weit. Trotzdem blieb der Esel ruckartig stehen. Die Frau auf seinem Rücken drehte sich um. „Geschützt ?“, fragte sie. Es klang, als bräuchte sie überhaupt keinen Schutz. Als würde jemand seine Hand über das ungeborene Kind halten …

Aaron verbarg seine Verwunderung. Wahrscheinlich ist die Frau so abweisend, weil sie nicht zum ersten Mal mit bösen Worten fortgeschickt wurde, dachte er. Jeder Mensch verkraftet nur ein bestimmtes Maß an Enttäuschungen. Er versuchte ein Lächeln hinter seinem verwilderten Bart, dann musste er plötzlich husten.

„Wo ist dieser Ort ?“, erkundigte sich die Frau immer noch zögernd, während ihr Mann dem Knecht prüfend ins Gesicht sah. Noch bevor Aaron zu einer Erklärung ansetzen konnte, nickte der Fremde und ließ ihm den Vortritt. Wortlos folgte das Paar dem Alten hügelaufwärts. Es regnete unaufhörlich. Der Weg zwischen den Schafpferchen stand schon voller Wasser. Hastig setzte der Esel einen Huf vor den anderen. Vielleicht ahnte er, dass das Kind im Bauch der Frau immer ungeduldiger wurde.

So gingen sie in die beginnende Dunkelheit hinein. Der Knecht machte ein paar linkische Versuche, die Stille zu unterbrechen. Aber das Paar war viel zu erschöpft, um darauf zu antworten. Nach einer Ewigkeit, so schien es Aaron, kamen sie bei der Höhle an. Ihr Eingang lag verborgen hinter Gestrüpp. Aaron bog die Dornenzweige zur Seite. Was machte es schon aus, dass seine Hände zu bluten begannen ! Die Risse in der Haut schmerzten lange nicht so wie das Gefühl, dass er nur unzureichend helfen konnte.

Er hatte die schwangere Frau und ihren Mann hierher geführt, obwohl die Höhle höchstens als Unterschlupf für die Schafherden taugte. Sie roch modrig, roch nach der faulenden Nässe, die in ihren Wänden hockte. Verlegen zog Aaron einen angerosteten Wasserkessel aus dem Stroh. Dann suchte er ein paar Zweige zusammen und schichtete sie über der Feuerstelle aufeinander. Er hatte eine Hirtenlampe mitgebracht, deren flackerndes Licht die Höhle notdürftig ausleuchtete. Wenn Aaron sich bewegte, folgte ihm ständig sein Schatten. Eifrig liefen Aaron und der Schatten hin und her, als könnten sie noch etwas richten, vielleicht sogar in Ordnung bringen in dieser unordentlichen, heillosen Welt. Aber sie vermochten es nicht …