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„Demnach empfangen die Räume ihr Wesen
aus Orten und nicht aus ‚dem‘ Raum.“

Martin Heidegger
Bauen, Wohnen, Denken, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. VII,
Pfullingen 92000, 145-164, 156

Rainer Bucher

An neuen Orten

Studien zu
den aktuellen Konstitutionsproblemen
der deutschen und österreichischen
katholischen Kirche

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Gedruckt mit Unterstützung der Karl-Franzens-Universität Graz sowie des Styria-Fonds der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Graz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

Umschlag: Hain-Team (www.hain-team.de)

Druckerei: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN

978-3-429-03687-4 (Print)

978-3-429-04748-1 (PDF)

978-3-429-06162-3 (ePub)

INHALT

Vorwort

Teil I: Lagen

Eine alte Kirche in ziemlich neuen Zeiten. Zu den Reaktionsmustern
der katholischen Kirche auf ihre aktuelle Transformationskrise

Die Provokation annehmen.
Welche Konsequenzen sind aus der Sinusstudie zu ziehen?

Die Entdeckung der Kasualienfrommen.
Einige Konsequenzen für Pastoral und Pastoraltheologie

Es geht um etwas Neues.
Die pastoraltheologische Herausforderung der Kirchenaustritte

Religion als Wahrnehmung.
Zum österreichischen Katholizismus

Machtkörper und Körpermacht.
Die Lage der Kirche und Gottes Niederlage

Ziemlich irrelevant – spätestens heute. Eine pastoraltheologische Lektüre
des Synodenbeschlusses „Ehe und Familie“

Die Macht der Frauen und die Ohnmacht der katholischen Kirche
Zum Ausklingen der patriarchalen Definitionsmacht

Teil II: Sozialformen

1935 – 1970 – 2009.
Ursprünge, Aufstieg und Scheitern der "Gemeindetheologie“ als Basiskonzept
pastoraler Organisation der katholischen Kirche

Wider den sanften Institutionalismus der Gemeinde.
Zur Priorität der Pastoral vor ihren sozialen Organisationsformen

Kirchenpolitik und pastoraltheologischer Diskurs.
Beiläufige Beobachtungen über ihren Zusammenhang am Beispiel einer
Kontroverse zwischen M. Ebertz und J. Werbick

Der lange Weg vom Erlaubnis- zum Ermöglichungsdiskurs.
Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext der Konstitutionsprobleme
der katholischen Kirche in den entwickelten Gesellschaften Deutschlands
und Österreichs

Das Ende der Überschaubarkeit.
Perspektiven einer zukünftigen Sozialgestalt von Kirche

„Dein Projekt liebt Dich“.
Von der Rollensteuerung zur Projektsteuerung in der Pastoral?

Jenseits von Inklusion und Exklusion.
Plädoyer für eine „ökumenische Pastoral“

Teil III: Orte

„Was Ihr den geringsten…“.
Die Kirche und ihre Diakonie

Vom Aschenputtel zum Imageretter.
Die Caritas in der Transformationskrise der katholischen Kirche

Deus caritas est.
Eine Betrachtung dreier Stellen der Enzyklika Benedikts XVI.

Aufgebrochen durch Urbanität.
Transformationen der Pastoralmacht

Zur prekären Zukunft der Kirche im ländlichen Raum

Was Gott mit einer katholischen Schule zu tun haben könnte.
Thesen zur Aufgabe einer alten Institution in neuen Zeiten

Die Jugendpastoral in der Transformationskrise der Kirche.
Chancen und Risiken einer erzwungenen Neuorientierung

Bildungspastoral.
Zur notwendigen Kirchlichkeit katholischer Erwachsenenbildung

Hochschulpastoral – Orte der Avantgarde?

Gekaufte Eliten?
Zur theologischen Problematik kirchlicher Begabtenförderung

Katholische Intellektualität.
Ein Versuch

Multireligiöse Räume an staatlichen Universitäten.
Ein katholisches Plädoyer

„… jetzt schauen wir in einen Spiegel“.
Einige Kriterien für die „Öffentlichkeitsarbeit“ der Kirche

Liquidierungen.
Der Verkauf von Kirchen und die aktuelle Neukonstellation pastoraler Orte

Teil IV: Akteure

Nicht Selbstzweck.
Pastorale Professionalität in der Transformationskrise der Kirche

Priestertum und Anerkennung.
Thesen zur Priesterausbildung

„Geistliche Vaterschaft“.
Risiken und Chancen eines ehrwürdigen Konzepts

Das Priestertum im Kontext der Dienste und Ämter in der katholischen Kirche.
Soziologische und pastoraltheologische Perspektiven

Das freie Amt.
Der Diakon in der zukünftigen Sozialgestalt der Kirche

Beruf und Berufung.
Zwölf Thesen zur Lage der Pastoralreferenten und Pasotralreferentinnen

Das Ehrenamt in der Transformationskrise der katholischen Kirche.
Risiken und Perspektiven

Teil V: Pastorale Konzepte

Was geht und was nicht geht.
Zur Optimierung kirchlicher Kommunikation durch Zielgruppenmodelle

Neue Machttechniken in der alten Gnadenanstalt?
Organisationsentwicklung in der Kirche

Communio.
Zur Kritik einer pastoralen Projektionsformel

Neuer Wein in alte Schläuche?
Zum Innovationsbedarf einer missionarischen Kirche

Pastorale Heilungspraktiken.
Überlegungen zu ihrer Attraktivität und Problematik

Teil VI: II. Vatikanum

Nur ein Pastoralkonzil?
Zum Eigenwert des II. Vatikanischen Konzils

„Gott bewahre uns vor dem Historismus und Relativismus im Umgang
mit den Standpunkten des Konzils“.
Über die praktischen Konsequenzen zwiespältiger Konzilsrezeption

Die Optionen des Konzils im Rezeptionsprozess der deutschen
katholischen Kirche

„Sie sind nicht mehr katholisch“.
Lerneffekte eines eliminatorischen Katholizismus

Gesamtliteraturverzeichnis

Originalveröffentlichungen

Anmerkungen

VORWORT

Die religionssoziologisch fassbaren Kontexte kirchlichen Handelns verändern sich dramatisch. Diese Verschiebungen berühren die unterschiedlichsten Ebenen: das Individuum und sein Verhältnis zu religiösen Praktiken und Gehalten, die religiöse Fundierung, Orientierung und Interpretation der unmittelbaren Nahbeziehungen des Einzelnen, den intermediären Sektor zwischen Individuum und Gesellschaft und die auf ihm angesiedelten Sozialformen religiöser Vergesellschaftung, und sie betreffen die Nationalgesellschaften wie die zunehmend globalisierte Weltgesellschaft und ihre jeweiligen religionspolitischen Positionierungen und Realitäten.

Auf all diesen Ebenen spielen sich auch in dem nach 1648 über lange Zeit religionspolitisch stabil regulierten deutschsprachigen Raum vielfältige, teilweise unabsehbare, offenbar aber grundlegende Veränderungsprozesse ab. Das bedeutet unter anderem, dass die katholische Kirche nicht mehr jene ist, die sie einmal war. Denn die epochalen Kontextveränderungen kirchlichen Handelns schreiben sich diesem Handeln selbst ein, kreieren neue Orte auch im Alten und schaffen damit völlig neue Räume.

Es ist schon die Frage, ob man in solch einer unübersichlichen Lage überhaupt genau wissen kann, wo man ist und wer man dort ist. Diese Unsicherheit der Selbstwahrnehmung und Ortsbestimmung teilt die katholische Kirche zwar mit vielen anderen Institutionen, denn nicht genau zu wissen, wer und man in den eigenen und in den Augen der anderen ist und wo man ist, markiert eine Signatur der Postmoderne. Deren Hauptaufgabe dürfte die Entdeckung der eigenen Gegenwart als möglicher Basis einer möglichen Zukunft sein. Es ist dabei völlig unwichtig, was die katholische Kirche von all dem hält, es geht vielmehr darum, wie sie an neuen Orten neue Orte schafft, die Räume bilden, in denen die Chancen steigen, dass ihre alte und einzige Aufgabe erfüllt wird.

Der hier vorgelegte Band versammelt ausgewählte Beiträge, die der Verfasser in den letzten Jahren zu pastoraltheologischen Fragestellungen im Kontext von Kirchenbildungsproblemen im deutschsprachigen Raum1 vorgelegt hat. Die Texte entstanden häufig auf konkrete Anfragen aus der pastoralen Praxis hin, oft im Rahmen von Fortbildungen, bisweilen auch auf Bitten der Herausgeber theologischer Fachzeitschriften und kollegialer Sammelbände. Die thematische Ausrichtung dieses Buches dokumentiert so einerseits die spezifischen Interessen des Verfassers, es spiegeln sich in den verhandelten Themen aber auch die Problemlagen der pastoralen Akteure.

Damit ist diesen Überlegungen freilich eine Grenze eingeschrieben: Sie erkunden das Neue von den Differenzerfahrungen der herkömmlichen Akteure an neuen Orten her. Ein kommendes Projekt müsste diese von der Vergangenheit bestimmte (Zentral-)Perspektive verlassen und endgültig von den neuen Orten her denken; dass sich pastorale Akteure freilich heute schon nur noch an dezentralen, pluralen, flüchtigen und riskanten Orten befinden, darüber lassen die vorliegenden Untersuchungen keinen Zweifel.

Sie werden der Fachöffentlichkeit noch einmal gebündelt in der Hoffnung vorgelegt, dass sich in ihrer Gesamtschau ein Umriss der aktuellen Konstitutionsprobleme der deutschen – und mit gewissen spezifischen Differenzierungen: österreichischen – katholischen Kirche ergibt. Die Beiträge wurden in ihrer Substanz wie in ihren Fußnoten gegenüber der Originalpublikation nicht verändert. Offenkundige Fehler wurden ausgebessert, Wiederholungen so weit als möglich gestrichen.

Dieser Band steht im Kontext einiger anderer vom Autor in letzter Zeit vorgelegter Veröffentlichungen, so Theologie im Risiko der Gegenwart, Stuttgart 2010, in dem einige Grundlagenfragen des Faches diskutiert werden, wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche, Würzburg 2012, das für einen Leserkreis über den engeren Wissenschaftsbetrieb hinaus geschrieben wurde, sowie Priester des Volkes Gottes, Würzburg 2010, in dem eine gegenwärtig besonders gefährdete Gruppe thematisiert wird.

Frau Ingrid Hable hat die umfangreiche Arbeit der Texterfassung für dieses Buches mit jener Genauigkeit, Unermüdlichkeit und Zuverlässigkeit übernommen, die mir seit vielen Jahren so wertvoll sind: Dafür danke ich ihr sehr! Herzlich danke ich auch dem Echter-Verlag für die jahrelange ausgezeichnete Zusammenarbeit, die sich bei diesem Buch wieder einmal bewährt hat.

Graz, im Mai 2014

Rainer Bucher

TEIL I: LAGEN

EINE ALTE KIRCHE IN ZIEMLICH NEUEN ZEITEN

Zu den Reaktionsmustern der katholischen Kirche auf ihre aktuelle Transformationskrise

1 Die neuen Zeiten

„Jene neue Zeit, die schließlich gar die „Neuzeit“ schlechthin wurde, begann ironischerweise mit einer ausgesprochen postmodernen Anekdote. Als Columbus 1492 auf Land stieß, erkannte er schnell, dass es Inseln waren. Das war ja richtig. Ihr Name aber dokumentiert bis heute einen kontinentalen Irrtum des Columbus: Man nennt sie immer noch Westindische Inseln. Sie liegen aber nicht vor Indien, sondern vor Amerika. Angeblich war dies Columbus bis zu seinem Tode nicht wirklich klar.“2

Modern ist es, ein Projekt zu entwickeln, es zäh und gegen widrige Winde und Menschen durchzusetzen und mit Erfolg abzuschließen. Der ganze Wissenschaftsbetrieb und teilweise auch die Kirche werden gegenwärtig auf dieses Schema umformatiert, werden von „Habsburg“ auf „Chicago“ umgepolt.3 Columbus könnte daran erinnern, dass es bisweilen anders kommt, vor allem aber, dass man es manchmal gar nicht so schnell merkt, dass es anders gekommen ist.

Das ist die zentrale postmoderne Erkenntnis: Es wird anders kommen als geplant. Der Nationalsozialismus wollte die Weltherrschaft der Deutschen, er hat sie in ihr größtes moralisches und materielles Elend geführt. Der Kommunismus glaubte die Geschichte verstanden und die neue Zeit mit sich zu haben, hat sie aber seit 1989 hinter sich. Der liberale Westen glaubte die Religion abgekühlt zu haben, aber er hat sie mit seiner kulturellen Globalisierung an verschiedenen Stellen wieder heiß gemacht. Der Irakkrieg sollte den islamischen Fundamentalismus beseitigen, er hat ihn aber gestärkt. Die moderne Verkehrstechnologie sollte die Erde verfügbar machen, ihr CO2-Ausstoß droht sie aber in Teilen unbewohnbar werden zu lassen.

Die Zukunft wird die Folge unserer Projekte sein, aber diese Folgen werden ein wenig anders sein, als man so dachte. Auch wir entdecken neue Kontinente, aber die eigentliche Aufgabe besteht darin, zu entdecken, wo wir eigentlich gelandet sind. Die Zeiten sind so neu, dass wir noch gar nicht begriffen haben, wie neu sie sind, und eben dieses Nichtbegreifen, genauer: die Einsicht in das Nichtbegreifen stellt das Neue dar. Denn modern war man sich eines sicher: der Zukunft.

Wenn es eine postmoderne Erkenntnis gibt, dann jene, dass wir nicht die souveränen Herren der Zukunft sind, wie es die Moderne uns weismachen wollte. Der Kirche war das immer klar, aber aus einem eher zweifelhaften Grund. Sie glaubte, mit Hilfe ihres Zugangs zur Gottesmacht souveräne Herrin der Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein. Die klassische Moderne hat sie von diesem Thron gestoßen, das ist deren bleibendes Verdienst, aber viel besser wurde es dadurch lange nicht, eher im Gegenteil. Nie floss so viel Blut wie im vergangenen „Jahrhundert des Menschen“.

Die Postmoderne glaubt daher auch nicht mehr an den Menschen, sondern an Technologien. Wir werden primär nicht über politische, also explizite und gesellschaftliche, sondern über technologische, also klandestine Umbauprozesse unterhalb der öffentlichen Bewussteinsschwelle gesteuert. Deren Konsequenzen und Verarbeitung sind den Einzelnen, ja ganzen Gesellschaften überlassen – mit individuell und gesellschaftlich ungewissem Ausgang. Das Neue an den neuen Zeiten ist also nicht, dass sie neu sind, das wäre trivial, sondern dass niemand so genau weiß, wie und worin neu. Wir sind im gewissen Sinne im Stadium des späten Columbus, der ahnte, dass er etwas anderes entdeckt hatte, als er selber gedachte hatte, aber nicht genau wusste, was.

Natürlich reagiert die katholische Kirche auf die neuen Zeiten und deren kulturelle Revolutionen. Deren verstörendste4 dürfte die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse, deren verführerischste die mediale Verflüssigung unserer Wahrnehmungs- und Symbolsysteme und deren weitreichendste die ökonomische Globalisierung sein. Die natürliche Reaktion einer konservativen Institution besteht erst einmal darin, so zu tun, als könne man diese Veränderungen überstehen, ohne sich verändern zu müssen. Es ist die klassisch konservative Versuchung zu glauben, dass sich zwar „die Welt da draußen“ verändere, aber man sich in ihr nicht, und man daher mit dieser „Welt da draußen“ von außen umgehen könne, so als ob die kulturellen Revolutionen der Gegenwart nicht auch gläubige Menschen beträfen. Genauer: Es ist die Versuchung, die Irritationen dieser Einschreibungen dadurch zu bearbeiten, dass man sie „in die Welt draußen“ externalisiert und dann kulturpessimistisch kommentiert oder auch naiv rezipiert.

Auf die Medienrevolution reagiert man dann mit der Strategie der Instrumentalisierung: so als ob die neue Medienlandschaft nicht auch schon in uns alle eingeschrieben wäre und beispielweise die religiöse Zeichenlandschaft nicht grundlegend umgebaut hätte. Auf die Globalisierung wiederum reagiert man moralisierend. Ähnlich wie schon bei früheren Durchsetzungswellen des Kapitalismus erkennt man sehr scharf und zu Recht die Opfer, die sie fordern, stellt sich auch auf ihre Seite, bleibt aber doch eher in einer klagenden Beobachterposition. Freilich, um gerecht zu sein: Hier scheint die katholische Kirche am weitesten, ist sie eine international gehörte Gesprächspartnerin. Am hilf- und ratlosesten aber reagiert sie auf das Ende des Patriarchats.5

Man kann all diesen Versuchungen nur entgehen, wenn man realisiert, dass diese Revolutionen nicht nur für andere, sondern auch für die Kirche selbst gelten und also auch für sie einen grundlegenden Wandel bedeuten. Das aber setzt die Abkehr von jeder Selbstgerechtigkeit voraus. Oder weniger moralisch ausgedrückt: Es setzt die Abkehr von der Vorstellung voraus, die katholische Kirche könne sich einfach als mächtiges Subjekt ihrer selbst begreifen.

Denn das ist sie nicht mehr. Auch die katholische Kirche wird im Leben und Denken vieler Menschen an den Rand oder darüber hinaus gedrückt, wird zu einem Randphänomen selbst im Leben vieler ihrer eigenen Mitglieder.6 Diese Marginalisierung trifft gerade die institutionsstolze katholische Kirche an einem zentralen Punkt ihrer neuzeitlichen Geschichte: ihrer institutionellen Lebensform. Spätestens seit dem Konzil von Trient hatte sich die katholische Kirche gerade über diese ihre institutionelle Lebensform definiert und das ja über lange Zeit mit einigem Erfolg. Gegenwärtig aber muss die Kirche damit umgehen, dass mit ihr umgegangen wird und dass auch ihre ehrwürdige institutionelle Tradition dies nicht verhindert. Die aktuelle Marginalisierung der Kirche deckt auf, dass sie schon lange nicht mehr ihren Ort in Gesellschaft und Kultur, Staat und Politik einfach selbst bestimmen kann. Sie ist zwar Subjekt ihrer selbst, aber eben auch Unterworfene ihrer Zeit. Sie und ihre Themen werden ihr auch von außen gesetzt, und nirgends zeigt sich dies deutlicher als dort, wo sie getroffen aufbraust.

Der zentrale religionssoziologische Hintergrundbefund hierfür dürfte sein, dass sich Religion offenbar zunehmend nach jenem Muster vergesellschaftet, nach dem in dieser Gesellschaft nun einmal immer mehr organisiert wird: Religiöse Praxis wird zunehmend nach den Regeln des Marktes organisiert. Für diese Annahme spricht nicht zuletzt, dass auf ihrer Basis die drei gegenwärtig virulentesten religionssoziologischen Thesen auf einer höheren Ebene synthetisiert werden können.

Die schon etwas ältere Säkulariserungsthese7 hält dann die schlichte Wahrheit fest, dass sich niemand auf spezifische Märkte begeben muss und dass sich tatsächlich manche gar nicht erst auf den religiösen Markt begeben. Die These von der religiösen Individualisierung8 hält dann fest, dass, wer sich aber auf den religiösen Markt begibt, auf diesem Markt zumindest grundsätzlich auch jene Freiheit behält, wie sie Kunden zusteht: Er behält sie diachron, denn er kann den Anbieter wechseln, wenn er will, und er behält sie synchron, denn er kann verschiedene Anbieter kombinieren. Und er behält die Freiheit zu wechselnder Intensität, auch das entspricht normalem Kundenverhalten.

Die Postsäkularitätsthese9 hält dann die selbst etwas verwunderliche Verwunderung fest, dass es den religiösen Markt überhaupt noch gibt, dass er doch unerwartet stabil zu sein scheint und dass mit ihm weiter zu rechnen ist, wie etwa die Zahlen des Religionsmonitor 2008 zeigen.10 Oder anders und kurz gesagt: Die Säkularisierungsthese hält die Freiheit vor dem religiösen Markt, die Individualisierungsthese die Freiheit im religiösen Markt und die Postsäkularitätsthese die Freiheit des religiösen Marktes – etwa gegenüber den mehr oder weniger Gebildeten unter seinen Verächtern – fest.

Für die Kirchen, die katholische zumal, hat diese innerhalb der Deregulierungsgeschichte Europas letztlich erstaunlich späte Deregulierung religiöser Praxis einschneidende Folgen. Es bedeutet schlicht: Religion wird nicht mehr im kirchlichen Dispositiv vergesellschaftet, das Religion in Konzepten von exklusiver Mitgliedschaft, lebenslanger Gefolgschaft und umfassender religiöser Biografiemacht organisierte.

Es herrscht auch nicht mehr das aufklärerische Dispositiv des Religiösen, das sich an der Konsistenz religiöser Praxis und religiöser Inhalte vor der Vernunft abarbeitete und von dieser Konsistenz her Religion beurteilte, manchmal auch verurteilte. „Der Problemhorizont religiösen Erlebens ist die individuelle Lebensführung“,11 so der Münchener Soziologe Armin Nassehi in seiner Auswertung des Religionsmonitors 2008. Die für den Religionsmonitor geführten Interviews folgen daher auch „zum größten Teil nicht jener bürgerlichen Erwartung an Konsistenz und konfessionelle Eindeutigkeit der religiösen Selbstbeschreibung.“12 Was herrscht kann man vielleicht am ehesten als autologisches Dispositiv bezeichnen, als Organisation und Praxis von individueller Religion nach dem, durchaus nicht beliebigen und trivialen, aber stets individuellen biografischen Bedürfnis. Das folgt einer eigenen Logik, der Logik der prekären Lebensbewältigung auch mit Hilfe von Religion.

2 Die zweifache Gefahr des Marktes

Die alten Anbieterinstitutionen der Religion geraten dadurch natürlich unter massiven Transformationsstress. Vor allem müssen sie ein Konzept finden, auf dem Markt zu agieren, ohne ihm zu verfallen. Das müssen sie, denn sie haben gar keine Alternative: Die Kirchen können den Kontext ihres Handelns nicht mehr selber kontrollieren, was sie ja lange konnten und noch länger wollten. Dem Markt verfallen, das dürfen sie nun aber um ihrer Botschaft willen auch nicht. Denn in dieser Botschaft geht es um Umkehr und Erlösung, um Tod und Auferstehung der Leidenden und nicht um das schöne, reiche Leben des spätestens gegen die Armen und Kranken erbarmungslosen Marktes.

Ohne Zweifel: Die Kirche ist auf den (religiösen) Markt geraten, eine irreversible Änderung ihrer Kontextbedingungen epochalen Ausmaßes. Eines aber hat sich nicht geändert: Wie schon in früheren Epochen ihrer Geschichte und damit in der Inkarnationsgeschichte der christlichen Botschaft unterliegt die Kirche auch heute der Dialektik von „nicht entkommen können“, aber auch „nicht verfallen dürfen“. War sie in vormodernen, feudalen Zeiten „an die Macht“ geraten und damit in eine Situation, der sie ebenfalls weder entkommen konnte, noch einfach verfallen durfte, was ihr zwischen Franz von Assisi (1181-1226) und Bonifaz VIII. (1235-1303) bekanntlich recht unterschiedlich gelang, so steht die Kirche heute vor dem Grundproblem, aus einer institutionalistischen Marktperspektive herauszukommen, ohne deren Wahrheitsgehalt, nämlich tatsächlich „auf dem Markt“ zu sein, zu übergehen.

Die Kirche befindet sich auf dem Markt und dem entkommt sie nicht. Sie hat dennoch oder gerade deshalb etwas zu repräsentieren, was jenseits des Marktes liegt. Der religiöse Markt eröffnet nun aber, wie jeder Markt, viele Möglichkeiten, vor allem befreit er von religiöser Repression. Das ist eine große Befreiung. Aber er ist auch blind gegenüber zentralen Phänomenen menschlicher Existenz. Er neigt zum Beispiel dazu, die Unabgeschlossenheit und Geheimnishaftigkeit menschlicher Existenz einzuebnen in ein reduktionistisches Bedürfnis/Konsum-Schema und in einem konsumintensiven Leben das Ziel menschlicher Existenz zu sehen. Vor allem aber ist er gegenüber jenen gnadenlos, die sich nicht auf ihm behaupten können: etwa den Armen und Kranken.

In dieser Situation droht der Kirche eine verhängnisvolle Verkehrung: Einerseits lösen die Pluralisierungs- und Relativierungsprozesse, die funktionierende Märkte provozieren, innerkirchliche Probleme allein schon bei ihrer Wahrnehmung aus. Viele kirchliche Leitungsverantwortliche sind offenkundig irritiert vom Souveränitätsverlust, den das bedeutet. Mit anderen Worten: Man hat Probleme mit der freiheitsstiftenden Funktion des Marktes. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass man sich gerade hier gerne in enthobene Positionen der Singularität, der scheinbaren Nicht-Relativierbarkeit und Unangreifbarkeit flüchtet. Natürlich bleiben das im Wesentlichen diskursive Strategien mit vor allem selbsttherapeutischem Charakter. Verhängnisvoll werden sie freilich, wenn sie den Diskurs verlassen und versuchen, in kontrollierbaren Restfeldern der Kirche praktisch zu werden, sei es in periodischen Kontrollattacken gegenüber dem wissenschaftlichen theologischen Diskurs, sei es in jenen katholikalen13 Kristallisierungen, die zu beobachten sind.

Andererseits droht die Gefahr, dass man das Problematischste des Marktes akzeptiert: seine Selbstreferentialität, die den Markterfolg als letztes Handlungskriterium auf dem Markt setzt.14 Es wird nicht reichen, mehr oder weniger heimlich auf den Markterfolg zu schielen, wie es auf den verschiedenen Ebenen der Kirche wohl weit mehr geschieht, als man sich eingesteht. Denn dann holt einen ein, was damit verbunden ist: der religiöse Substanzverlust, genauer und wichtiger: der christliche Substanzverlust, der Verlust des Wissens, warum es einen gibt, unabhängig davon, welchen Erfolg man hat.

Man kann freilich in der gegenwärtigen Situation auch nicht bestehen, indem man sich in behauptete diskursive oder soziale Singularitäten flüchtet, indem man Relationalität, also sich selbst auf die Probe stellende Bezüge, grundsätzlich ausschließt. Eine Zeit lang wird eine verunsicherte Kultur ein solches exotisches Gegenprogramm fasziniert beobachten, dann aber holt diese Struktur ein, was ihr eben untrennbar eingeschrieben ist: ihre Selbstgerechtigkeit und ihre Blindheit sich selbst und den realen Bezügen gegenüber.

Die Marktsituation enthält für die Kirche mithin eine doppelte Versuchung: die Versuchung, auf den Markt genauso aufzuspringen wie früher auf die Nähe zur politischen Macht in der alten Verbindung von Thron und Altar oder zur pädagogischen Steuerungsmacht in der Herrschaft über die Einzelnen im geschlossenen katholischen Milieu zu werden. Und sie enthält die Versuchung, den Freiheitsgewinn des Marktes in regulierten diskursiven oder gesellschaftlichen Zonen zurückzunehmen.

3 Ein topologisches Programm: Das II. Vatikanum

Freilich gibt es ein Gegenprogramm zu Markteuphorie und kirchlichem Reaktivautoritarismus. Das kirchliche Lehramt selbst hat es entworfen und sich zu ihm bekannt, ein nicht ganz unerheblicher Teil der theologischen Aufgabe besteht darin, es an dieses sein Bekenntnis zu erinnern.

Die katholische Kirche hat sich selbst im II. Vatikanum einen Ort gegeben, denn sie hat sich hier, nach langen Jahrzehnten der Leugnung, zu ihrem konstitutiven Ortsbezug bekannt. Diese Ortsbestimmung hat die katholische Kirche am prägnantesten, weil explizit und konzeptionell, in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes vorgenommen und damit bereits deren Titel markiert.15 Es geht in ihr bekanntlich um die „Kirche in der Welt dieser Zeit“, wie es wörtlich heißt. Der Kirche wird damit eine doppelte, zeitliche wie örtliche Indexierung mitgegeben. Mit Gaudium et spes steigt die Kirche vom Olymp des unbeteiligten Beobachters mit göttlichem „view from nowhere“ in die Relativitäten von Welt und Geschichte, in der Hoffnung, in der Welt und für die konkreten Geschichten der Menschen Perspektiven zu eröffnen, die sie ohne die Botschaft der Kirche nicht hätten und die diese ihrerseits ohne die konkrete Konfrontation mit der Welt heute überhaupt nicht entdecken würde. Diese Entdeckungsrelationen sind im Konzil der Ort, an dem sich die religiöse Aufgabe und auch die religiöse Autorität der Kirche offenbaren und erschließen.

Dieses konziliare, inkarnatorische (vgl. Lumen gentium 8) und topologische Konzept von Kirche müsste eigentlich Folgen für die Reflexion und Konzeption kirchlicher Reaktionen auf die gegenwärtigen „neuen Zeiten“ haben. Es wirkt sich nämlich aus in der Perspektive, von der her wir Kirchenkonstitution entwerfen, im Theoriedesign unserer Transformationsdiskurse und schließlich in der Spiritualität unserer kirchlichen Kultur.

Der quasi immanenten Häresie einer jeden religiösen Institution, sich mit dem zu verwechseln, weswegen es sie gibt, wird im Konzil ein aufgabenbezogenes sakramentales Verständnis von Kirche entgegengesetzt. Hans-Joachim Sander hat diese pastorale Wende des Konzils konstitutionsanalytisch auf die Unterscheidung von Kirche als Religions- und als Pastoralgemeinschaft gebracht.16 Als Religionsgemeinschaft ist die Kirche eine immer noch mächtige Institution mit Einfluss und vielen Zeichen bleibender gesellschaftlicher Präsenz, als Pastoralgemeinschaft ist sie ein ohnmächtiger, weil von Gottes Gnade abhängiger Ort der Realisation des Evangeliums.

Die Polarität und auch die Unentkoppelbarkeit beider Existenzweisen, der religionsgemeinschaftlichen wie der pastoralgemeinschaftlichen, sind unausweichlich; von welchem Pol her man Kirche begreift, ist es aber nicht. Die pastorale Wende des Konzils besteht ganz wesentlich darin, Kirche als Religionsgemeinschaft von ihrem Charakter als Pastoralgemeinschaft her zu entwerfen. Da „Pastoral“ im Konzil ein qualifiziertes Geschehen meint, nämlich die kreative und handlungsbezogene Konfrontation von Evangelium und Existenz heute, ist genau dies die „materiale Wende“ in der Konzeption und Reflexion kirchlicher Konstitutionsprozesse.

Unsere Transformationsdiskurse sind ziemlich weit von ihr entfernt. Es würde etwa bedeuten, nicht zuerst Sozialformen, also Religionsgemeinschaftliches, zu reflektieren und dabei zu fragen, wie in ihnen Pastoral (noch) möglich ist, oder gleich gar, welche Zukunft diese Sozialformen haben, sondern umgekehrt zu reflektieren, wo und warum Pastoral im konziliaren Sinne heute dem Volk Gottes gelingt, um dann an der Weiterentwicklung jener Sozialformen mitzuhelfen, welche bessere Chancen für die Pastoral bieten.

Für das Theoriedesign unserer Transformationsdiskurse würde dies aber erfordern, endlich die moderne Utopik zu überschreiten hin zu einer Lehre von den konkreten Orten, welche die Autorität des Glaubens in seiner Praxis erweisen. Das setzt Aufmerksamkeit für jene Orte voraus, an denen das Volk Gottes schon heute neu entdeckt, wie sich heutige Existenz und Evangelium wechselseitig erschließen, in offenen, experimentellen, unfestgestellten Prozessen.

Utopien sind statische Projektionen der eigenen Wunschproduktion, und unsere Kirche ist voll davon, progressiven wie konservativen. Topologien aber, zumal praktisch orientierte, arbeiten mit den Differenzen im Netz der konkreten Orte und sind fasziniert von all dem, was Utopien nervös macht: Unberechenbarkeit, Differenz und Dynamik. Denn sie vermuten gerade dort den Reichtum dessen, was man braucht, aber noch nicht hat, und vor allem sind ihnen Ambivalenzen kein Gräuel, sondern notwendige Voraussetzungen humaner und damit christlicher Existenz.

Das betrifft übrigens auch die Pastoraltheologie. Sie ist ein klassisches Aufklärungsfach und daher utopisch gestimmt, wurde zudem von einer Kaiserin eingeführt und daher schwanken ihre Utopien zwischen Befreiungspathos und hierarchienahem Institutionsmanagement. Ein topologischer Ansatz würde für die Pastoraltheologie wie auch generell für den aktuellen Transformationsdiskurs der Kirche bedeuten, jene Orte zu suchen und zu befragen, an denen gelingt, was nach dem Konzil Voraussetzung von Kirchenbildung ist: die Pastoral.17

Es gibt eine Stelle im Konzil, die dabei sehr präzise definiert, worum es geht. Sie findet sich in Gaudium et spes 4. Dort heißt es: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“ Das kennt man mittlerweile. Es geht aber spannend weiter: „So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben.“ (Gaudium et spes 4)

Das ist eine wirklich brillante Formulierung. Sie behauptet nämlich erstens, dass diesseitiges und jenseitiges Leben in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, zweitens, dass es die zentrale, die konstitutive Aufgabe der Kirche ist, dieses Verhältnis von diesseitigem zu jenseitigem Leben in jeder Generation neu zu vermitteln und zwar als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens überhaupt. Und dass dies drittens nur gelingt, wenn die „Zeichen der Zeit“, also die säkulare Realität angemessen im Licht des Evangeliums gedeutet wird. Ohne die Deutung der Zeichen der Zeit also kann die Kirche ihren Auftrag überhaupt nicht erfüllen: Es ist ihr daher eine wirkliche Pflicht.

Fürchtet sie sich davor, sich mit den konkreten Herausforderungen der „neuen Zeiten“ zu konfrontieren, scheitert sie nicht nur an ihrer Zeit, sondern auch an ihrem eigenen Auftrag. Die Zeichen der Zeit aber sind topologisch, plural in Raum und Zeit, flüssig und neu, und heute, in postmodernen Zeiten, sind sie vor allem eines: überraschend, fremd und verstörend. Und deswegen empfiehlt das Konzil eben auch eine neue Haltung. Niemand hat diese Haltung bewegender verkörpert als jener Papst, der das Konzil einberufen hat. Dieser Papst steht für eine neue kirchliche Kultur als Folge des konsequenten Ortsbezugs der Kirche und ihrer grundsätzlichen Solidarität mit der „Menschheitsfamilie“, der sie, wie das Konzil immer wieder sagt, „eingefügt“ ist. Es heißt im „Akt des Glaubens“ von Johannes XXIIII., kurz vor seinem Tod:

Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert, nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen. Wer ein recht langes Leben gehabt hat, wer sich am Anfang dieses Jahrhunderts den neuen Aufgaben einer sozialen Tätigkeit gegenübersah, … wer wie ich zwanzig Jahre im Orient und acht in Frankreich verbracht hat und auf diese Weise verschiedene Kulturen miteinander vergleichen konnte, der weiß, dass der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu ergreifen und in die Zukunft zu blicken.18

Ein alter Mann und Papst bekennt kurz vor seinem Tod, immer noch am Beginn des Verständnisses des Evangeliums zu stehen. Und er nennt den Grund: die neuen Zeiten. Der oberste Repräsentant der alten Kirche markiert die vielen und ganz unterschiedlichen Orte, die ihn zu diesem Bekenntnis zwingen: sein langes Leben in diesem Jahrhundert, die Herausforderungen der sozialen Verwerfungen, der islamische Orient und das atheistische Frankreich und überhaupt die kulturellen Differenzen der Gegenwart.

Das Evangelium in diesen unüberschaubaren Zeiten und von seinen Problemen her in Wort und Tat besser zu verstehen und zu verwirklichen, das ist die alte Aufgabe der Kirche. Die kulturellen Revolutionen einer postmodern gewordenen Gegenwart stellen völlig neue Fragen an uns und damit an das Evangelium, Fragen, die wir noch kaum verstanden, geschweige denn beantwortet haben. Das ist unsere pastorale Chance.

Diese neuen Zeiten der Gegenwart sind für das pilgernde Volk Gottes eine große Herausforderung, denn das autologische Dispositiv zwingt die Kirche, eine ziemlich neue Konstitutionsform ihrer selbst zu entwickeln und dabei ihre Aufgabe nicht zu verraten, weder an den Markterfolg, noch an die kleingläubige Resignation des Autoritarismus. Das ist die kirchliche Herausforderung.

Diese Zeiten sind aber auch eine große Gnade. Denn sie versprechen neue Entdeckungen der alten Wahrheit des Evangeliums und das im hilfreichen Kontext der Demut.

DIE PROVOKATION ANNEHMEN

Welche Konsequenzen sind aus der Sinusstudie zu ziehen?

1 Außenperspektiven können schmerzen

Damit sie für das Wohl der Gläubigen … geeigneter sorgen können, sollen sie sich bemühen, ihre Bedürfnisse in den sozialen Umständen, in denen sie leben, richtig kennenzulernen, wobei sie dazu geeignete Mittel anwenden sollen, besonders der Sozialforschung.

So heißt es im Dekret des Zweiten Vatikanums über das Hirtenamt der Bischöfe, Christus Dominus 16. Wer immer das mittlerweile zu einer gewissen Berühmtheit gelangte „Milieuhandbuch religiöse und kirchliche Orientierungen“ beim Heidelberger Marktforschungsinstitut Sinus Sociovision in Auftrag gegeben haben mag – das „Handbuch“ selbst nennt die kirchennahe MDG Medien-DienstleistungsGmbH sowie die KSA Katholische Sozialethische Arbeitsstelle Hamm, unter „Beratung“ figurieren allerdings auch Mitglieder des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz oder etwa der Pressesprecher Kardinal Meisners –, man muss ihm ohne Zweifel dankbar sein.

Zwar können die Ergebnisse den halbwegs aufmerksamen Beobachter der gesellschaftlichen Szene(n) nicht wirklich überraschen und den oder die pastoral Tätige(n) auch nicht, besteht die Erhebungsmethode doch im Kern aus protokollierten und analysierten Gesprächen mit „Normalbürgern“ zu Lebenssinn, Religion und Kirche. Dies ändert aber nichts am exemplarischen Wert der Studie, denn sie leistet, was die katholische Kirche so dringend braucht: den wertvollen Dienst der Außenperspektive.

Freilich: Solche Außenperspektiven können schmerzen, wie ein Spiegel, eine Rezension oder die Beichte. Sie präsentieren auch nicht einfach die Wahrheit an sich, sondern spezifische Fremdblicke auf die eigene Wirklichkeit. Damit eröffnet sich der Kontrast von Fremd- und Eigenperspektive: Wie man auf diesen Kontrast reagiert, hat seinerseits Diagnosecharakter. Die Differenz von Fremd- und Eigenperspektive ist aber der genuine Ort intellektueller Erkenntnis und zugleich jener geistlicher Demut. Beidem ist die Kirche verpflichtet.

Die Untersuchung geht von zwei plausiblen Grundannahmen aus: zum einen, dass die situative Integration der Kirchenmitglieder jede normativ regulierte Kirchenmitgliedschaft abgelöst hat,19 mithin also auch katholische Religionspraxis unter den Individualisierungszwang moderner Lebensführung geraten ist; zum anderen, dass „Individualisierung“ nicht voraussetzungslose Wahlfreiheit, sondern Entscheidung auf der Basis neuer Integrationsmechanismen bedeutet. Schließlich müssen es moderne Biografien irgendwie schaffen, das Übermaß an Wahlmöglichkeiten zu bewältigen.

2 Sociovision hat der Kirche einen Marktlagebericht geliefert

Seit Gerhard Schulzes berühmter Studie Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart20 stehen dabei lebensstilorientierte „Milieus“ im Mittelpunkt des Interesses. Deren konkreter Zuschnitt ist relativ sekundär: Bei Schulze waren es fünf solcher Milieus, bei Sociovision sind es zehn. In ihrer bildlichen Signifikanz haben sie bei allem Stereotypieverdacht nicht nur einen gehörigen Unterhaltungs-, sondern auch Erkenntniswert, nicht zuletzt, wenn man versucht, den eigenen Lebensentwurf einzuordnen.

Schon beim Bamberger Soziologen Schulze war dabei zu lernen, dass im Unterschied zu vormodern traditionalen Gesellschaften und auch zur weltanschaulich versäulten deutschen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Milieuzugehörigkeit in „Lebensstilmilieus“ von den Beteiligten grundsätzlich als selbst gewählt erfahren wird, so sehr dies dem kritischen Außenblick auch als Selbstverblendung erscheinen mag. Der methodische Ansatz der Sociovisions-Studie kombiniert nun diese Milieutheorie mit einem einfachen Dreistufenschema der sozialen Lage und gelangt so zu einer ebenso plastischen wie differenzierten Matrix, in der die „Milieus“ mit Bezeichnungen „illustrativen Charakters“21 wie „Bürgerliche Mitte“, „Traditionsverwurzelte“ oder „Konservative“ situiert sind. Deren jeweilige religiöse und kirchliche Orientierungen erhebt die vorliegende Untersuchung.

Die Ergebnisse sind für die katholische Kirche einigermaßen provokativ. Bekommt sie doch bestätigt, dass sie in der Wahrnehmung der Bevölkerung offenbar nur noch in jenen drei eben genannten Milieus, die ca. 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, verwurzelt ist und das noch nicht einmal langfristig stabil. In allen anderen Milieus stößt die katholische Kirche dagegen weitgehend auf Desinteresse oder gar Ablehnung: Dort glaubt man in der Kirche nicht zu finden, was man an Religion nachfragt, wenn man denn Religion nachfragt, was allerdings, vielleicht mit Ausnahme der „DDR-Nostalgischen“, bei den meisten Menschen immer noch der Fall zu sein scheint.

Mit anderen Worten: Sociovision hat der Kirche geliefert, was man von einer Marktforschungsgesellschaft erwarten kann, einen Marktlagebericht. Das ist in jeder Hinsicht konsequent, schließlich vergesellschaftet sich Religion in entwickelten modernen Gesellschaften nicht mehr in herkunftsbezogenen Schicksalsgemeinschaften, sondern zunehmend über marktgesteuerte Mechanismen.

Die Ergebnisse der Sinusstudie sind einigermaßen ernüchternd. Man braucht freilich nur die eigene kirchliche Statistik zu konsultieren, erfahrene Seelsorger und Seelsorgerinen zu befragen oder etwa die ausgesprochen instruktive, von Johannes Först und Joachim Kügler herausgegebene Studie Die unbekannte Mehrheit, Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben22 zur Kenntnis zu nehmen, um bestätigt zu bekommen, was auch Sociovision herausgefunden hat: Mit der Marktgängigkeit der katholischen Kirche steht es hierzulande trotz eindrucksvoller diakonischer Präsenz nicht besonders gut.

Damit bestätigt sich, was in Pastoraltheologie und Religionssoziologie schon länger diskutiert wird. Die Sinusstudie pointiert aber eine Erkenntnis: Die katholische Kirche steht nicht einem, gar „dem“ modernen Milieu gegenüber, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher Milieus mit teilweise konträren Erwartungen an sie. Schärfer noch: Die Kirche selbst ist in das Spannungsfeld differenter Milieus geraten und kann sich nur noch in wenigen Milieus wirklich vermitteln, während sie andere schon kaum mehr erreicht.

Die weltanschaulich versäulte Gesellschaft der Weimarer Zeit, katholisch auch in der Nachkriegszeit noch ausgesprochen reststabil, wurde also abgelöst von einer Gesellschaft lebensstildifferenzierter Milieus. Diesen Differenzierungsprozess konnte die Kirche aber, wie es scheint, schlicht nicht mitvollziehen, was dann als „Milieuverengung“ der Gemeinden (Michael N. Ebertz) beschrieben werden kann.

3 Kirche ist nicht nur Pfarrgemeinde

Freilich ist die Kirche nicht nur (Pfarr-)Gemeinde. Als solche und als bischöfliche Hierarchie scheint sie aber in der Sociovisions-Untersuchung primär auf, was insofern korrekt ist, als sie inner- wie außerkirchlich primär genau so wahrgenommen wird. Die Studie bezieht sich denn auch vor allem auf diese beiden kirchlichen Handlungssektoren, insofern sie Wahrnehmungseinschätzungen abfragt. Viele andere Handlungsfelder der Kirche jedoch, allen voran die Caritas, aber auch der Bildungssektor und in weiten Teilen auch die so genannte Kategorialpastoral, bleiben damit weit unterbeleuchtet. Gerade aber dort gelingt es weitaus besser als in den Gemeinden, aus dem beschriebenen „Dreier-Milieu-Ghetto“ auszubrechen.

So tröstlich diese Ergänzung des Sociovisions-Befundes erst einmal ist, provoziert sie doch zwei Fragen: Auf welcher Basis gelingt ihnen diese Milieuüberschreitung und wie gestaltet sich dann das Verhältnis zum gemeindlichen Binnenmilieu? Hinter diesen Fragen aber lauert noch eine dritte: Wie kann die katholische Kirche in dieser Situation überhaupt noch ihre Steuerungs- und Handlungsfähigkeit behalten?

Der Ausdifferenzierungs- und Professionalisierungsprozess der pastoralen Struktur der deutschen katholischen Kirche kann als Versuch gedeutet werden, der neueren Milieudifferenzierung der deutschen Gesellschaft zu folgen. Das scheint in nicht geringem Maße gelungen: Zur Caritas gehen, falls notwendig, auch die kirchlich sonst kaum ansprechbaren „Konsum-Materialisten“; avancierte Künstler und damit „Experimentalisten“ finden sich etwa im „Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten“ oder in der Kölner „Kunststation St. Peter“, und für die „Postmateriellen“ gibt es manch gutes Kloster oder wenigstens Anselm Grün. Man fällt auf die seit den 1970er-Jahren dominierende Selbstdefinition der Kirche als „Gemeindekirche“ herein, wenn man übersieht, dass die Kirche dieser Gesellschaft ein breit ausgebautes und durchaus nachgefragtes Handlungsnetz jenseits der Gemeinde anbietet.

Allerdings verlagern sich damit die Milieuspannungen in die Kirche, besser und genauer: sie verstecken sich zwischen den Ritzen der weitgehend unabhängig voneinander agierenden kirchlichen Handlungssektoren.23 Deren wechselseitige Nichtwahrnehmung ist mit den Händen zu greifen und jetzt auch besser zu verstehen.

Die Kirche ist auf den (religiösen) Markt geraten – ohne Zweifel eine Änderung ihrer Kontextbedingungen epochalen Ausmaßes. Sie darf aber nicht unversehens einer institutionalistischen Marktperspektive verfallen. Denn sie ist weder der Macht, noch dem Markt, sondern ihrer Botschaft verpflichtet.

4 Der unbequemen Außenperspektive nicht ausweichen

Es bedarf an dieser Stelle der Überlegungen einiger theologischer Vergewisserungen. Zum einen ist an den universalen Heilswillen Gottes zu erinnern. Gott will, so heißt es etwa in 1 Tim 2,4, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“. Die deutet nicht auf ein bevorzugtes begnadetes Segment von Menschen, auf einige wenige Auserwählte, sondern auf alle Menschen überhaupt. Die Kirche als das Volk Gottes in seiner sichtbaren Verfasstheit ist Zeichen dafür, dass alle Menschen in universaler Weise zum Heil berufen sind. (vgl. Gaudium et spes 23f).

Zum anderen ist die Kirche nicht für sich selber da, sondern für die Verkündigung der Botschaft vom Gott Jesu in Wort und Tat. Die Bindung der Kirche an ihre sakramentale Sendung reißt sie aus dem Sog ihrer reinen institutionellen Selbsterhaltung und verweist sie auf ihre Existenz begründende Aufgabe: die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat.

Pastoral im Sinne des Konzils ist nun aber genau das, was geschieht, wenn die Kirche diese ihre Aufgabe in Angriff nimmt. Das Zweite Vatikanische Konzil hält die pastorale Konstitution der Kirche fest. Sie ist dazu da, heutige Existenz kreativ mit dem Evangelium zu konfrontieren und dies in einer zweifachen Richtung: das eigene individuelle wie soziale Leben aus der Perspektive des Evangeliums zu befreien und das Evangelium aus der Perspektive der eigenen Existenz zu entdecken.