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Gerhard Dittscheidt
Menschen im Notfall helfen

Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

 

91

 

Herausgegeben von
Erich Garhammer und Hans Hobelsberger
in Verbindung mit
Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Gerhard Dittscheidt

Menschen im Notfall helfen

Zur pastoralen Grundlegung

der Notfallseelsorge

in Kirche und Gesellschaft

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Zugleich Dissertation an der Philosophisch-Theologischen Hochschule SVD St. Augustin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
Druck und Bindung: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-429-03716-1 (Print)

978-3-429-04758-0 (PDF)

978-3-429-06172-2 (ePub)

Inhalt

 

Vorwort

1

Übersicht zum Untersuchungsverlauf und erste pastoraltheologische Orientierung

1.1

Anlass, Aufbau und Ziel der Untersuchung

1.2

Kirchliche Praxis im Wandel und das Beispiel Notfallseelsorge – Annäherung

1.2.1

Erster Blick auf den kirchlich-theologischen Horizont der Notfallseelsorge

1.2.2

Notfallseelsorge im Kontext der Frage nach Seelsorge heute

1.2.3

Notfallseelsorge im Rahmen heutiger pastoraler Themen

1.3

Gesellschaftlich-institutionelle Notfallbekämpfung und Anfrage an Seelsorge

1.4

Pastoraltheologische Fragen der vorliegenden Arbeit

2

Struktur und Theologie der Notfallseelsorge bis heute – Sachstand

2.1

Aufbau und Gang der Darstellung in diesem Kapitel

2.2

Strukturelle Entwicklung der Notfallseelsorge

2.3

Notfallseelsorgetheologie und -praxis bis 2013 – eine Sachstandsanalyse

2.3.1

Elemente eines bundesweiten Grundverständnisses notfallseelsorglichen Handelns

2.3.1.1

Katholische und evangelische Grundlagenpapiere zur Notfallseelsorge (2007)

2.3.1.2

Die kontingente Verfassung des Menschen: Anlass der Notfallseelsorge

2.3.1.3

Eine pastoralpsychologische Herausforderung nach innen und nach außen

2.3.1.4

Pastoraltheologische Eckpunkte

2.3.1.5

Notfallseelsorge in einer multireligiösen Gesellschaft

2.3.2

Theologische Grundlagen der Notfallseelsorge in Arbeiten von Thomas ZIPPERT

2.3.2.1

Gott und Mensch angesichts plötzlichen Leides

2.3.2.1.1

Humanwissenschaftliche Definitionen von Notfall, Krise und Katastrophe

2.3.2.1.2

Thomas ZIPPERTs Entwurf von Seelsorge im Dialog mit der Psychotraumatologie

2.3.2.1.2.1

Notfall, Krise und Katastrophe aus theologischer Sicht

2.3.2.1.2.2

Ein theologisches Situationskreismodell

2.3.2.1.2.3

Macht und Ohnmacht angesichts des Leidens

2.3.2.1.2.4

Die Klage als christliche Praxis angesichts von Leid und Not

2.3.2.1.3

Theologische Indikationen und seelsorgliche Ziele

2.3.2.2

Thomas ZIPPERTs religionstheologische Position

2.3.3

Aspekte notfallseelsorglichen Handelns in anderen Veröffentlichungen

2.3.3.1

Notfallseelsorgliches Handeln im Gegenüber zur Krisenintervention

2.3.3.2

Seelsorgliche Haltungen in der Begleitung

2.3.3.3

Aspekte einer seelsorglichen Intervention in unterschiedlichen Notfallsituationen

2.4

Zusammenfassung: Arbeit und Selbstverständnis der Notfallseelsorge bis heute

3

Notfallseelsorgetheologische Anschlusssuche – pastoraltheologische Diskurse

3.1

Aufbau und Gang der Überlegungen in diesem Kapitel

3.2

Vorfeldklärungen der aktuellen Situation für die Notfallseelsorge

3.2.1

Differenzierungen des Krisenbegriffs

3.2.1.1

Die Krise der Gottesfrage als bestimmende Größe der Pastoral

3.2.1.2

Krise der Kirche im Unterschied zum pastoralen Handeln der Kirche in einer Krise

3.2.2

Zur Bedeutung der Medien und der Öffentlichkeit für die Notfallseelsorge

3.3

Praktisch-theologische Modelle zur Praxis- und Inhaltsbestimmung der Notfallseelsorge

3.3.1

Zielsicher und situationsgerecht: Notfallseelsorge im handlungstheoretischen Regelkreis

3.3.2

Ein dreidimensionales Strukturierungsmodell pastoraler Inhalte

3.4

Kontextuelle Paradigmen pastoralen Arbeitens im Umbruch

3.4.1

Solidarität im Leiden als Orientierung der Pastoraltheologie

3.4.1.1

Hermann STEINKAMPs Paradigma der Sozialpastoral

3.4.1.2

Solidarität im Ernstfall: „Compassion" als christliche Handlungskompetenz

3.4.1.3

Der Ertrag des sozialpastoralen Perspektivwechsels für die Notfallseelsorge

3.4.1.4

Solidarität als ein Schlüssel zur Verhinderung von „Pastoralmacht“

3.4.2

Kritik an der Sozialpastoral

3.4.3

Pastoraltheologie verstanden als Evangeliumswissenschaft

3.4.3.1

Maria WIDLs Entwurf einer Weltentheologie

3.4.3.2

Ergebnisse aus der Kritik WIDLs für die Paradigmenbestimmung

3.5

Ergebnisse für die Einordnung der Notfallseelsorge

4

Theo-logische und diakonietheologische Verankerung der Notfallseelsorge

4.1

Aufbau und Gang der Überlegungen in diesem Kapitel

4.2

Die Bestimmung des theologischen Grundes der Notfallseelsorge in der Theodizee

4.2.1

Johann Baptist METZ’ Ansatz einer leidsensiblen Theologie

4.2.1.1

Leidenswahrnehmung in der Geschichte der Menschen

4.2.1.2

Das Gottvermissen im Gebet

4.2.1.3

Leben, Leid und Hoffnung teilen im Narrativen

4.2.1.4

Notfallseelsorge, begründet durch das Konzept der leidsensiblen Theologie

4.2.1.5

Verknüpfungen und Weiterführungen

4.2.1.5.1

Das Miteinander humanwissenschaftlicher und theologischer Konzepte

4.2.1.5.2

Eckmarken für eine pastoraltheologisch begründete Begegnung der Religionen

4.2.2

Kritiken an möglichen Engführungen im Ansatz von METZ

4.2.3

Der Glaubensbegriff im Kontext transzendentallogischer Freiheits- und Glaubensanalyse

4.2.4

Handlungstheoretisch begründete Praxis als Konkretion

4.2.5

Ergebnisse zur Charakteristik von Notfallseelsorge angesichts der Theodizee

4.3

Der diakonische Schwerpunkt notfallseelsorglicher Arbeit

4.3.1

Zur Entstehung und zur heutigen Bedeutung von Caritas / Diakonie

4.3.1.1

Ein Blick auf die Entstehung von Diakonie und auf heutige Fragen

4.3.1.2

Das konstitutiv kritische Potenzial des Diakonischen

4.3.1.3

Caritas und Diakonie in drei aktuellen kirchenamtlichen Veröffentlichungen

4.3.2

Herbert HASLINGERs Diakonietheologie als Grundlage für die Notfallseelsorge

4.3.2.1

Zur Bedeutung von Caritas und Diakonie und zur Wahl des Wortes „Diakonie“

4.3.2.2

Die Nahtstelle des Diakonischen: Grundvollzug und Weltdienst

4.3.2.3

Von der Diakonievergessenheit zur konstitutiven Qualität diakonischen Tuns

4.3.2.4

Der theologisch-anthropologische Anlass des Diakonischen

4.3.2.5

Ein diakonisches Solidaritätsverständnis

4.3.2.6

Grundmotive diakonischen Handelns in der Bibel

4.3.2.7

Notfallseelsorge im Kontext kultureller Diakonie

4.3.2.8

Ein dimensionales Modell der kirchlichen Grundvollzüge

4.3.2.8.1

Anliegen und Entfaltung eines Modells der kirchlichen Grundvollzüge

4.3.2.8.2

Kritik und Gegenkritik am Theologumenon der kirchlichen Grundvollzüge

4.3.3

Ergebnisse zur Charakteristik von Notfallseelsorge im Kontext diakonischen Handelns

4.4

Ergebnis aus der Erarbeitung des theologischen und diakonischen Merkmals

5

Andere Zugänge zur Notfallseelsorgetheologie – vermischte Perspektivweitung

5.1

Aufbau und Gang der Überlegungen in diesem Kapitel

5.2

„Zeichen der Zeit“ als ein theologischer Schlüssel für pastorale Situationen

5.2.1

Hinführung: „Zeichen der Zeit“ in konziliaren Dokumenten

5.2.2

Die „Zeichen der Zeit“ in der Darstellung von Jochen OSTHEIMER

5.2.3

Zwischenergebnisse: „Zeichen der Zeit“ als Schlüssel des Kirche-Welt-Verhältnisses

5.2.3.1

Kirche und Welt angesichts neuer Herausforderungen

5.2.3.2

Kirche in der Welt, ausgestattet mit dem sensus fidelium

5.3

Entwicklung und Kritik pastoraler Konzepte in deutschen Diözesen

5.3.1

Hinführung zur Frage nach diözesanen pastoralen Konzepten

5.3.2

Bernhard SPIELBERGs Analyse pastoraler Konzepte deutscher Diözesen

5.3.3

Pastoraltheologische Anschlüsse: „Ermöglichungspastoral" und „Anstiftung zur Selbstsorge"

5.3.4

Ergebnis für eine planerische Einbindung der Notfallseelsorge

5.4

„Volk Gottes“ – Kirche als Zeichen und Werkzeug der Gottesherrschaft

5.4.1

Hinführung: „Volk Gottes“ als Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils

5.4.2

„Volk Gottes“ als heutiges Kirchenbild – Die Studie von Jan LOFFELD

5.4.3

Ergebnisse aus der Studie LOFFELDs für die Notfallseelsorge

5.5

Ergebnisse der zusätzlichen Aspekte von SPIELBERG, OSTHEIMER und LOFFELD

6

Notfallseelsorgliche Praxis – eine Konzeptskizze

6.1

Aufbau und Gang der Überlegungen in diesem Kapitel

6.2

Auftrag und Begriff der Notfallseelsorge

6.2.1

Der christliche Auftrag: aus dem Glauben gesendet zum Dienen

6.2.2

Ein kritisch vertiefter Seelsorgebegriff von Notfallseelsorge

6.2.2.1

Multidimensional entworfene Seelsorge

6.2.2.2

Diensttheologische Möglichkeiten der Notfallseelsorge

6.3

Zum Verständnis von Profession und Kompetenz in notfallseelsorglichem Handeln

6.4

Ein Modell zur Beschreibung von Funktionen und Rollen in der Notfallseelsorge

6.5

Prinzipien katholischer Notfallseelsorge

6.6

Differenzierungen zwischen Notfallseelsorge, Notfallbegleitung und Psychotraumatologie

7

Pastoraltheologische Grundlagen der Notfallseelsorge – Zusammenfassung

7.1

Grundfragenorientierung und pastoraltheologische Fokussierung der Untersuchung

7.2

Theologie und Praxis der Notfallseelsorge bis zum Jahr 2013

7.3

Notfallseelsorge in einer Kirche im Aufbruch

7.4

Die beiden Merkmale der Notfallseelsorge

7.4.1

Präzisierung des theo-logischen Merkmals notfallseelsorglichen Handelns

7.4.2

Präzisierung des diakonischen Merkmals der Notfallseelsorge

7.5

Weitere pastoraltheologische Fragen und Herausforderungen

7.6

Ergebnisse einer Konzeptionsskizze der Notfallseelsorge

8

Thesen zur Notfallseelsorge als kirchlichem Handlungsfeld

9

Literaturverzeichnis

9.1

Abkürzungsverzeichnis

9.2

Literatur

10

Liste der Abbildungen

11

Anhang: Auswahl verstreuter Texte zur Notfallseelsorge

11.1

Botschafter des Lebens an der Grenze des Todes

11.2

Hamburger Thesen

11.3

Der ekklesiologische Ort der Notfallseelsorge

11.4

Tote begraben und Trauernde trösten

 

Anmerkungun

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung ist der gekürzte und aktualisierte Text der an der Philosophisch-theologischen Hochschule der Steyler Missionare in St. Augustin eingereichten pastoraltheologischen Promotion, die von Prof. Dr. Bernd Lutz angenommen und begutachtet wurde. P. Prof. Dr. Joachim Piepke (Dogmatik) erstellte das Zweitgutachten. Beiden und P. Prof. Dr. Josef Schmidt (Exegese des NT) danke ich herzlich für ihre Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Thema im abschließenden Rigorosum.

Unter pastoralpsychologischer Perspektive wurde mir immer augenfälliger, welche unterschiedlichen Kompetenzen in der Notfallbegleitung vorhanden oder erforderlich sind. Ebenso zeigten sich in meiner supervisorischen und koordinierenden Arbeit mit einzelnen Notfallseelsorgern und Teams wesentliche, teils gegenläufige operative, konzeptionelle und grundsätzliche Aspekte und Tendenzen der Notfallbegleitung, die man nicht als Einzelfallproblem ansehen konnte. Das zu klären, ist das Anliegen der Arbeit.

Entstehen konnte diese nur, weil eine Reihe von Menschen mich dabei unterstützt haben. Mein Dank gilt allen voran meiner lieben Frau Dorothee Kutz-Dittscheidt, die Raum und Zeit – wohl meist im Verzicht – geteilt hat. Er gilt daneben dem Weggefährten Diakon Ulrich Slatosch, Diözesanseelsorger für Feuerwehr und Rettungsdienst im Bistum Essen, der kontinuierlich die Fachlichkeit eingebracht hat, und denen, die durch Gespräche und durch Korrekturlesungen geholfen haben, Dinge zu klären. Dies sind Klaus Felder, Dr. Bernhard Wunder, Dr. Paul Rulands und Stephan und Hedi Peter, Adela Kistinger, Andreas Steinhard, unsere Tochter Viviana Kutz und schließlich Saskia Koch. Herzlich danken möchte ich des Weiteren dem Team der Kolleginnen und Kollegen der katholischen Krankenhausseelsorge im Stadtdekanat Wuppertal für seine Bereitschaft zur Unterstützung in jeder Beziehung, garantiert durch den ltdn. Pfr. Bernhard Uedelhoven. Ich bin dort beruflich neben meiner Tätigkeit als Notfallseelsorger zu gleichen Teilen angesiedelt. Ein spezieller Dank sei dabei den Teamkollegen Pfr. Ludger Jocks und Pfr. Hans-Werner Schneider gesagt, die ihre seelsorglichen Erfahrungen immer wieder einfließen ließen.

Widmen möchte ich diese Untersuchung in großer Dankbarkeit den Mitgliedern des Teams der „psychosozialen Unterstützung“ (PSU) und dem Team der PSU-Helfer der Feuerwehr Wuppertal. Wir haben in regelmäßigen Treffen und vielen Gesprächen einen gemeinsamen Weg genommen, Begegnungen in Einsätzen, die uns selbst verändern, zu bedenken und hoffentlich Menschen damit immer besser hilfreich in Notsituationen begleiten zu können.

Wuppertal, den 18. Dezember 2013

1Übersicht zum Untersuchungsverlauf und erste pastoraltheologische Orientierung

1.1Anlass, Aufbau und Ziel der Untersuchung

In den Tagesnachrichten wird im Zusammenhang von (größeren) Bränden oder Unfällen, bei denen Personen zu Schaden gekommen sind, verschiedentlich von einer seelsorglichen und psychologischen Unterstützung der Opfer, der Angehörigen und der Helfer gesprochen. Das ist immer noch eine ungewöhnliche, vielleicht sogar trostreiche Information.

Die Unterstützung ist allerdings inzwischen mit einer Reihe aus der gewachsenen Praxis entstandener grundsätzlicher Fragen konfrontiert:

Der ‚Alltag‘ der Notfallseelsorge zeigt, dass es viele Not-, Leidens- und Verlusterfahrungen im Zusammenhang familiärer oder öffentlicher Situationen sind, aus denen heraus Menschen notfallseelsorgliche Begleitung in der Phase der ersten Stunden nach einem Ereignis wünschen. Ob dazu die notwendigen Fähigkeiten und Kapazitäten vorhanden sind, ist zunehmend unklar.

Auch muss besonders im Zusammenhang mit größeren Ereignissen auf einem hohen Niveau mit medizinischen, rettungsdienstlichen, notfallpsychologischen und polizeilichen Kräften kooperiert werden. Das erfordert mittlerweile ebenfalls Kompetenzen und Strukturen, die sich nur zum Teil aus gegenwärtigen Seelsorgeprofilen gewinnen und angesichts von Gemeindestrukturen im Umbruch garantieren lassen.

Insgesamt stellt sich nach einer Zeit, in der sich die notfallseelsorgliche Hilfe zunächst als Einzelhilfe und dann als vernetztes Angebot entwickelt hat, zunehmend die Frage, was Kirche als Institution unter „Notfallseelsorge“ versteht und wie sie diese weiter durchführen will. Notfallseelsorge erhält immer mehr einen den anderen Hilfseinrichtungen ähnlichen Status, aus dem heraus sie ihren charakteristischen Beitrag als Akut-Hilfe in Notsituationen genau bestimmen muss, um für alle Beteiligten verlässlich Unterstützung zu geben. Personelle und finanzielle Ressourcen sind vielfach ausgeschöpft und neue Wege müssen gesucht werden.

Die Frage möglicher organisatorischer Erfordernisse ist dabei nur ein äußerer Anlass für die vorliegende Arbeit. Dahinter liegt zentral die Frage nach dem theologischen Grund der Hilfe in Notlagen und es kommen Aspekte des pastoralen Handelns der Kirche in den Blick: Was bedeutet es für die Kirche, Menschen in Notlagen zu begleiten, wenn sie sich als die Nachfolgegemeinschaft Jesu Christi versteht?

Die grundsätzliche Perspektive fügt die Frage nach den erforderlichen speziellen Kompetenzen in das Gesamt kirchlichen Handelns ein. Konkret lassen sich Perspektiven zeigen und entwickeln, die sowohl die Sozialgestalt der Kirche vor Ort (Pfarrei / Gemeinde) als auch die Dienstgestalt der Seelsorge im Rahmen des kirchlichen Auftrages und im Rahmen des kommunalen Wirkens öffnen.

Notfallseelsorge arbeitet heute schon jenseits der bekannten Gemeindegrenzen und mit einem speziellen Dienstprofil.

Um das zu zeigen, nimmt die vorliegende Arbeit den folgenden Weg:

(1)Begonnen wird mit dem Abstecken seelsorgetheologischer, pastoraltheologischer und notfallseelsorglicher Fragehorizonte. Dabei wird sichtbar, dass Grundlagenpositionen zum Verständnis kirchlichen Handelns heute weit auseinander liegen und einen hohen Fragebedarf ausweisen.

Das betrifft zunächst seelsorgetheologische Themen. Für den Zusammenhang der Notfallseelsorge wird in dieser Arbeit an die Darstellungen von Doris NAUER angeknüpft.1 Sie ermöglichen konzeptionelle Überlegungen, was wie getan wird. Sie geben jedoch nur eine eingeschränkte Antwort auf die Frage nach dem Warum der Notfallseelsorge selbst.

Diesbezüglich steht die pastoraltheologische Frage angesichts des kirchlichen Wandels im Raum. Die Annäherung an pastoraltheologische Fragestellungen erfolgt über das Grundverständnis von Pastoral, wie es im Zweiten Vatikanischen Konzil bestimmt wurde. Beim Versuch einer Eingrenzung, die mithilfe einer ersten Betrachtung aufgrund der Situation des Notfallgeschehens selbst vorgenommen wird, stößt man auf Anknüpfungspunkte, die sich auf zwei Diskurse hin fokussieren lassen: Die meisten der aus der Praxis der Notfallseelsorge entstehenden Fragen zur Möglichkeit und Zukunft hängen, soweit sie das kirchliche Handeln konkret betreffen, mit gegenwärtigen gemeindetheologisch und milieusensibel2 ausgerichteten Entwicklungen und Diskursen zusammen. Darin zeigen sich allerdings auch Differenzen in erheblichem Umfang.

Das Hauptziel der vorliegenden Arbeit ist es in dieser Situation, die für die Grundlegung der Notfallseelsorge erforderliche theologische Klärung nach innen und nach außen vorzunehmen, indem Anknüpfungen an die pastoraltheologische Debatte gesucht werden. Damit soll Notfallseelsorge besser als bisher als ein spezielles kirchliches Handeln weiterentwickelt werden können, insofern es im Rahmen des kirchlichen Handelns verankert ist. Es geht um eine kirchlich verantwortete Qualitätssicherung, die seitens der Theologie zu leisten versucht wird, nachdem sich Notfallmedizin und Notfallpsychologie in den letzten Jahrzehnten in hohem Maß entwickelt haben. Erreicht werden soll die Entwicklung und Darstellung einer notfallseelsorglichen „Pastoralkompetenz“3.

(2)Um das zu erreichen, schließen sich zunächst eine Skizze der Entstehung der bundesweiten Organisation der Notfallseelsorge und eine Sachstandsanalyse der seelsorglichen Arbeit und der Theorieentwicklung auf der Grundlage vorliegender Veröffentlichungen zur Notfallseelsorge an, die theologische Einzelaspekte und notfallseelsorgliches Handeln im engeren Sinn bedenken. Diese werden aufgegriffen und dargestellt. Dieses Kapitel soll weitgehend geschlossen gelesen werden können, obwohl dadurch im Verlauf Doppelungen verschiedener Gedanken und Darstellungen auftreten.

(3)Notfallseelsorge darüber hinaus noch pastoraltheologisch zu verorten, mag zunächst überraschen. Aber es bedarf in der heutigen Umbruchsituation eines Verständnisrahmens für dieses seelsorgliche Handeln in und aus dem Raum der Kirche, da sich die Rahmenbedingungen der Hilfe in Notsituationen entwickelt haben und da sich die Kirche selbst in einem Entwicklungsprozess befindet, der ihre Praxis konkret und grundsätzlich betrifft. Genauer sichtbar wird dies bei der Differenzierung des Krisenbegriffs, der zunächst sowohl die augenfälligen Aspekte der Krise der Kirche wie auch den Aspekt kirchlichen Handelns in der Begleitung einer Krise umfasst. Wird von einer Krise der Kirche gesprochen, treten arbeits- und organisationslogische Aspekte im Verbund mit kirchensoziologischen und diensttheologischen Aspekten in den Vordergrund. Die Begleitung einer Krise stellt demgegenüber andere Fragen nach der speziellen Kompetenz, die ihrerseits die Frage nach dem Proprium seelsorglichen Handelns aufwirft und insofern auch an ekklesiologische, aber auch kirchensoziologische und diensttheologische Aspekte anschließt.

Eine erste Zuordnung geschieht durch das Einfügen in pastoraltheologische Praxismodelle von Paul M. ZULEHNER sowie von Herbert HASLINGER. Diese sind aufgrund ihrer Abstraktion insofern hilfreich, als sie Schnittstellen einer weiteren Erarbeitung von Notfallseelsorge im Rahmen kirchlichen Handelns sichtbar machen und in die allgemeinen Diskurse der praktischen Theologie einbinden.

Daran muss sich die inhaltliche Füllung im eigentlichen Sinn anschließen. Sie wird über die Darstellung und Diskussion der beiden Entwürfe von Hermann STEINKAMP und Maria WIDL vorgenommen. Diese erlauben es mit ihrem paradigmatischen Anspruch an die Gestaltung kirchlichen Handelns in der heutigen Kirche und Welt, auch die pastoraltheologisch dimensionierte Frage nach der Grundlage der Notfallseelsorge in einem größeren theologischen Kontext zu diskutieren.

So fragt STEINKAMP mit seiner „Sozialpastoral4 nach der Bedeutung, die Kirche in ihrem Handeln der Not der Leidenden gibt. Dieser Entwurf wird daraufhin untersucht, ob und, wenn ja, wie er in der Lage sein könnte, das Praxisanliegen der Notfallbegleitung theologisch zu verankern und als kirchliche Praxis zu erschließen. Wichtige Entdeckungen bei dieser Untersuchung sind das darin enthaltene Solidaritätsverständnis, bzw. genauer: ein Verständnis von „Compassion“, das wiederum eingebettet werden kann in STEINKAMPs Konzept einer gemeinschaftlichen bzw. gemeindlichen Vision gelingenden Lebens.

Kritik daran wird laut, die sich besonders auf die Anwendbarkeit des Ansatzes auf die heutige deutsche (volks-)kirchliche Wirklichkeit richtet. Maria WIDL entwickelt im Rahmen eines „weltentheologischen“ Ansatzes5 wesentliche Ergänzungen, die die Gottesfrage in der heutigen Gesellschaft und Kirche bzw. die Erfahrung Gottes heute betreffen.

(4)Als Ergebnis nach dem Durchgang durch die beiden Ansätze zeigt sich jedoch, dass die Grundlagenbestimmung der Notfallseelsorge noch weitergeführt werden muss, weil die Merkmale der Notfallseelsorge (aus dem Grund kirchlichen Selbstverständnisses diakonisch handeln) inhaltlich noch unterbestimmt bleiben.

Die vorliegenden Veröffentlichungen zur Notfallseelsorge erwähnen das kirchlichseelsorgliche Selbstverständnis häufig, geben aber nur wiederholt den Hinweis auf das Motiv des Leidens und des Engagements zur Begleitung von Menschen in Leid- und Notsituationen. Eine Ausarbeitung der theologischen Charakteristik fehlt bis dato. Sie wird entlang der Arbeiten von Johann Baptist METZ6 vorgenommen, weil sie die Frage der Theodizee in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen und eine leidsensible Theologie initiieren wollen. Mit Blick auf die notfallseelsorgliche Situation stellen sich gegenüber METZ besonders Fragen nach seinem Glaubensbegriff und nach seinem Freiheitsverständnis, die an seine Überlegungen mit Gewinn angeschlossen werden können.

Das zweite Merkmal, die diakonische Charakteristik, hat in der theologischen Debatte als kirchliche Grundfunktion eine Bedeutung, um die jedoch gerungen wird. Ein zugleich seelsorgliches und diakonisches Profil begründet und entfaltet sich nur zaghaft. Die Arbeiten von Herbert HASLINGER7 bieten Antworten, die diskutiert und besonders über die Frage nach den drei kirchlichen Grundfunktionen der Diakonie, der Liturgie und der Martyrie abgerundet werden. Hier ergibt sich auch erneut ein Blick auf gemeindetheologische Zusammenhänge.

(5)Um die Begründbarkeit der Notfallseelsorge zu gewährleisten, soll nach dem Durchgang durch die Debatte um den diakonischen Gesichtspunkt noch auf drei weitere Aspekte eingegangen werden, die neben den beiden großen inhaltlichen Klärungen Anschlüsse an spezielle aktuelle theorie- und praxisrelevante Diskurse erlauben.

So spielt der Topos der Zeichen der Zeit als hermeneutischer Schlüssel zur Wahrnehmung der Gegenwart eine wichtige Rolle. Er erlaubt, wie Jochen OSTHEIMER zeigt8, im Verhältnis von Kirche und Welt grundsätzliche Themen als Aufgabe der Kirche anzunehmen, aber auch kleine kairologische Zeichen und Situationen unter dem Wirken des Geistes zu sehen, aufzugreifen und zu handeln. Es ist zumal die hoffnungsvolle und kritische Perspektive des Zweiten Vatikanischen Konzils, entwickelt in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, die in Verbindung mit der Notfallseelsorge gebracht wird. Die Frage ist, ob die Wahrnehmung des Leidens und der Not in der Notfallseelsorge ein solches kairologisches Zeichen aus der Tradition des Aufbruchs im Anschluss an das Konzil ist.

Der Notfallseelsorge als einem jungen Handlungsfeld begegnet das Thema notwendiger Umstrukturierung unmittelbar. Diözesanweite Konzeptfindungsprozesse zur Gestaltung kirchlichen Handelns angesichts von Finanz- und Personalnot stellen sich diesem Problem und suchen nach Lösungen. Bernhard SPIELBERGs Untersuchung von diözesanen Prozessen9 wird neben anderen zum Anlass weiterer Überlegungen genommen, die erlauben, die Möglichkeiten des notfallseelsorglichen Dienstes in diesem Kontext kritisch zu bedenken. Hier ergeben sich Anschlüsse z. B. an das Konzept der „Ermöglichungspastoral“ wie es Joachim ECKART10 und Dorothea STEINEBACH11 vorschlagen, aber auch an das gemeindetheologische Modell der „Anstiftung zur Selbstsorge12 von Hermann STEINKAMP.

Darin ist jenseits der konzeptionell-operationalen Ebene die Frage nach der konkreten Gestalt der Gemeinschaft der Christen enthalten. Im Begriff des Volkes Gottes lassen sich im Anschluss an und im Unterschied zu Jan LOFFELDs Forschung13 theologische Positionen entwickeln, die die heutige gemeindliche und außergemeindliche Situation betreffen und auf Notfallseelsorge hin gelesen werden können.

(6)Dann wird das Feld der Suche nach pastoralen Zusammenhängen verlassen und eine Sammlung von pastoraltheologischen Konzeptpunkten notfallseelsorglicher Praxis vorgestellt, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit vor dem Hintergrund der erhobenen Ergebnisse in einer Skizze zusammenfließen, jedoch nicht mehr als eine solche bleiben können und über diese Arbeit hinausweisen.

Die Skizze greift an diesem Punkt erneut u. a. auf die Forschungen von Doris NAUER zurück. Vor dem Hintergrund der pastoralen Grundlage lassen sich mit ihrer Hilfe Fragen der seelsorglichen Praxis konzeptprägend anwenden. Und ein erneuter Blick auf Dorothea STEINEBACHs Arbeit erschließt noch konkreter Professions- und Kompetenzfragen. So ist es möglich, das Miteinander von Diensten (Amt und Ehrenamt, Charisma und Amt) im seelsorglich-diakonischen Kontext zu sehen und zu beschreiben.

(7)Abgeschlossen wird die Arbeit durch eine Zusammenschau der einzelnen Ergebnisse. Sie erlauben es, den Bogen von der pastoraltheologischen Begründung zur seelsorglichen Praxis zu schlagen und, durch die theologische Reflexion gesichtet und gesichert, zur Praxis der Notfallseelsorge zurückzukommen.

(8)Zusätzlich kurz zusammenfassend werden (für den eiligen Leser) am Schluss Thesen zum Sachstand und zur Praxis der Notfallseelsorge auf der Grundlage der in der Arbeit gewonnenen Antworten vorgestellt.

1.2Kirchliche Praxis im Wandel und das Beispiel Notfallseelsorge – Annäherung

1.2.1Erster Blick auf den kirchlich-theologischen Horizont der Notfallseelsorge

Erstmalig 2006 stellt ein überregionales deutschsprachiges katholisches Lexikon, das LEXIKON FÜR THEOLOGIE UND KIRCHE, Notfallseelsorge der Sache nach eigens vor:

„In der N[otfallseelsorge, G. D.]. (seit 1989 in der BRD) leisten haupt- u. ehrenamtlich dafür geschulte u. kirchlich beauftragte Priester u. kirchl. Mitarbeiter/-innen den Opfern, Angehörigen od. Hinterbliebenen akuter Not- u. Krisensituationen (z. B. bei Verkehrsunfällen, Brand-, Wasser- u. Luftfahrtkatastrophen, Tod v. Kindern, Suizid [-Versuch]) auf der Basis des chr. Glaubens ‚psychische Erste Hilfe‘, eingebunden in die Rettungskette der Notfallversorgung. – Zum anderen umfasst N. den pastoralen Dienst für Einsatzkräfte aus Behörden u. Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (z.B. Techn. Hilfswerk, Feuerwehr, Rettungsdienst u. Polizei […]).“14

Damit ist in lexikalischer Präzision und Knappheit beschrieben, wie und warum Notfallseelsorge arbeitet. Es geht jedoch nicht daraus hervor, was das im Einzelnen (seelsorglich) oder im Gesamt kirchlichen Handelns (pastoral) für eine Bedeutung hat.

Wenn Notfallseelsorge als kirchliches Angebot heute weiter durchgeführt werden soll, muss sie praktisch verortet sein und sich theologisch begründen können.

Notfallseelsorge trägt in sich aufgrund ihrer Entstehungssituation und aufgrund ihres Arbeitskontextes theologisch eine herausfordernde Kraft, die gehoben werden soll.

Elisabeth LIENHART und Karl-Heinz LADENHAUF betonen besonders das Motiv christlich-notfallseelsorglichen Handelns, sich angesichts von Leid und Not um des anderen Menschen seelsorglich „mit-leidend“ und um des anderen Gottes willen theologisch „leidsensibel“ zu verhalten.15 Genau an diesem Punkt entzündet sich jedoch nicht nur die Frage nach dem Grund, sondern auch nach der Grenze notfallseelsorglichen Tuns. LIENHART und LADENHAUF schreiben:

„Die Grenze unseres Verstehens, Einfühlens und Beistehens nicht anzuerkennen wäre gefährlich und unmenschlich. Niemand von uns kann dem Anspruch genügen, den die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils so klar zum Ausdruck bringt: ‚Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in den Herzen der Jüngerinnen und Jünger Christi seinen Widerhall fände.‘ (Gaudium et spes 1) Keine und keiner von uns – und sei sie oder er noch so einfühlsam und belastbar – kann allem Menschlichen ‚Widerhall‘ geben. Dazu braucht es die Gemeinschaft des Volkes Gottes – und damit meint das Konzil nicht nur die Kirchenmitglieder.“16

Vordergründig ist damit eine pastoralpsychologische Dimension seelsorglichen Handelns bezeichnet, die die individuelle seelsorgliche Situation betrifft. Mit der Öffnung des Blicks auf das Konzil gelingt allerdings das Aufsprengen von Blickverengungen: Sowohl seelsorgetheologische als auch pastorale Dimensionen des Motives notfallseelsorglichen Handelns sind angesprochen. Der so grundsätzlich abgesteckte Resonanzraum soll im Folgenden durchschritten werden.

Generell gilt für die vorliegende Arbeit, dass sie in weiten Teilen theologische Positionen aufgreifen und darstellen will, die bereits vorliegen, die aber bis dato nicht mit der Notfallseelsorge verbunden worden sind. Es geht darum, seelsorgetheologische, mehr aber noch pastoraltheologische Aspekte heutigen kirchlichen Handelns in mehreren Gedankenkreisen zusammenzutragen, aus denen heraus sich das Motiv notfallseelsorglichen Handelns herausschälen lässt.

Dann ist es möglich, die Praxis der Notfallseelsorge im Rahmen der Seelsorgepraxis erheblich breiter zu erhellen und nachhaltig durchzuführen.

Das ist erforderlich, soll der Wandel, der sich für die Notfallseelsorge personell und sachlich abzeichnet, aktiv und zukunftsweisend mitgestaltet werden können.

Besonders zwei Gründe lassen sich dahin gehend im Vorfeld ausmachen:

(1) Zunächst liegt ein Grund in der Entwicklung der Notfallseelsorge und den sich daraus ergebenden konzeptionellen Fragen selbst:

Die Entwicklung der Notfallseelsorgeorganisationen vor Ort ist in starkem Wandel und in Teilen gefährdet. Nach der Entwicklung ursprünglich vereinzelter Initiativen zu einem breit akzeptierten Handlungsfeld ergeben sich inzwischen Fragen nach dem Praxisprofil von Notfallseelsorgern und Notfallseelsorgerinnen in Kooperation mit anderen Professionen und dahinter grundsätzliche inhaltliche Fragen nach dem Proprium in diesem speziellen Arbeitsfeld.17 Diesbezüglich müssen seelsorgetheologische Grundlagen jenseits der Frage nach individueller Kompetenz, aber für diese bereitgestellt werden.

(2) Ein weiterer pastoraltheologisch erheblich komplexerer Grund wird sichtbar, wenn das Motiv der Kirche im Wandel genauer betrachtet wird:

Dass die Praxis- und Sozialgestalt der Kirche (Gemeinschaft / Gemeinde / Pfarrei / Anders-Orte)18 und die Struktur kirchlichen Handelns (Dienst / Amt / Charisma)19 nicht nur vereinzelt, sondern an vielen Stellen gleichzeitig im Wandel sind20, steht außer Frage. Ein Blick auf die Situation der Kirche in Deutschland zeigt, dass gegenwärtig auf unterschiedlichen Ebenen grundsätzliche Aspekte bedacht werden müssen.21 Das sind Zusammenhänge, die mindestens organisatorisch auch die Notfallseelsorge beeinflussen.

Dass damit ein Prozess pastoraler oder pastoraltheologischer Konsensbildung verbunden ist und zugleich mit Debatten und Dissensen zu rechnen ist, die Auswirkungen auf das individuelle und kirchlich-pastorale Seelsorge(r)verständnis haben, muss ebenfalls angenommen werden.22

Es sind nicht nur abstrakter Inhalt und planerischer Umfang der Bruchstelle des Wandels, sondern darüber hinaus auch die darin möglichen Chancen und Belastungen für hauptberuflich und ehrenamtlich in der Pastoral Tätige beachtet worden.23 Dass es hier zu Verwerfungen und zusätzlichen struktur- und prozessbedingten Anforderungen kommt, ist Anlass für spezielle personalplanerische und personalentwicklerische Ansätze.24

Die konkrete Praxis der Notfallseelsorge stellt eine eigene komplexe Herausforderung für notfallseelsorglich Handelnde und für die Kirche(n) dar. In der 3. vollständig überarbeiteten Auflage des HANDBUCHS NOTFALLSEELSORGE wird dies für die Notfallseelsorge in der evangelischen Kirche deutlich signalisiert und dokumentiert. Themen der kirchlich-gesellschaftlichen Verortung und Verankerung sowie der Kompetenz- und Qualitätsbestimmung sowie der Gefährdungsbeurteilung25 werden ähnlich den Diskursen in anderen psychosozialen Handlungsfeldern und Institutionen aufgegriffen und grundsätzlich vorgestellt. Ihre jeweilige Gestalt und ihr Gewicht werden durchaus den regionalen Bedingungen entsprechend differenziert eingeschätzt und zugleich grundsätzlich eingebracht.

Die dort skizzierten Aspekte erlauben eine erste differenzierte Betrachtung der Notfallseelsorge und stellen ein organisationsentwicklerisches Grundmodell bereit, Notfallseelsorge seelsorgetheologisch und psychosozial verantwortet zu gestalten.

Und doch hat die Frage nach dem Proprium der Notfallseelsorge davon unterscheidbar theologische, pastoralpsychologische und pastorale Dimensionen, die eingehender erhellt werden müssen, will Notfallseelsorge eine begründete und kontinuierliche Arbeit mit einem eigenen kommunikablen Proprium leisten. Dies tut zunächst besonders Thomas ZIPPERT in seinen Arbeiten, auf den später intensiv eingegangen wird.

Es ist ebenso besonderes Anliegen der vorliegenden Arbeit, sich diesen Fragen aus Sicht der katholischen Theologie zu stellen und sie eingehend zu beantworten. Denn auch in der katholischen Kirche in Deutschland kommt es aufgrund von Wandlungsprozessen insgesamt zu Veränderungen, die strukturell und konzeptionell Belastungszusammenhänge für Seelsorger in der Notfallseelsorge nach sich ziehen und die speziellen situationsbedingten Belastungen zusätzlich nicht abdecken.26 Diese Gründe sind Anlass, seelsorgetheologische und pastoraltheologische Aspekte der Notfallseelsorge weiter zu erschließen. Damit soll es besser gelingen, Ressourcen und Kräfte einzusetzen, indem im vorliegenden Fall der Suche und Bestimmung der Notfallseelsorge theologische Positionen begründet in den aktuellen Diskurs der Kirche eingespeist werden können. Zu groß ist der Komplex der Aspekte kirchlicher Wandlung. Hier können bekannte Tätigkeiten mit ihren inhärenten Potenzialen und Erfordernissen scheinbar schnell identifiziert, Neues oder erneut Sichtbar-Werdendes jedoch ebenso schnell ausgeschlossen werden.

1.2.2Notfallseelsorge im Kontext der Frage nach Seelsorge heute

Um dem entgegenzuwirken, soll im Folgenden zunächst eine Anknüpfung an den seelsorglichen Betrachtungskontext vorgenommen werden.27

Kardinal Karl LEHMANN hebt 1990 als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz die Bedeutung der Seelsorge für die Kirche hervor: Sie ist Wesenskern der gesamten Sendung der Kirche.28

Auf dieser Linie liegt auch das, was von den beiden Vorsitzenden der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland allgemein zur Notfallseelsorge geschrieben worden ist. Dem Vorwort der, nach 1999 und 2006, dritten bundesweiten Broschüre zur Notfallseelsorge von 2009 kann man entnehmen, dass die notfallseelsorgliche Arbeit von Vertretern der Kirchenleitungen der katholischen und der evangelischen Kirche, von Erzbischof Robert ZOLLITSCH und Bischof Wolfgang HUBER, als selbstverständlich und erwünscht angesehen wird:

„Die Kirche der Zukunft ist eine Kirche an den Lebenswegen der Menschen. Dies gilt selbstverständlich auch in Notfällen und Krisensituationen. Hier hilft die Notfallseelsorge als ‚Erste Hilfe für die Seele‘ mit verlässlicher Präsenz und Begleitung, sie hilft auf der Suche nach Wegen, Gefühlen Ausdruck zu geben, sie hilft durch Zuhören, durch Beten und Bezeugen, sie hilft auch durch das Angebot von Riten des Abschieds und der Trauer, oftmals allein durch ihre stille Anwesenheit.

Notfallseelsorge ist als organisierter Bereitschaftsdienst der Kirchen zur Selbstverständlichkeit geworden. Wir danken allen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die sich dieser Aufgabe neben ihrem Dienst in der Gemeinde stellen und vor Ort fast überall in ökumenischer Verbundenheit den Menschen als zuverlässige Lebensbegleiter nahe sind.“29

Aber theologisch stellt sich die Frage, welche Prägekraft das im Vorwort Angesprochene hat. Es gibt eine situativ-deskriptive und eine theologischnormierende Betrachtungsweise.

Nicht nur mit Blick auf die evangelische Seelsorge beschreiben SCHIRRMACHER und MÜLLER-LANGE die Herausforderung der Notfallseelsorge für die kirchliche Seelsorge allgemein:

„Gerade die Tatsache, dass die Notfallseelsorge von Anfang an primär auf spezifische Praxisanforderungen ausgerichtet war und ist und keine explizite kirchliche Erneuerungsbewegung darstellt, begründet eine Evidenz wichtiger Grundentscheidungen zu Praxisverständnis und -bewältigung, die dazu beitragen könnte, kirchlich-pastorale Mentalitäten zu beeinflussen und zu verändern. Dabei steht die Notfallseelsorge selbst in einer beeindruckenden Geschichte der Sensibilisierung für elementare Notlagen.“30

Die Hinweise auf spezifische Praxisanforderungen und eine Evidenz der Grundentscheidungen für ein Praxisverständnis, das eine neue Sensibilität signalisiert, machen deutlich, dass Klärungen in mindestens zwei Richtungen vorgenommen werden müssen:

Welche spezifischen Anlässe, Profile und Kompetenzen sind gemeint?

Und welche Position, ja welches ihr eigene Potenzial bei der Sichtung und Bestimmung der Grundlagen hält Notfallseelsorge zur Profilierung für kirchliche Seelsorge bereit oder welche empfängt sie seelsorgetheologisch?

Der Hinweis der beiden Autoren rückt ein seelsorgetheologisches Projekt in den Blick, das grundsätzliche Fragen zu einem seelsorglichen Praxisverständnis sieht und bearbeiten will.

Das HANDBUCH NOTFALLSEELSORGE widmet sich dem zunächst in einer qualitätsorientierten Seelsorgeskizze wie folgt:

(1) Frank ERTEL31 umreißt in seinem Beitrag zuerst einen systemischen Spannungsbogen von Erwartungen an Notfallseelsorge: Sie arbeitet mit Anforderungen von (a) Betroffenen, (b) öffentlichen Auftraggebern oder Partnern, (c) kirchlichen Auftraggebern und (d) der (medialen) Öffentlichkeit.32

(2) Zur Bestimmung von Qualität in der Notfallseelsorge verwendet er ein ursprünglich im Gesundheitssektor (A. DONABEDIAN) und heute in der Organisationsentwicklung weiterentwickeltes Modell, das verschiedene Ebenen betrachtet und verbindet: Er führt vier verschiedene Qualitätsgrößen an, nämlich Notfallseelsorge auf ihre Konzept-, Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität hin zu befragen.33

(3) Schließlich wirft er über Rahmen- und Organisationsbedingungen hinaus auch einen Blick auf Kompetenzen des einzelnen Notfallseelsorgers oder der einzelnen Notfallseelsorgerin. Er führt sieben Kompetenzen an, die im Idealfall eine Arbeit in der Notfallseelsorge ermöglichen sollen: (a) die geistliche Kompetenz, dass Notfallseelsorge Seelsorge ist und sei, (b) die personale Kompetenz, eine vertrauensvolle Grundsituation herzustellen und sie aufrechtzuerhalten, (c) eine kommunikative Kompetenz, um Kontakt und Beziehung herstellen zu können, (d) eine psychologische Kompetenz, die sich verantwortlich im Kontext der psychosozialen Notfallversorgung einbringt, (e) eine ethische Kompetenz, die in die Lage versetzt, in Notsituationen Entscheidungen zu treffen, (f) eine Feldkompetenz, sich in der Kooperation mit Einsatzkräften und anderen Notfallinstitutionen zu verhalten zu wissen sowie (g) eine kybernetische Kompetenz, die in die Lage versetzt, im Chaos einer Notsituation Gruppen oder soziale Systeme zu steuern.34

„… Das mache ich sowieso jeden Tag…“selbstreferentielleselbstreflexiven