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Studien
zur Theologie und Praxis
der Caritas und Sozialen Pastoral

Herausgegeben von
Klaus Baumann und
Ursula Nothelle-Wildfeuer

Begründet von
Heinrich Pompey und
Lothar Roos

Band 29

Kai Herberhold

„Ich kenne ihr Leid“ (Ex 3,7)

Notfallseelsorge
in Deutschland

 

Als Dissertation eingereicht an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.

Dekan

Prof. Dr. Klaus Baumann

1. Gutachter

Prof. Dr. Klaus Baumann
Direktor des Arbeitsbereichs Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit

2. Gutachter

Prof. Dr. Dr. Jürgen Bengel,
Direktor der Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie

Tag des Promotionsbeschlusses

25.05.2014

 

D 25

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

1. Auflage 2014
© 2014 Echter Verlag, Würzburg

ISBN 978-3-429-03753-6 (Print)
ISBN 978-3-429-04780-1 (PDF)
ISBN 978-3-429-06195-1 (ePub)

www.echter-verlag.de

Die vorliegende Arbeit ist nicht alleine das Verdienst ihres Verfassers. Zur Entstehung und Reifung haben viele, mir wichtige Menschen beigetragen. Rat und Unterstützung dieser Menschen war zu jeder Zeit ein großer Ansporn. Ich kann nicht allen namentlich danken, die für das Zustandekommen dieser Arbeit wichtig waren, aber einige möchte ich hervorheben.

Besonderer Dank gilt daher

• meiner Frau Kirsten und meinen Kindern für die erfahrene Liebe, die intensive Unterstützung, vielerlei Investitionen, fürs Aushalten und Vermissen.

• meinen Eltern für die andauernde, manchmal auch kritische Unterstützung, für die stetige Motivation und ständige Aufmunterung.

• Dr. Mechthild Herberhold für gemeinsame Überlegungen, Korrekturen und manches Telefonat zu nachtschlafenden Zeiten.

• Prof. Dr. Klaus Baumann für die Überlassung des Themas zur Promotion, das Vertrauen und die erfahrene Unterstützung während meiner Zeit in Freiburg und darüber hinaus sowie für die gute Zusammenarbeit am Arbeitsbereich Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit.

• Prof. Dr. Dr. Jürgen Bengel für die Bereitschaft und Mühe, das Zweitgutachten zu verfassen.

• Martin Wolbers für präzise Nachfragen, Korrekturen und freundschaftliches Zusammenarbeiten in Freiburg sowie dem gesamten Doktoranden-Kolloquium für methodische und kollegiale Unterstützung.

• den Freunden der Malteser in Münster, Erfurt und Freiburg. Gemeinsam haben wir für mich wichtige Erfahrungen gemacht: die vielfältige Unterstützung, das Vertrauen und der kameradschaftliche Umgang miteinander haben es mir ermöglicht, Schritte in der Begleitung von Einsatzkräften zu gehen und so einen Grundstein für diese Arbeit zu legen.

• den Kollegen und Kolleginnen, den Freunden und Freundinnen der Notfallseelsorge Freiburg, der Notfallbegleitung Erfurt, der Notfallbegleitung Münster, des Notfallnachsorgedienstes Freiburg, den Fachberatern Seelsorge und dem PSU-Leiter-Team Freiburg sowie dem Einsatzkräftenachsorgeteam des Schwarzwald-Bahr-Kreises.

• den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kurse in der Studienbegleitung Freiburg und der Seminare 2007, 2010 und 2012, in deren Veranstaltungen Teile des Ausbildungskonzeptes implementiert wurden. Die Mitarbeit der Studierenden und deren Rückmeldungen halfen zur Verbesserung und der jetzigen Gestalt des vorliegenden Moduls.

• nicht zuletzt natürlich den Einsatzkräften und den Menschen, die ich begleiten durfte, für das mir entgegengebrachte Vertrauen, ohne das die praktische Arbeit mit ihnen und damit auch die vorliegende Dissertation nicht möglich gewesen wären.

Kai Herberhold

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Teil I: Allgemeine Grundlagen der Notfallseelsorge

2. Fragestellung, Motivation und Begriffsklärungen

2.1. Methode und Aufbau der Arbeit

2.1.1. Arbeitsdefinition

2.1.2. Begriffe

2.1.2.1. Betroffene

2.1.2.2. Notfall

2.1.2.3. Krise

2.1.2.4. Trauma

2.1.2.5. Katastrophe

2.1.2.6. Psychosoziale Notfallversorgung

2.1.2.7. (Notfall-) Seelsorge

2.2. Exemplarische Einsatzbeispiele

2.2.1. Erfolglose Reanimation

2.2.2. Überbringen einer Todesnachricht

2.2.3. Betreuung Angehöriger nach einem Suizid

2.2.4. Betreuung Betroffener während eines Brandes

2.2.5. Einsatz bei einer Technischen Rettung mit dem Löschzug

2.2.6. Bergung eines Kindes nach LKW-Unfall

2.2.7. Geiselnahme nach Banküberfall

2.2.8. Einsatz in einer komplexen Schadenslage

3. Stand der Forschung

4. Rahmenbedingungen

4.1. Religiosität in postmoderner Gesellschaft

4.2. Ausblick und Vorschläge für milieusensible (Notfall)Seelsorge

4.3. Rechtliche Grundlagen

4.4. Finanzierung

5. Entwicklungen, Einrichtungen und Formen Psychosozialer Notfallversorgung

5.1. Zur Geschichte der Notfallseelsorge

5.1.1. Kurzer historischer Abriss

5.1.2. Etablierung – bis in die Gegenwart

5.1.3. Zur Zukunft der Notfallseelsorge

5.2. Weitere heutige Systeme Psychosozialer Notfallversorgung

5.2.1. Krisenintervention im Rettungsdienst (KIT/KID)

5.2.2. Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (SBE)

5.2.3. Notfallnachsorgedienst (NND)

5.2.4. Krisenintervention in der Schule

5.2.5. Nachsorge-, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH)

5.3. Konsensus-Prozess zur Qualitätssicherung in der PSNV

5.4. Bundeskongresse für Notfallseelsorge und Krisenintervention

5.5. Weitere Einsatzfelder

5.5.1. Einsatznachsorge

5.5.2. Notfallseelsorge in komplexen Schadenslagen

5.5.2.1. Sichtung

5.5.2.2. Einsatzstelle komplexe Schadenslage

5.5.2.3. Aufgaben

5.5.2.4. Einsatzorte

5.5.2.5. Bedarf an PSNV-Einsatzkräften

5.5.2.6. Forderungen für den Einsatz der Notfallseelsorge in komplexen Schadenslagen

6. Zusammenfassung zum Teil I

Teil II: Theologie der Notfallseelsorge

7. Theologische Grundlagen zur Seelsorge in akuten Notfallsituationen

7.1. Wurzeln der Notfallseelsorge

7.1.1. Biblische Ursprünge und Motive

7.1.1.1. Schöpfungs- und Bundestreue Gottes – Alttestamentliche Modelle

7.1.1.2. Inkarnation und Pascha – Neutestamentliche Vorbilder

7.1.2. Historisch-theologische Grundlagen

7.2. Grundlagen, Ansätze und Modelle von Seelsorge

7.2.1. Seelsorge als lebensfördernde Begegnung (Andreas Wittrahm)

7.2.2. Seelsorge als Gastfreundschaft (Rolf Zerfaß)

7.2.3. Multidimensionale Seelsorge (Doris Nauer)

7.3. Systematisch-theologische Orientierungen

7.3.1. Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils

7.3.2. Enzyklika „Deus Caritas Est“

7.3.3. Ökumenische Zusammenarbeit

7.3.4. Theologie der Notfallseelsorge im Blick auf Karfreitag und Karsamstag

7.3.5 Christliches Spezifikum der Notfallseelsorge

7.4. Praktisch-theologische Vergewisserungen – Pastoraltheologie und Caritaswissenschaft

7.5. Theologische Einzelfragen für die Notfallseelsorge

7.5.1 Grundvollzüge christlicher Gemeinde

7.5.1.1. Verkündigung

7.5.1.2. Liturgie

7.5.1.3. Caritas

7.5.1.4. Gemeinschaft

7.5.2. Leid

7.5.3. Theodizee

7.5.4. Emotionen

7.5.4.1. Ohnmacht

7.5.4.2. Schuld und Scham

7.5.4.3. Aggression und Wut

7.5.4.4. Kommunikation und Narration

7.5.6. Rituale

7.5.7. Psychohygiene

7.6. Kirchliche Fragestellungen

7.6.1. Thesen zur Notfallseelsorge

7.6.1.1. Kasseler Thesen

7.6.1.2. Hamburger Thesen

7.6.1.3. Frankfurter Thesen

7.6.1.4. Diskussion der Thesen

7.6.2. Strukturen

7.6.2.1. Voraussetzungen für den Dienst in der Notfallseelsorge

7.6.2.2. Bestandteil der Gemeindepastoral

7.6.2.3. Notfallseelsorge mit anders- oder nicht-gläubigen Menschen

7.6.2.4. Notfallseelsorge mit Sterbenden

8. Zusammenfassung zum Teil II

Teil III: Interdisziplinärer Dialog und Praxis der Notfallseelsorge

9. Zum interdisziplinären Dialog

10. Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS)

10.1. Rettungsdienst – Aufgaben und Struktur

10.1.1. Rechtlicher Rahmen

10.1.2. Personal und Rettungsmittel

10.1.3. Einsatztaktik

10.2. Feuerwehr – Aufgaben und Struktur

10.2.1. Tätigkeiten in der Feuerwehr

10.2.2. Rechtlicher Rahmen

10.2.3. Einsatztaktik

10.2.3.1. Einsatzleitung

10.2.3.2. Führungsvorgang

10.3. Polizei – Aufgaben und Struktur

10.3.1. Rechtlicher Rahmen

10.3.2. Personal

10.3.3. Einsatztaktik

10.4. Zusammenarbeit Notfallseelsorge und BOS

11. Bezugswissenschaften

11.1. Notfallmedizin

11.1.1. Historische Schlaglichter

11.1.2. Notfallmedizin heute

11.1.3. Notfallseelsorge im Dialog mit der Notfallmedizin

11.2. Psychotraumatologie und Notfall-Psychologie

11.2.1. Grundlegendes zu Coping, Salutogenese und Psychotrauma

11.2.2. Störungen nach extremen Belastungen in internationalen Klassifikationen

11.2.2.1. Akute Belastungsreaktion

11.2.2.2. Andere psychische traumabedingte Störungen

11.2.3. Erste Maßnahmen nach traumatischen Ereignissen

11.2.4. Notfallpsychologie im Dialog mit der Notfallseelsorge

11.3. Soziale Arbeit

11.3.1. Einführung

11.3.2. Notfallseelsorge im Dialog mit der Sozialen Arbeit

12. Zusammenfassung zu Teil III

13. Gegenwärtige Herausforderungen

Anhang

14. Konzeption „Theologie der Notfallseelsorge“

14.1. Vorbemerkung

14.2. Ausgangslage und Zielsetzung

14.3. Zielgruppen und Voraussetzungen

14.4. Aufbau

14.4.1. Ziele

14.4.1.1. Grobziele

14.4.1.2. Feinziele

14.4.2. Inhalte

14.4.2.1. Persönliche Kompetenzen

14.4.2.2. Kommunikative Kompetenzen

14.4.2.3. Hermeneutische Kompetenzen

14.4.2.4. Spirituelle Kompetenzen

14.4.3. Kursablauf

14.5. Gestaltung des Lernprozesses

14.5.1. Zeitlicher Ansatz

14.5.2. Dozenten

14.5.3. Leistungen

14.6. Qualitätssicherung

14.6.1. Supervision

14.6.2. Evaluation

14.6.3. Weitere Qualitätsentwicklung

14.7. Finanzierung

14.8. Nutzen und Widerstände

14.9. Zusammenfassung

15. Abkürzungsverzeichnis

16. Literaturverzeichnis

16.1. Monographien

16.2. Zeitschriftenaufsätze, Sammelwerke und Lexika

16.3. Rechtsquellen

16.4. Kirchliche Verlautbarungen

16.5. Online-Ressourcen

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit bietet eine Theologie der Notfallseelsorge. Sie hat einerseits die christliche „Binnenperspektive“ im Blick und möchte so den innerkirchlichen Diskurs befruchten. Gleichzeitig begründet sie im Gespräch mit Humanwissenschaften (Medizin, Notfallpsychologie, Sozialarbeit, Rettungs- und Hilfsdiensten) die nicht unumstrittene Notfallseelsorge und will so die Kooperation im komplexen Netzwerk der unterschiedlichen Sozialeinrichtungen wie auch der Kirchengemeinden und Kommunen verbessern.

Der Titel „`Ich kenne ihr Leid` (Ex 3,7). Notfallseelsorge in Deutschland“ erschließt sich aus dem „Kennen“ Gottes, der die Not seines Volkes in Ägypten gesehen hat und in dieser Situation das besondere Interesse an seinem eigenen Volk bekundet. Er sagt in diesem dialogischen Geschehen – das ist auch für die Notfallseelsorge wichtig – Mose seinen Namen „Ich bin da für euch“ zu und betont so seine Verbundenheit mit Israel und auch sein Mitgefühl gegenüber ihrer Not (vgl. Ex 3,9). In dieser Tradition will Notfallseelsorge heute Betroffene unterstützen und mit der ihr eigenen theologisch-interdisziplinären Fach- und Feldkompetenz in den ersten Stunden nach einem schrecklichen Ereignis bei den Betroffenen sein. Das Spektrum der Tätigkeiten reicht vom Beistand für einzelne Betroffene über die Hilfe für eine Vielzahl von Beteiligten bis hin zur Unterstützung von Einsatzkräften, vom alltäglichen häuslichen Einsatz bis zu Großschadenslagen. Forschungsinteresse und Standpunkt des Verfassers nähren sich aus der Praktischen Theologie und genauer der Caritaswissenschaft, um mit deren Prämissen in den wissenschaftlichen Diskurs einzutreten. Die Studie beabsichtigt eine Förderung der Notfallseelsorge und intendiert eine breitere Grundlage für Diskussionen auf dem Weg zu gemeinsamen, ökumenisch verantworteten Vorstellungen, wie Notfallseelsorge heute und in Zukunft aussehen, stattfinden und sich entwickeln kann und soll.

In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen vereinfachter Lesbarkeit überwiegend die maskuline Schreibweise verwendet.

Teil I: Allgemeine Grundlagen der Notfallseelsorge

2. Fragestellung, Motivation und Begriffsklärungen

Die Motivation, mich im Rahmen dieser Arbeit mit dem Thema „Notfallseelsorge in Deutschland“ zu befassen, wurde aus verschiedenen Quellen gespeist:

• Meine eigene Erfahrung als Mitglied des Malteser Hilfsdienstes, in dem ich diese Arbeit 1999 begann. Bei den Maltesern führten die beiden Wege, mich christlich engagieren zu wollen und Menschen begleiten zu können, zusammen.

• Die Arbeit als Organisatorischer Leiter der ökumenischen Notfallbegleitung Erfurt (2003-2005) während meines Theologie-Studiums (2000-2005) führte zu der Überlegung, mich wissenschaftlich mit dem Thema auseinander zu setzen. Ein besonderer Ansporn war zu dieser Zeit das empfundene Fehlen einer theologisch-wissenschaftlichen Begründung der Notfallseelsorge.

• Die Tätigkeit in Freiburg als Mitglied des Notfallnachsorgedienstes, als Leiter Psychosoziale Unterstützung (PSU) Freiburg und als Fachberater Seelsorge zeigte mir den Facettenreichtum der Dienste mit allen Möglichkeiten und Grenzen auf.

• Diese unterschiedlichen persönlichen Motive verbinden sich in dieser Arbeit mit der Entwicklung der Notfallseelsorge in Deutschland, zu der ich mit dieser Studie einen Beitrag zur wissenschaftlich-theologischen Reflexion leisten möchte.

Notfallseelsorge als „`erste Hilfe für die Seele` in Notfällen und Krisensituationen“1 arbeitet unter den heutigen gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen und verweist darin auf die Botschaft Jesu Christi und seines Evangeliums. Die Notfallseelsorge stellt somit eine Ausdifferenzierung der Seelsorge dar, mit deren Hilfe die Kirche ihrem genuinen Anspruch und Auftrag der Begleitung leidender Menschen heute (mehr) gerecht werden kann. Sie ist eine Konkretion aufsuchender Seelsorge – in einer Gesellschaft, auf deren Bedürfnis Kirche in dieser Form reagiert.

Die Notfallseelsorge ist mit etwa zwanzig Jahren ein sehr junges theologisches Arbeitsfeld, welches sich in der Praxis inzwischen in Deutschland fast flächendeckend etabliert hat. Die heute existierenden Notfallseelsorge-Systeme stehen vor der Aufgabe, den erreichten Standard auszubauen und zu stabilisieren. Um dies zu erreichen, helfen ein innerkirchlicher Diskurs um die personelle und finanzielle Absicherung des Dienstes und der Dialog mit den unterschiedlichen Partnern in der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV).

2.1. Methode und Aufbau der Arbeit

Methodisch ist die Arbeit analytisch, literatur- und erfahrungsbasiert, nicht empirisch angelegt. Die vorliegende Studie stellt die Notfallseelsorge in Deutschland in ihren komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen dar. Wesentliches Anliegen der Arbeit ist es, Strategien für die weitere Arbeit der Notfallseelsorge in Deutschland zu entwickeln und Impulse für zukünftige Forschungsarbeiten im Rahmen der theologischen Forschung zur Notfallseelsorge zu geben. Darüber hinaus leistet die Arbeit einen Beitrag zur Sicherung der Qualität der Notfallseelsorge in Deutschland.

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile.

1. Im deskriptiven Teil I werden das methodische Vorgehen erläutert sowie die historischen Gegebenheiten und heutigen Rahmenbedingungen der Notfallseelsorge und die gewachsene(n), inhomogene(n) Struktur(en) der Psychosozialen Notfallversorgung in Deutschland beschrieben. In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf Deutschland, die Darstellung der Thematik in diesem Territorium ist im Rahmen dieser Arbeit leistbar. Nach einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand und die heutige Bedeutung des Themas, folgt die Diskussion der Vor- und Nachteile dieser Heterogenität, um Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Anbietern der PSNV und die Vermittlung zwischen den Positionen.

2. Teil II der Arbeit ist den theologischen Perspektiven der Notfallseelsorge gewidmet und – in ökumenischer Offenheit – die Helfer wie auch die Betroffenen und die Kirche(n) einzubeziehen. Der originäre Auftrag kirchlicher Sendung zu Menschen in Not aus dem Geiste Jesu heraus wird gerade in diesem Teil deutlich. Die eigene katholische Tradition des Verfassers und das Anliegen der Arbeit, einen konfessionell geprägten Beitrag zur Arbeit der Notfallseelsorge in Deutschland zu leisten, werden immer wieder deutlich werden. In Deutschland tragen die Notfallseelsorge weitgehend die katholischen (Erz-) Diözesen und evangelischen Landeskirchen. Das Verständnis von Kirche in dieser Arbeit orientiert sich an dem Bild von Kirche, das für die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) leitend ist. Wenn im Text von „Kirche“ oder „Kirchen“ die Rede ist, sind damit deren Mitgliedskirchen gemeint, die in der Notfallseelsorge in Deutschland mitwirken. Definierte Basis der Mitgliedskirchen ist das Bekenntnis zu Jesus Christus „gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland“2. Zu den Aufgaben dieser Kirchen gehört es, die ökumenische Zusammenarbeit zu fördern, zum Beispiel durch „Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen den Kirchen auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene“3. In diesem Teil werden biblisch-historische Bilder von und für Seelsorge betrachtet. Fragen nach Kontingenz, Leben und Tod, Theodizee bzw. Anthropodizee, Schuld und Beziehung werden gestellt. Systematisch-theologische und praktisch-theologische Überlegungen bekommen ebenso ihren Platz wie die Diskussion um theologische und kirchliche Einzelfragen. Der besondere Charakter der Notfallseelsorge wird mithilfe einer Überprüfung bereits bestehender Seelsorgekonzepte als ein kirchlich und theologisch sinnvoller Dienst entwickelt.4

3. Im interdisziplinär-humanwissenschaftlich orientierten Teil III stehen der Dialog mit relevanten Organisationen, Berufsgruppen und Diensten, insbesondere den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) sowie mit wichtigen Bezugswissenschaften für die Notfallseelsorge im Vordergrund.5 Die Diskussion um eine fortschreitende Professionalisierung im interdisziplinären und säkular ausgerichteten Feld ist im vollen Gange, ebenso wie das Gespräch um die Konkurrenzsituationen auf dem Markt der PSNV.

4. Ausgehend von den Erkenntnissen der Teile I-III steht im Anhang die Entwicklung und Ausformulierung eines praktisch umsetzbaren Ausbildungskonzeptes „Theologie der Notfallseelsorge“ im Mittelpunkt.

Das Hauptaugenmerk der Arbeit liegt dabei auf dem theologisch ausgerichteten Teil II und dem Ausbildungskonzept „Theologie der Notfallseelsorge“, mit Hilfe derer die – interdisziplinäre wie innerkirchliche – Diskussion um die zukünftige Ausgestaltung der Notfallseelsorge angeregt werden soll.

Die folgenden Fragen führen hin zu Aufbau und Fragestellungen der Untersuchung, diese Fragen werden in ihren Einzelheiten in folgenden Kapiteln bearbeitet und beantwortet:

I. Grundlagen der Notfallseelsorge heute (Teil I):

• Wie sieht die Situation der Notfallseelsorge im Kontext heutiger PSNV-Systeme aus?

• Auf welchen begrifflichen, historischen, rechtlichen, finanziellen Grundlagen steht Notfallseelsorge heute?

• Welche historischen Vorgänge haben zu diesem System der PSNV geführt?

II. Notfallseelsorge theologisch (Teil II):

• Inwiefern ist die Notfallseelsorge in Deutschland ein – theologisch begründbarer – kirchlicher Dienst?

• Wie versteht sich heutige Seelsorge?

• Was macht Notfallseelsorge spezifisch und unterscheidbar zu anderen?

III. Notfallseelsorge in heutiger säkularer Gesellschaft (Teil III):

• In welchem Verhältnis steht die Notfallseelsorge in Deutschland zu professionalisierten (säkularen) Diensten?

• Ist das „Da-Sein für Menschen in Not“ eine organisations-, bereichs- (Städte, Kreise, Bundesländer, Bund), professions- und zeitübergreifende gemeinsame Aufgabe aller Anbieter?

• Ausbildungskonzept „Theologie der Notfallseelsorge“ (Anhang)

• Wie kann ein Fortbildungskonzept für die Theologie der Notfallseelsorge aussehen?

Aus diesen formulierten Fragestellungen, ergeben sich weitere, die in den einzelnen Kapiteln zu stellen sind und auch die Zielrichtung weiter zuspitzen.

2.1.1. Arbeitsdefinition

Grundlage der Studie ist die Arbeitsdefinition von Caritaswissenschaft, die am Arbeitsbereich Caritaswissenschaft und christliche Sozialarbeit im Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verwendet wird:

„Caritaswissenschaft dient der Forschung und Lehre in ihrem weitgefächerten Feld wie auch der Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses. Gegenstand der Caritaswissenschaft ist die Caritas als Wesensvollzug der Kirche und verbandliches Engagement in Kirche und Gesellschaft. Dies schließt in besonderer Weise ein […]: den leidenden Menschen, den helfenden Menschen und die Kirche (mit ihren Vorgaben für ihr sozial-caritatives Wirken) im Dienst für ’die Armen und Bedrängten aller Art’ (Gaudium et spes 1). Die Ziele der Caritaswissenschaft sind ihre Tätigkeiten: Beschreiben, Erklären bzw. Verstehen, Fördern bzw. konstruktives Verändern der Theorie und Praxis von Caritas und Christlicher Sozialarbeit und zwar genuin theologischem Verständnis der Caritas der Kirche entsprechend, welches die Caritaswissenschaft durch ihre Tätigkeiten ebenfalls zu klären, zu vertiefen und weiterzuentwickeln sucht. Diese Tätigkeiten erfordern je nach Fragestellung interdisziplinäre Orientierung und Zusammenarbeit mit anderen theologischen oder nicht-theologischen Wissenschaftsbereichen und entsprechend unterschiedliche Methoden. Interdisziplinarität wie Methodik müssen ihrerseits wissenschaftstheoretisch reflektiert und verantwortet werden.“6

Die Definition hilft bei der Erarbeitung poimenischer Fragestellungen im Bezug auf die Notfallseelsorge: Im Sinne der Caritaswissenschaft beschreibt und erklärt der Autor die Situation der Notfallseelsorge in Deutschland in ihren komplexen Zusammenhängen. So fördert er das Verständnis für diese Arbeit, ihre Möglichkeiten und Grenzen – dies auch durch die Erarbeitung des Fortbildungsmoduls.

Neben dem „genuin theologische[n] Verständnis der Caritas der Kirche“7, welches die Herangehensweise an das Thema spiegelt, liegt der Fokus der kirchlichen Arbeit in der Notfallseelsorge gerade auf den „Armen und Bedrängten aller Art“ (Teil II).

Im Teil III kommt die „interdisziplinäre Orientierung und Zusammenarbeit mit anderen theologischen oder nicht-theologischen Wissenschaftsbereichen“8 in den Blick.

2.1.2. Begriffe

Zur einheitlichen Verwendung der (Fach-) Begriffe in der vorliegenden Arbeit sind zunächst begriffliche Klärungen bzw. Definitionen zu leisten. Die Klärung führt – neben einem besseren Zusammenarbeiten im Einsatz – auch dazu, dass die von Einsatzkräften genutzten Begriffe theologisch eingeordnet und klarer verwendet werden. Die Auseinadersetzung mit der vorhandenen Sprache hilft, sich selber Rechenschaft über die Verwendung abzulegen und zu klären, was in das eigene Verständnis passt, was übernommen werden kann oder was anders ausgedrückt werden soll. Die vorliegende Arbeit macht es sich zum Anliegen, eine einheitliche, vergleichbare Sprache9 im Bereich der PSNV zu fördern – wie sie auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) fordert10 –, damit die Handelnden hierüber Sicherheit gewinnen können. Wichtig ist diese Auflistung, da im Feld der BOS wie der Theologie klare Begrifflichkeiten genutzt werden, an die sich auch die PSNV – und in ihr die Notfallseelsorge – halten muss, will sie dem eigenen Anspruch, ein verlässlicher und gewinnbringender Partner zu sein, gerecht werden. Die Arbeitsgruppe des BBK orientierte sich in diesem Zusammenhang an den Wendungen, die in der Notfallseelsorge in Deutschland gebräuchlich sind.11

Im Bezug auf die Sprachregelungen ist die Qualitätssicherung wichtiger als das, was einzelne Modelle und Systeme in ihrer Tradition entwickelt haben, gleiches gilt für die Formulierung der geforderten Leistungen – beides führt sonst zu Unschärfen und Missverständnissen unter den Beteiligten, die auf jeden Fall vermieden werden müssen.12 Auf das schwierige Feld der unterschiedlich (gesetzlich) geschützten Berufsbezeichnungen wird in dieser Arbeit nicht eingegangen.

2.1.2.1. Betroffene

Für die Zielgruppe der Notfallseelsorge werden, wiederum theorie- und berufsabhängig, verschiedenste Begriffe verwendet, zum Beispiel Verursacher, Opfer, Zeuge, Vermissende, Geschädigte, Klienten, Kunden, Patienten, Beobachter, Angehörige, Überlebende, Hinterbliebene sowie Einsatzkräfte oder Helfer. Die Begrifflichkeiten werden in verschiedenen Kontexten genutzt und zwischen diesen auch unterschiedlich verwendet. In dieser Arbeit werden die Menschen, für die Notfallseelsorge tätig wird, unter dem Sammelbegriff „Betroffene“ gefasst.

Sie eint, dass sie betroffen sind von einem Notfall, so zum Beispiel

• Angehörige, die zurückbleiben, wenn eine Reanimation abgebrochen werden musste,

• Zeugen, die einen Unfall mitbekommen und den Tod eines Menschen erlebt haben,

• Überlebende, die durch einen Notfall Bekannte verloren haben,

• Familien, denen durch Feuer die Existenzgrundlage genommen wurde.

Aufmerksamkeit verlangen alle vom Notfall Betroffenen, denn die prä- und peritraumatische Situation, in der sich die Personen befinden, ist schwer abzuschätzen. Daher ist die Notfallseelsorge für diese Menschen zuständig. Wenn Betroffene keine Unterstützung wünschen und benötigen, wird ein Einsatz beendet. Die besondere Schwierigkeit besteht derzeit darin, dass der Hilfebedarf allein diagnostisch – und damit posttraumatisch – festzustellen ist. Ein wie auch immer geartetes peritraumatisches Screening ist aus praktischen Gründen – da entsprechende Methoden fehlen – momentan nicht durchführbar. Insbesondere geht es der Notfallseelsorge darum, von Anfang an eine positive Verarbeitung der extremen Ereignisse, die Betroffene erlebt haben, vorzubereiten und alle zusätzlichen Belastungen oder Chronifizierungen der möglichen Störungen zu vermeiden.

Die Maßnahmen der Notfallseelsorge in dieser Phase entsprechen denen, die auch die Akuthilfe in der PSNV umfassen:

• für die Menschen da zu sein,

• nötige Hilfen zu geben und Ressourcen zu nutzen bzw. zu aktivieren,

• Anzeichen für eine mögliche psychische Belastung zu erkennen und

• weiterführende Hilfestellen und Maßnahmen zu empfehlen, zum Beispiel eine therapeutische bzw. ärztliche Diagnostik,

• Spezifisch für die Notfallseelsorge ist – mit Zustimmung und auf Wunsch Betroffener – die Möglichkeit zum Abschiednehmen und zu Gebete anzubieten.

2.1.2.2. Notfall

Ebenso wie beim Begriff „Trauma“13 ist die Verwendung des Wortes „Notfall“ theorie- und disziplinabhängig.14 Der Notfall – im Gegensatz zur „Krise“ – ist charakterisiert durch sein plötzliches, unvorhergesehenes Auftreten sowie die damit einhergehenden Veränderungen des bisher sicher geglaubten Ablaufs des Tages und seiner Aufgaben. Auch die Bedrohung des (eigenen) Lebens, der körperlichen oder psychischen Gesundheit, einschneidende Veränderungen in der Lebensplanung, zum Beispiel durch bleibende Verletzungen oder Behinderungen, zählen dazu. Die subjektiv erlebte Intensität eines Ereignisses ist ein Maßstab für einen Notfall. Diesem Verständnis entsprechend, ist jedes Ereignis ein Notfall, wenn die Betroffenen es als für sie dramatisch empfinden. Diese Verwendung des Begriffs führt allerdings zu einer inflationären Verwendung.15 Dennoch ist diese Formulierung hilfreich, da in der Notfallseelsorge gerade die subjektiv beschriebenen Belastungen und Notfälle wichtig sind.16

Medizinisch verstanden bedeutet ein „Notfall“ eine akut lebensbedrohliche Situation und die (erwartete) Störung der Vitalfunktionen, die ohne eine sofortige Hilfeleistung erhebliche gesundheitliche Schäden oder den Tod des Patienten befürchten lässt. Im Rettungsdienst bedeutet dies eine klare Indikation für einen Notarzteinsatz – das Hochwertigste zur Verfügung stehende System. Für die Notfallseelsorge, die oft im Kontext der Rettungsorganisationen bzw. der BOS tätig wird, ist daher ein wichtiger Definitionsrahmen der medizinische.

Um die Versorgung eines von einem medizinischen Notfall betroffenen Menschen sicherzustellen, greifen die „Glieder“ der Rettungskette17 optimal ineinander. Die Glieder sind im Einzelnen:

1. Lebensrettende Sofortmaßnahmen: Absichern / Eigenschutz an einer Unfallstelle, Retten aus einer Gefahrenzone und Eigensicherung (Warndreieck, Schutzhandschuhe), Stabile Seitenlage, Reanimation durch Beatmung und Herzdruckmassage, Stillung bedrohlicher Blutungen oder Schockbekämpfung.

2. Notruf: zeitnahe Meldung eines Notfalls an die (Rettungs-) Leitstelle. Aufgrund des Notrufs entscheidet der Disponent über die Rettungsmittel und -kräfte, möglicherweise bemerkt er besondere Gefahren am Einsatzort und kann zum Beispiel die Feuerwehr hinzuziehen.

3. Erweitere Erste Hilfe: Versorgung von nichtlebensbedrohlichen Wunden, (psychische) Betreuung der Betroffenen, sachgerechte Lagerung entsprechend der Verletzungs- oder Krankheitsmuster.

In den drei zuvor genannten Maßnahmen werden Ersthelfer bzw. Laienhelfer tätig, die folgenden beiden bearbeiten professionelle Rettungskräfte.

4. Rettungsdienst: Dessen Mitarbeiter setzen die Maßnahmen der Ersthelfer fort, beginnen bisher nicht eingeleitete Hilfen und stellen die Transportfähigkeit des Notfallpatienten in ein Krankenhaus her.

5. Krankenhaus: Hier wird der Notfallpatient ärztlich und pflegerisch versorgt.

2.1.2.3. Krise

Das altgriechische Wort κρίσις floss über das lateinische Lehnwort „crisis“ in die deutsche Sprache ein. Das Wort ist etwa seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar, zuerst als medizinisches Fachwort, „das den entscheidenden Punkt einer Krankheit bezeichnete“18. „Krise“19 bedeutet ursprünglich „Entscheidung“ oder „entscheidende Wendung“ in einer gefährlichen, auch gesundheitsgefährdenden, Entwicklung.20 Der Begriff wird vielfältig und teilweise unscharf gebraucht. Eine synonyme Verwendung zum Beispiel mit dem Begriff „Notfall“ ist wenig hilfreich und sorgt für Verwirrung.21 Die Abhängigkeit von der jeweiligen dahinterliegenden Theorie ist daher evident. Die Definition(en) und Theorien beteiligter Professionen beeinflussen auch das eigene Bild und müssen daher reflektiert und nötigenfalls korrigiert werden. Notfallseelsorge setzt sich mit dem Begriff und seinen Inhalten auseinander und positioniert sich, da sie (fast) ausschließlich mit Menschen in Krisensituationen arbeitet. Denjenigen, die von einer Krise betroffen sein können, stellt sich diese anders dar, als für jene, die sich professionell damit befassen. Der Grad der Betroffenheit und das je eigene Verständnis von Betroffenheit sowie deren Intensität sind ebenso zu berücksichtigen, wie die Vorerfahrungen mit Hilfesystemen und eigenem Verhalten in Krisen.22

Symptomatisch zeigt sich eine plötzliche oder auch fortschreitende Verengung der Wahrnehmung, der Wertesysteme sowie der Handlungs- und Problemlösungsfähigkeiten. Eine Krise stellt bisherige Erfahrungen, Normen, Ziele und Werte in Frage und hat für den Betroffenen einen bedrohlichen Charakter. Somatische und psychische (Krisen-) Prozesse sind miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Sie können daher nicht einfach als getrennte Phänomene verstanden werden.23

Eine akute Krise führt dazu, dass sich ein Mensch radikal in Frage gestellt sieht und möglicherweise in dieser Situation Hilfe von außen zur Bewältigung benötigt. Hier ist das Tätigkeitsfeld der Notfallseelsorge. Krisen erscheinen aber immer auch ambivalent – selbst wenn Betroffenen dies erst im Nachhinein und sehr viel später erkennen. Denn eine Krise bietet neben der Verunsicherung und einem Gefahrenmoment auch die Chance zur Entwicklung, Veränderung und Reifung24 – also einen Wendepunkt, der bearbeitet werden muss, manchmal mit (therapeutischer) Hilfe. Es handelt sich hierbei um eine Entwicklungs- oder normative Krise25, Psychologen sprechen von einer „Veränderungskrise[, die nicht] in das Gebiet der psychosozialen Notfallhilfe“26 gehört.

Psychosoziale Krisen, die in dieser Untersuchung im Vordergrund stehen, bedeuten den individuellen und plötzlichen „Verlust des seelischen Gleichgewichts“27 aufgrund von Ereignissen, die nicht mit den bisher üblichen und erprobten Problemlösungsmethoden bewältig werden können. Diese Definition ähnelt stark der individualisierenden Definition von Stress nach Lazarus und Folkman.28 Die Theorie der Ressourcenerhaltung nach Hobfoll29 zeigt eine größere Breite und setzt auch bei objektivem, umweltbezogenem Stress und seinen Faktoren an.

Notfallseelsorge fokussiert in der praktischen Arbeit die Zeit, in der die persönliche, existentielle Dimension, die Zäsur, welche die Krise bedeutet, in den Vordergrund tritt. Die jähe Zerbrechlichkeit des (eigenen) Lebens drängt sich ins Bewusstsein: „Der Mensch selbst als Person, sein ‚Ich‘ […] steht auf dem Spiel, auf der Kippe des Gelingens und Misslingens, ist ‚im Kern‘ aufs Tiefste vom Scheitern bedroht – deshalb die ausweglose, ohnmächtige Vernichtungsangst, der Sturz ins Bodenlose“30. Einfluss darauf haben die Dauer der Einwirkzeit, der grad der persönlichen Betroffenheit und die Zahl und Art der Betroffenen (Einzelne oder Gruppen).

Krise im hier verwendeten Verständnis bedeutet also für die Betroffenen eine plötzlich und unvermittelt eintretende Situation, in der sich ihr Leben schlagartig verändert, in einer Weise, die durch nichts und niemand mehr in den Zustand vor diesem Ereignis zu bringen ist. Der Umgang mit einer solchen Situation ist dagegen individuell sehr unterschiedlich und hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab. Für die Krisenintervention und die Krisenbewältigung wurden daher verschiedene Modelle entwickelt: Ihr Anliegen ist es, die Situation der Betroffenen zu beschreiben. Gerade in den ersten Phasen der Krise und Trauer arbeitet die Notfallseelsorge mit den Betroffenen zusammen, daher werden diese Phasen anhand der folgenden drei Modelle, die in der Ausbildung der Notfallseelsorge häufig bearbeitet werden, näher untersucht und mit Blick auf ihren Nutzen in der Notfallseelsorge diskutiert. Die Modelle erläutern die Phasen der Krise und Trauer, sie formulieren Hintergrundwissen, auf das eine Betreuung aufbauen kann, und formulieren Aufgaben, die Betroffene in der Krise und Trauer bewältigen müssen und bei denen sie möglicherweise Unterstützung brauchen.

In der (beginnenden) Trauer entsteht ein natürlicher Prozess des Abschiednehmens von einem geliebten Menschen. Menschen können Trauer verarbeiten und danach das Leben – meist anders als zuvor – weiterleben. Trauer ist daher eine „angemessene seelische Reaktion“31 auf eine persönliche Katastrophe. Krisenintervention bedeutet in diesem Kontext einen ausdrücklichen und zielgerichteten Eingriff in die konkrete Situation zur Behebung bzw. Bewältigung. Notfallseelsorge und Krisenintervention arbeiten in den ersten Phasen mit Betroffenen zusammen, daher werden diese näher betrachtet. Erst bei pathologischer Trauer ist therapeutische Hilfe nötig.

Gemeinsam ist allen Modellen eine erste Phase des „Nicht wahrhaben wollens“32, in der Betroffene die Realität des Verlustes bzw. des Problems negieren. Betroffene erinnern sich in den ersten Stunden bis Wochen retrospektiv kaum an diese Phase, an anwesende Personen oder angebotene Hilfen. Diese Reaktion ist ein Schutz vor Überforderung durch (zu) starke Gefühle33, sie erleben die Situation oft als unwirklich und wie im Traum. Dieser Phase entspricht dem Ansatz von William J. Worden, der die Akzeptanz des Verlustes als Realität als Aufgabe für Trauernde formuliert.34

In einer zweiten Phase brechen Gefühle, die bislang abgespalten und verdrängt wurden, auf. Die Autoren beschreiben insbesondere Wut und Aggression, aber auch Rückzug als mögliche Formen. Die Frage nach dem „Warum?“ und die Suche nach potentiell Schuldigen können in dieser Phase bestimmend sein.

Phasenmodelle sind häufig starr und werden daher dem individuellen und vielfältigen Trauerprozess nur wenig gerecht. Sie betonen stark Schemata und vernachlässigen so individuelle Perspektiven. Obwohl ein Trauerprozess nicht in aufeinander folgenden Phasen, sondern eher wellenförmig, ineinander übergehend und teils auch mit (scheinbaren) Rückschritten, verläuft, bieten die Modelle den Begleitenden eine Hilfe, mögliche Reaktionen im Blick zu behalten, um in der konkreten Situation auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen reagieren zu können.

Da die Notfallseelsorge fast immer im Akutfall auf Betroffene trifft, ermöglicht die Kenntnis über die Einteilung der Phasen und den Beginn der Trauer die Weichenstellung für eine gelingende Trauerarbeit und über Probleme damit.35 Mit diesem Hintergrundwissen können Notfallseelsorger ihre Strategien zur spezifischen Unterstützung der Betroffenen in den Phasen anpassen und auf die Probleme der Trauernden auf dem Weg eingehen.

Grundsätzlich sind für den Trauerprozess und damit die Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses die Persönlichkeit des Trauernden, seine Erfahrungen und sein Umgang mit früheren Trauerereignissen, die Beziehung zum Verstorbenen sowie die besonderen Umstände des Todes und der Situation zu berücksichtigen. Das können Modelle nicht leisten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Formen der Reaktion beschreiben: zur Trauer gehören die Verdrängung, das Gefühl des Schmerzes, Gedanken zum Sinn des Ganzen und die Aktivität, um neue Erfahrungen (und Beziehungen) zu machen. Diese Phasen durchlebt – unterschiedlich und individuell – jeder Betroffene: Zeit und Art, die Reihenfolge, Fortschritte oder Wiederholungen der Phasen im Trauerprozess sind allerdings individuell sehr unterschiedlich, daher sind auch Phasen nur als „Geländer“ zu verstehen, an dem sich Begleiter orientieren können. Dass Betroffene in jeder Phase der Trauer Unterstützung und Hilfen erfahren, soweit sie gewünscht werden, ist allen Modellen gemeinsam.

Das Krisenmodell von Verena Kast gilt bis heute als eines der wichtigsten für das Verständnis von Trauerprozessen.36 In der ersten Phase steht die Unterstützung in der Bewältigung alltäglicher Aufgaben im Vordergrund, denn Betroffene fühlen sich oft überfordert – dies muss erkannt und abgemildert werden. Trauernde sollten jetzt möglichst nicht allein bleiben und ihre Empfindungen ausdrücken dürfen – Helfer sollten einfach „Da-Sein“. Eine Atmosphäre der Akzeptanz hilft Betroffenen dabei, ihre – oft unterschiedlichen und auch gegensätzlichen – Reaktionen auf das schwere Ereignis auszudrücken und zu verstehen.

Die Hilfen in der zweiten Phase sind charakterisiert durch das „Da-Sein“ und miteinander aushalten. Gefühle brechen auf, depressive Stimmungen und ausagierte Wut können (schnell) wechseln. Anteilnahme und Zuhören sind wichtig, Wertungen der Helfer sind ebenso fehl am Platz wie der möglicherweise andere Umgang mit dem Problem.

Erika Schuchardts Modell ist gut für viele verschiedene Krisen und deren Verläufe im Leben anzuwenden. Sie betont, dass sich Phasen wiederholen, (fließend) überlagern und auf höherem oder tieferem Niveau nochmals durchgearbeitet werden können oder auch nebeneinander stehen. Diese Ausdifferenzierung schafft eine größere Nähe zu den individuell erlebten Trauerprozessen der Betroffenen. Dennoch gliedert Schuchardt die Phasen klar und grenzt sie voneinander ab. Begleitung und Hilfen sind durch Entlastung und Ruhe für die Betroffenen gekennzeichnet sowie durch das bewusste Wahrnehmen der je eigenen Gefühle und die Bestätigung, dass viele Menschen in einer solch schrecklichen Situation ähnlich reagieren. Die bloße Anwesenheit von Menschen hilft Betroffenen dabei, die Situation und den Verlust im Schweigen, Weinen, Klagen oder im Gespräch zu realisieren – so können sie beginnen, beides anzunehmen. Notfallseelsorge arbeitet sozusagen als Anwältin für die Betroffenen – sie nimmt nötigenfalls die Interessen Betroffener gegenüber Dritten wahr.

William J. Worden benennt – statt der Phasen in den beiden vorher vorgestellten Modellen – Aufgaben für Betroffene, die diese zu bewältigen haben. Phasenmodelle allein versteht Worden als zu passiv. Seine Sicht ermöglicht ein umfassenderes Bild des Trauerprozesses. Betroffene sind daran aktiv beteiligt, sie haben Verantwortung für sich und den Prozess und bekommen damit wieder Handlungsspielraum zur eigenständigen Lösung der möglichen Probleme. Begleitende zeigen für das Durchleben des Schmerzes Verständnis, sie halten mit Betroffenen aus und ermuntern diese dazu, Gefühle (Ängste, Zorn, Trauer, Ohnmacht) wahrzunehmen und weisen auf Hilfen hin.

In der Notfallseelsorge kommt es nicht darauf an, die Modelle zu zitieren, sondern um die Besonderheiten zu wissen und mit diesem Wissen Betroffene zu unterstützen. Die vielen, sehr individuellen Formen der Trauer erfordern eine eigene Auseinandersetzung mit den vorgestellten Modellen und daraus folgend in hohem Maße Fingerspitzengefühl, Offenheit, Flexibilität und Einfühlung, die durch die theoretischen Modelle und Überlegungen unterfüttert werden.37

Funke beschreibt Notfallseelsorge als „Antwort kirchlicher Seelsorge auf tief greifende Veränderungen“38 in der modernen, spezialisierten Welt mit ihrem Pathos der Machbarkeit. Er plädiert klar „für eine umfassende seelsorgerliche Trauerbegleitung“39, die bereits mit der seelischen ersten Hilfe, mit ersten Schritten hin zu einem guten Verarbeitungsprozess der Trauer, beginnt. Zwar ist Vorsicht geboten mit religiösen Angeboten und Sinnzuschreibungen, dennoch kann auf mögliche Trauerrituale hingewiesen werden, um die Unsicherheit der Trauernden abzumildern und sie mit ihren Bedürfnissen nicht allein zu lassen.40 Rituale ermöglichen den Umgang mit der Situation, spenden Kraft, die durch die Situation des Verlustesabsorbiert wird, und bieten Rückhalt in einer unhaltbaren Situation. Für Betroffene ist das Zulassen der Trauer der wichtigste Schritt; dabei zu helfen, ist die entscheidende Aufgabe der Begleitenden. Rituale, die die Situation der Trauernden aufnehmen und an das konkrete Leben anschließen, werden als hilfreich erlebt. Rituale dürfen aber nicht mit theologischen Inhalten überfrachten – die individuelle Trauer der Menschen muss ihren Platz behalten dürfen. Tradierte Formen werden somit anschlussfähig an die Bedürfnisse der Menschen im Licht des Evangeliums. Auch die Sensibilisierung der Angehörigen für solche Rituale ist eine wichtige Aufgabe der Notfallseelsorge.

Trauerarbeit kann gelingen, wenn die folgenden Punkte im Bewusstsein der Begleitenden sind: Betroffene brauchen Menschen an ihrer Seite, die sich dem Geschehen nicht entziehen, die mittrauern und mit ihnen aushalten, die Zeit haben und den Betroffenen Zeit lassen.

Betroffene erleben die Ereignisse, in denen die Notfallseelsorge zum Einsatz kommt, oft zum ersten Mal, die (professionellen) Seelsorger aber gehen häufig mit diesen Situationen um: Das Gefälle im Wissen, in der Betroffenheit und auch im Umgang mit diesen Situationen darf nicht zur Abstumpfung der Notfallseelsorger führen, damit alle Betroffenen individuell gut versorgt werden und damit Trauer und Trauerreaktionen nicht posttraumatisch weitere Belastungen nach sich ziehen.41

Theologisch verstanden ist eine Krise auch Ausdruck einer Krise zwischen Gott und Mensch, somit der „fundamentale[n] Störung des Verhältnisses Gott – Mensch [und zur] gefallenen Schöpfung“42 ist. Die Heilige Schrift beider Testamente beschreibt viele Situationen, in denen Menschen Leid widerfährt und in denen sich JHWH als ein Gott zeigt, der zu seinem Bund steht, trotz Leid, Schuld und Sünde.44