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Hermann Kügler

Neuer Mut zur Zärtlichkeit

in Beziehung, Freundschaft und Seelsorge

Ignatianische Impulse

Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ
und Martin Müller SJ
Band 65

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Hermann Kügler

Neuer Mut
zur Zärtlichkeit

in Beziehung, Freundschaft
und Seelsorge

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Umschlag: Peter Hellmund
ISBN
978-3-429-03740-6 (Print)
978-3-429-04769-6 (PDF)
978-3-429-06184-5 (ePub)

Inhalt

Eine Problemanzeige

1. Die katholische Kirche nach der Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs

2. »Hände weg« oder »zärtliche Seelsorge«?

3. Menschen machen Fehler – und entwickeln sich weiter

Exkurs: die besondere Situation homosexuell empfindender Priester und Ordensleute

4. Erfahrungen, Einsichten und Hilfen aus der Spiritualität von Ignatius

5. Beziehungen liebevoll gestalten

6. Hinweise für eine zärtliche Seelsorge

Eine Problemanzeige

Nähe schenken und Freiräume gewähren: das ist eine Grundspannung in jeder Beziehung. Wie man sie gut und menschenfreundlich leben und gestalten kann, ist Thema dieses Buches. Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass nach den Missbrauchsfällen in der deutschen Kirche in den vergangenen Jahren viele Menschen fundamental verunsichert sind. Engagierte Gemeindemitglieder fragen sich, ob sie ihre Kinder überhaupt noch in kirchliche Schulen und Internate schicken oder Priestern in der Kinder- und Jugendarbeit anvertrauen können.

Priestern und kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geht es ebenso: Können sie Schutzbefohlenen noch unbefangen begegnen? Dürfen sie Kindern und Jugendlichen gegenüber Nähe und Zuwendung körperlich ausdrücken? Dürfen sie Kinder trösten, wenn sie weinen, sie auf den Schoß oder in den Arm nehmen, wenn sie traurig sind? In der Kirche herrscht mittlerweile eine »Null-Toleranz-Politik«:1 Berührungen, Streicheln, erst recht Zärtlichkeiten sind absolut tabu; und man darf mit Kindern und Schutzbefohlenen nicht mehr allein in einem Zimmer sein.

Aber geht mit solch rigiden Regelungen nicht auch viel Wertvolles verloren? Ein Pfarrer ist unsicher, wie er sich im Kommunionunterricht den Kindern gegenüber verhalten soll. Der Unterricht findet in einem Raum mit einer Glastür statt, so dass er von außen eingesehen werden kann. Der Pfarrer möchte unter allen Umständen vermeiden, dass er in eine missverständliche Situation geraten und verdächtigt werden könnte, Grenzen zu überschreiten.

In einem Kurs für Berufsanfänger im kirchlichen Dienst berichtet ein junger Kaplan, er getraue sich nicht mehr, mit Kindern und Jugendlichen ins Zeltlager zu fahren oder eine Sommerfahrt zu machen, weil er sich nicht dem Verdacht aussetzen wolle, sich unangemessen zu verhalten.

Ähnliche Verunsicherungen bestehen für Kleriker auch bei der Gestaltung persönlicher freundschaftlicher Beziehungen: Was geht und was geht nicht? Was passt und was ist unschicklich? In dem Buch »Unheilige Macht«, in dem es um einen Zwischenbericht zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Jesuitenorden geht, haben wir Herausgeber einen Briefwechsel zwischen einem Jesuiten und einer guten Freundin abgedruckt.2 Wir haben lange miteinander darum gerungen, ob wir diesen Briefwechsel überhaupt – und in welcher Weise – publizieren. Einerseits wollten wir ihn als ein authentisches Lebenszeugnis veröffentlichen, anderseits war es uns ganz wichtig, dass nicht der falsche Eindruck entsteht: Hier lebt ein nicht mehr ganz junger Jesuit ein Doppelleben unter dem Deckmantel der Frömmigkeit und der Orden schaut womöglich augenzwinkernd zu.

In diesem Buch nun soll es um die beiden Herausforderungen gehen: Wie gestalten zölibatär lebende Seelsorger, Priester und Ordensmänner in guter und heilsamer Weise menschliche Nähe in seelsorglichen Beziehungen? Und wie drücken sie in persönlichen Freundschaften ihre Zuneigung aus? Theologisch und spirituell besteht zwar ein Unterschied zwischen der »Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen«, die die Ordensleute im Gelübde der Keuschheit freiwillig versprechen, und der Verpflichtung zum Zölibat, die die von der Kirche geforderte Zugangsvoraussetzung für den priesterlichen Dienst ist. Aber in der Praxis macht beides keinen großen Unterschied; und deshalb benutze ich beides im Folgenden synonym.

Das vorliegende Buch soll zum einen eine Hilfe für Priester und Ordensleute bei der Gestaltung von beruflichen Beziehungen und persönlichen Freundschaften sein. Zum anderen soll es für alle Interessierten nützlich sein, die verstehen wollen, wie zölibatäre Seelsorger sich erleben. Und schließlich ist eine gute Balance von Nähe und Distanz, Zärtlichkeit und Abgrenzung ein Lebensthema, das alle Menschen betrifft und von dem hoffentlich niemand sagen kann, er sei damit ein für alle Mal »fertig«.

Dabei schreibe ich als Mann aus männlicher Perspektive und habe als Adressaten zunächst Männer im Blick. Ob die weibliche Sicht- und Erlebensweise grundsätzlich eine andere ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber in einem Punkt bin ich mir sicher, nämlich dass immer noch gilt, was zwei große Heilige aus der Frühzeit des Christentums gesagt haben: »Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles nützt mir. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich« (1 Kor 6,12), sagte Paulus vor bald 2.000 Jahren. Und Augustinus meinte vor mehr als 1.500 Jahren: »Ama et fac quod vis« – liebe, und was du dann tun willst, das tu auch!3

Leipzig, im Sommer 2014

Hermann Kügler SJ

1. Die katholische Kirche nach der Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs

Unangemessenes Verhalten gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen ist keine Besonderheit der katholischen Kirche, sondern ein Problem der ganzen Gesellschaft. Und es gibt weder in der Gesellschaft noch in der Kirche eine einheitliche Sichtweise, sondern große kulturelle Unterschiede, welches Verhalten angemessen ist und welches nicht. In unserem mitteleuropäischen Kulturraum gab es in der Kirche – holzschnittartig dargestellt – diese Entwicklung:

Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) schien von außen betrachtet relativ klar, wie ein zölibatär lebender Seelsorger sich zu verhalten hatte, was er tun durfte und was als unschicklich galt. Während in der bürgerlichen Gesellschaft mit Ende des Ersten Weltkrieges die Stände abgeschafft wurden und es in der Folge keine ständisch gegliederte Gesellschaft mehr gab, galt dies in der Kirche lange Zeit noch nicht. Es gab den »Laien-Stand« und den »Geistlichen Stand«, wobei nicht immer klar der »Ordensstand« als Lebensform und der »Priester-Stand« als Stand der Amtsinhaber unterschieden wurden. Augenfälliges Kennzeichen der Zugehörigkeit war eine eigene Standeskleidung, an der man sogleich erkannte, zu welchem Stand jemand gehörte. Der Schleier der katholischen Nonnen, der Priesterkragen der Pfarrer und der Habit der Mönche waren eben nicht Funktions-, sondern Standeskleidungen. Vielleicht kann man sie mit dem Personalausweis vergleichen; daran kann ich sehen, wer jemand ist.

Mit der Zugehörigkeit zum »Geistlichen Stand« waren bestimmte Verhaltensvorschriften und Umgangsformen verbunden. Die Klausur im Kloster schützte die Mönche oder Nonnen vor unerwünschten Eindringlingen in den klösterlichen Innenbereich. Bei einem Besuch im Noviziat eines Männerordens durfte der Vater die Innenräume des Hauses betreten, die Mutter musste im Sprechzimmer warten. Undenkbar, dass ein Priester in ein öffentliches Schwimmbad oder gar in die Sauna gegangen wäre, was etwa Jugendseelsorger gelegentlich in Konflikte brachte. Besuche von Priesteramtskandidaten »zu Hause« bei den Eltern wurden nur bei besonderen Gelegenheiten erlaubt. Und nicht wenige Priester dieser Generation berichten, dass diese Erlaubnis vom Leiter des Priesterseminars vielleicht zur Teilnahme an der Beerdigung der Mutter, nicht aber zur Mitfeier bei der Hochzeit der Schwester gewährt wurde. Die Klosterpforte wurde mit Einbruch der Dunkelheit verschlossen. Einen Schlüssel hatten der Vater Abt und der Bruder Pförtner. Undenkbar, am Abend noch mit einem Mitbruder auf ein Bier in die Dorfkneipe zu ziehen!

Aber da auch Priester und Ordensleute Freizeit und Erholung benötigen, schaffte man für sie eigene Residuen und Biotope. So nannten die Seminaristen einer deutschen Diözese das dem Priesterseminar angeschlossene und nur von ihnen benutzbare Freibad das »Zöli–Bad«. Diese Beschreibung mag ein wenig plakativ sein, doch trifft sie die Realität der damaligen Zeit. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und besonders in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gab es in der Kirche einen großen Nachholbedarf und den Wunsch, im Lebensstil und Verhalten Anschluss zu finden an die Moderne, und dies durchaus mit Billigung und Gutheißung und nicht selten mit Ermutigung der kirchlichen Vorgesetzten. So gab damals Papst Paul VI. den Ordensgemeinschaften die Erlaubnis, nach Abwägung von Pro und Contra in eigener Verantwortung die Klausur in den Klöstern zu lockern.

In der Seelsorge entdeckten Priester und Ordensleute die Wichtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und die Bedeutung der Beziehung als Hauptmedium der Seelsorge. Nichtdirektive Beratung, die den anderen Menschen wertschätzt und ohne Bedingungen annimmt, avancierte zum Königsweg von Seelsorgegesprächen schlechthin. Priester und Ordensleute nahmen an »gruppendynamischen Laboratorien« teil. Sie entdeckten ihre eigenen ungelebten Seiten, die Bedeutung biographischer Zusammenhänge für ihre Lebenswahl und die Faszination echter menschlicher Begegnungen. Es herrschte nicht selten eine fast pubertär-euphorische Aufbruchstimmung. Und wie das in der Pubertät so geht, unterschätzten viele die Eigendynamik menschlicher Begegnungen und überschätzten ihre eigenen Fähigkeiten, sie angemessen zu gestalten.

Pointiert gesagt: So wie das Ordenshaus mit Chorgebet und klösterlicher Lebensordnung als Hort von Regeln und Ge- und Verboten erlebt und als lebenseinschränkend erfahren wurde, so war das Bildungshaus mit Sensitivity- und Encounter-Gruppen, Gruppendynamik und Gestalttherapie der Hort von Freiheit und neuen Erfahrungen, auch von kalkulierten oder in Kauf genommenen Grenzerweiterungen und -überschreitungen. »Ich habe hier Gefühle entdeckt, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt, geschweige dass ich sie habe«, sagte ein Priester nach einem fünftägigen Selbsterfahrungsseminar.

Unterdessen herrscht im fachlichen Wissen und praktischen Verhalten nicht mehr so viel Unkenntnis, Unsicherheit und Verdrängung wie bis zur Aufdeckung der Missbrauchsfälle. Präventionskonzepte sind bzw. werden etabliert. In Seelsorgsbeziehungen achten Priester und Mitarbeiter auf Distanz. So ist die derzeitige Situation im deutschsprachigen Kulturraum gekennzeichnet durch Vorsicht und Wachsamkeit.