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Fuldaer Hochschulschriften

Im Auftrag der Theologischen Fakultät Fulda
herausgegeben von Jörg Disse
in Zusammenarbeit mit Richard Hartmann
und Bernd Willmes

Bernhard Dieckmann

Verblendung, Volksglaube und Ethos

Eine Studie zu Adalbert Stifters Erzählung „Der beschriebene Tännling“

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Abbildung 1 – Hanns am beschriebenen Tännling – Frontispiz der Erstausgabe

Inhalt

Bernhard Dieckmann zum 75. Geburtstag – Grußwort eines langjährigen Kollegen

Klaus Dorn

Vorwort

Arthur Brande

Danksagung

Einleitung

1. Der Rahmen: Hanna und Hanns – Ehrgeiz und Dienen

2. „Außerordentliche Schönheit“

3. Das Jagdfest und das Ansehen

4. Gewalt als Konsequenz

5. Die Verblendung von Herren und Volk

6. Hanns’ Entscheidung

7. „Wunderthätiges Bild“ und Volksfrömmigkeit

8. Tradition und Erzählen

9. Zum Verhältnis von Handlung und Naturbeschreibung

10. Der Baum

11. Zeitgeschichtliche Bezüge

12. Schluss: Den „Tännling“ lesen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Bernhard Dieckmann zum 75. Geburtstag – Grußwort eines langjährigen Kollegen

Klaus Dorn

Bernhard Dieckmann ist ein Mensch, den man leicht unterschätzen könnte. Er ist ein Mensch ohne Starallüren, einer, der nicht mit Ellenbogen durch das Leben geht, nur auf seinen Vorteil bedacht, der dem anderen seinen Erfolg nicht neidet und seinen eigenen nicht an die große Glocke hängt. Er ist gesellschaftspolitisch konservativ, jemand, der sich nur selten beklagt, der nur selten laut wird, nichts nachträgt, manchmal ein wenig skurril vielleicht und ein Lehrer mit einem ganz weiten Herzen für seine Studenten. Und er ist vor allem eines: ein guter Freund, der es gut ertragen kann, wenn man anderer Meinung ist, als er selbst.

Man könnte mit dieser Aufzählung von Eigenschaften noch lange fortfahren und würde – natürlich! – niemals die ganze Person beschreiben können. Denn Bernhard Dieckmann ist stets auch für eine Überraschung gut!

Begegnet bin ich ihm zum ersten Mal auf dem Hauptbahnhof in Marburg im Jahre 1982. Er holte mich dort ab und ging mit mir zum Katholisch-Theologischen Seminar in der Deutschhausstraße 24, denn dort hatte ich mich auf die Stelle eines Wissenschaftlichen Assistenten beworben und sollte mich vorstellen. Er sprach mich auf dem Bahnsteig an, stellte sich vor und sah damals fast schon genauso aus wie heute. Nachdem ich die Stelle bekommen hatte, waren wir gute Kollegen und haben in den vielen Semestern bis zu seiner Emeritierung fast jedes Semester eine gemeinsame Lehrveranstaltung durchgeführt: Er bearbeitete den fundamentaltheologisch-philosophischen Aspekt des Themas und ich den biblisch-exegetischen. Es war dies eine Zeit, in der man noch Veranstaltungen anbieten konnte, die von den Studierenden gewünscht wurden – und auch solche, die einen als Dozenten selbst interessierten. So behandelten wir beispielsweise Jesusbücher, Christusbilder, Tod und Auferstehung, Judas Iskariot, zu dem er dann auch eine viel beachtete Monografie geschrieben hat, und vor allem eine der spannendsten Fragen aller Religionen, nämlich die Frage nach der Herkunft des Bösen und der Gewalt. Man kann sagen, dass der Jubilar ein kritischer Fan von René Girard war und ist, dessen Thesen auch in so mancher Lehrveranstaltung diskutiert wurden, etwa die Frage nach Judas Iskariot und seiner Funktion als Sündenbock. Und natürlich ist Bernhard Dieckmann auch ein hervorragender Kenner Rudolf Bultmanns, über den er promoviert hat – eine glänzende Ausgangsposition für ein gutes Verhältnis zu seinem exegetischen Kollegen.

Einen Fernseher besitzt Bernhard Dieckmann bis zum heutigen Tag nicht. Seine Alltagsinformationen bezieht er aus der FAZ, und verbringt die Zeit, die Mann/Frau ansonsten vor dem Fernseher sitzt, mit seinen Büchern. Er kennt sich nicht nur blind in der Institutsbibliothek aus, sondern auch im Bereich der Veröffentlichungen in seinem Fachgebiet und darüber hinaus. Sucht man ein bestimmtes Werk zu diesem oder jenem systematisch-philosophischen Gebiet: Eine Anfrage genügt und man bekommt eine kompetente Antwort, einen Autor, einen Sachtitel. Der Jubilar ist ganz einfach ein wandelndes Lexikon.

Kennen lernen konnte man Bernhard Dieckmann besonders gut auf den gemeinsamen Exkursionen, z. B. nach Israel oder Rom. Auch hier war er in vielen Fragen kompetent, hatte geschichtliche Ereignisse, Herrscherhäuser und Dynastien mit Jahreszahlen im Kopf und konnte stets ohne jede Spur von Überheblichkeit Auskunft geben, häufig genug besser als jeder Guide. Und wie gesagt: Er war und ist immer für eine Überraschung gut! Als wir etwa mit einer ganzen Reisegruppe von Studierenden auf einer Romreise wegen eines allfälligen Bahnstreiks in Roma Termini gestrandet waren, war er es, dem es gelang, eine Fahrt mit einem schweizerischen Nachtzug zu organisieren, so dass wir mit viel Verspätung, aber sicher wieder in Marburg ankamen. Vielleicht sollte es dann auch nicht verwundern, dass er als begeisterter Bergwanderer und Mitglied des Deutschen Alpenvereins in Israel als Erster von uns auf dem Plateau von Masada stand, nach knapp 40 Minuten über den Schlangenpfad, und damit weit schneller als jeder Student.

Er besucht mich häufiger im Seminar und wir unterhalten uns über dies und das, doch wenigstens einmal im Jahr wird er auch unseren Erstsemestern ein Begriff: keine Adventsfeier des Seminars ohne eine Märchenlesung von Bernhard Dieckmann – denn auf diesem Sektor ist er ein Sammler und ebenfalls Experte!

Vielen Dank, lieber Bernhard – auf viele weitere Märchenlesungen!

Marburg, im Januar 2014

Vorwort

Arthur Brande

In Adalbert Stifter (1805–1868) vor allem einen religiösen Dichter zu sehen, der explizit Glaubensinhalte und Glaubensgewissheit zu vermitteln sucht, hieße sicher, sein Werk misszuverstehen. Aufgewachsen im ländlichen Südböhmen und Schüler des Benediktiner-Gymnasiums im oberösterreichischen Kremsmünster, blieb er aber als Bürger des österreichischen Kaiserstaates mit dessen konfessioneller Prägung auch in Wien und nach den Wirren von 1848 in Linz, hier nicht zuletzt beruflich als Schulrat für die Volksschulen Oberösterreichs, seiner angestammten Religion verbunden. In autobiographischen Texten und Briefen kommt er immer wieder auf diesbezüglich prägende Erlebnisse in Kindheit und Jugend, vor allem durch vorbildliche Lehrerpersönlichkeiten zurück.

Diese Jugenderfahrungen gehören zum Hintergrund von Stifters literarischem Schaffen. Von seiner ersten Erzählung „Julius“ (1829) bis zu den großen epischen Werken „Der Nachsommer“ (1857), „Witiko“ (1865/67) und den beiden letzten Fassungen der „Mappe meines Urgroßvaters“ (1864/68) tritt dem Leser ein breites Spektrum an Zeithorizonten vom 12. bis zum 19. Jahrhundert und von Handlungsräumen gegenüber: Böhmen, Österreich, Ungarn, Oberitalien bis nach Nordafrika und Ausblicken auf Kleinasien, Indien und Amerika, in denen die Thematik eine breite Vielfalt an Personen aus allen Ständen umfasst, seien es Fürsten, Ritter, Künstler, Naturforscher, Landwirte, Bauern und Häusler, Geistliche oder Ärzte bis hin zu Eigenbrötler-Naturen. Alles Erzählen von ihnen ist im Sittengesetz als dem „sanften Gesetz“ in Analogie und Erweiterung der Naturgesetze verankert. Darüber hinausgehend weisen die Schriften zur Literatur, bildenden Kunst, Pädagogik und Politik und damit zu allen Bereichen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens und des Staates in erster Linie auf das Ethos des selbstverantwortlich sich bildenden Menschen. Dem entspricht die vom Dichter bis zum Lebensende vertretene Überzeugung der hierarchischen Einheit und Durchdringung von Religion, Kunst und Wissenschaft.

Darum geht es auch in dem von Stifter und Aprent 1854 veröffentlichten „Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen“. Stifter wollte mit diesem Werk in zwei Teilen „Von Außen“ und „Nach Innen“ mit jeweils 85 Texten aus dem Alten Testament über Homer, das Mittelalter, die Goethezeit bis zur Gegenwart – einschließlich eines eigenen Textes aus „Das Haidedorf“ – bewirken, dass „Edles Großes [ . . . ] in die Herzen der Jugend gesät werden solle“. Dennoch wurde das „Lesebuch“ vom Wiener Schulministerium, offenbar im Vorfeld des Konkordats im folgenden Jahr, durch welches die Schulaufsicht der Kirche übertragen wurde, aus vorgeblich formalen Gründen abgelehnt.

Die Formen christlicher Religiosität, die Stifter in seinen Erzählungen darstellt, bieten verschiedene Facetten: In den frühen „Studien“-Erzählungen „Das Haidedorf“ und „Der Hochwald“ (1844) zeigt sich eine schlichte und feste Frömmigkeit der ländlichen Bewohner. Dem steht im Spätwerk „Witiko“ das gewaltige historische Gemälde des christlichen Hochmittelalters zur Stauferzeit gegenüber. Die Schilderung „Die Charwoche in Wien“ (1841/44) in dem von Stifter selbst herausgegebenen Sammelwerk „Wien und die Wiener“ lebt im Atmosphärischen eines deskriptiven Realismus und der bildhaften Wiedergabe von Andacht und religiösem Gefühl als Kontrast zwischen hauptstädtischer Geschäftigkeit und ländlicher Frömmigkeit der südböhmischen Heimat. In derselben Textsammlung ist der Aufsatz „Ein Gang durch die Katakomben“ unter dem Stephansdom mit den Reflexionen über „Gott, Unsterblichkeit, Ewigkeit und das Universum“ weit mehr als ein schlichtes Memento mori. Eine Art von kosmischer Religiosität spricht auch aus der Beschreibung „Die Sonnenfinsternis am 8. July 1842“. Gewissermaßen zwischen den Polen dieser Texte stehen die späten Betrachtungen „Weihnacht“ und „Der Silvesterabend“ (1866).

In der „Bunte Steine“-Erzählung „Kalkstein“ (1853; Journalfassung 1847: „Der arme Wohlthäter“) steht das asketische Leben eines Pfarrers in karger Gebirgsgegend und sein über den Tod hinaus vorsorgendes Wirken für die Schulkinder im Mittelpunkt. Die Erzählung „Bergkristall“ in demselben Band (Journalfassung 1845: „Der heilige Abend“) nimmt in der nächtlichen Felshöhle der Gletscherwelt das kindliche Gottvertrauen angesichts der Himmelserscheinung des Nordlichtes in den Blick. Die „Mappe meines Urgroßvaters“ („Studien“-Fassung 1847) zeigt das kirchliche Leben im ländlichen Sozialgefüge der südböhmischen Waldgemeinden fest verankert, ohne dass es jedoch erzählerisch eine Vorrangstellung einnimmt. Doch sind darin der Lebensgang und das Wirken des Landarztes Augustinus in entscheidenden Situationen dem göttlichen Segen anvertraut, und der Dank für glückliche Fügung spiegelt sich in der Betrachtung des unendlichen Sternenhimmels.

In demselben Landschaftsraum wie die „Mappe“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegt im Umkreis von Stifters Geburts- und Kindheitsort Oberplan die Handlung des „Beschriebenen Tännling“ – nun in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Als letzte der „Studien“-Erzählungen (1850) nimmt sie eine vom Dichter durchaus beabsichtigte Sonderstellung ein. Vor dem Hintergrund und in Verknüpfung mit einem großen fürstlichen Jagdereignis wird das ländliche religiöse Leben hier zum zentralen Thema.

Die von Bernhard Dieckmann vorgelegte Interpretation des „Beschriebenen Tännling“ schließt frühere Deutungen (u. a. Steffen 1955, Zink 1967, Pörnbacher 1998, Mayer 2001, Praxl 2011) bewusst ein, geht aber in der Detailanalyse weit darüber hinaus. Die Volksfrömmigkeit, sonst bei Stifter wie in der „Mappe“ oder der „Charwoche“ eher illustrativ behandelt, tritt dabei in den eigentlichen Blickpunkt und bietet zugleich einen Schlüssel zur Erzählung selbst. In konsequenter Textbegleitung bietet der Autor eine Gesamtschau. Die zahlreichen topographischen Gegebenheiten mögen zunächst beliebig erscheinen, als folgten sie aus Stifters optisch orientiertem Beschreibungsdrang. Aber ihnen wird eine wichtige Funktion für die Deutung der Erzählung zugemessen. Vor allem ist mit der erhellenden Aufdeckung der Sinnbezüge zwischen äußeren Handlungselementen und seelischer Verfasstheit wie innerer Dynamik Schritt für Schritt der Weg zum Verständnis dieser – auch von manchem heutigen Leser noch gelegentlich als naive Heimatgeschichte missverstandenen – Erzählung bereitet. Mit dem Ausblick auf tragende Erzählprinzipien und -intentionen Stifters erweist sich Dieckmanns Abhandlung darüber hinaus als maßgeblicher Beitrag für einen sachgerechten Zugang zu weiteren Werken des längst anerkannten Dichters der Weltliteratur „aus dem alten Österreich“.

Berlin, im Januar 2014

Widmung und Danksagung

Ich widme diese Studie dem Andenken Carsten Heinrichs aus Fulda. Er hat mehrere Jahre die Bibliothek des Katholisch-Theologischen Seminars Marburg betreut; 1999 verfasste er seine Staatsarbeit über den „Beschriebenen Tännling“. Im Februar 2009 verstarb er – noch keine vierzig Jahre alt – nach längerer, schwerer Krankheit.

Bei der Abfassung und Herausgabe dieser Studie habe ich vielfältige Hilfe erfahren. Herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Volker Mergenthaler in Marburg für die genaue Lektüre einer frühen Fassung, für seine Ermutigung, seine Korrekturen und Hinweise; bei Herrn Dr. Arthur Brande von der „Rheinischen Adalbert Stifter-Gemeinschaft“ in Berlin für sein förderndes Interesse, die vielen Ratschläge und Auskünfte, nicht zuletzt auch für das Vorwort zu dieser Arbeit; bei Herrn Paul Praxl in Waldkirchen für seine bereitwilligen Auskünfte, Fotokopien und Literaturhinweise, nicht nur zur Lokalgeschichte von Oberplan; bei Herrn Prof. Dr. Jörg Disse und den anderen Herausgebern in Fulda für die Aufnahme dieser Studie in die Reihe der „Fuldaer Hochschulschriften“; bei Herrn Dr. Markus Lersch und Frau Dorothee Weber vom Katholisch-Theologischen Seminar in Marburg für ihren Einsatz und ihre Sorgfalt bei der Schlussredaktion; bei vielen Freunden und Verwandten, die die verschiedenen Entwürfe gelesen und manche Formulierung korrigiert oder präzisiert haben. Es war mir eine große Hilfe, dass sie sich für meine Arbeit am „Beschriebenen Tännling“ interessierten, auch wenn sie weder Theologen noch Germanisten sind.

Einleitung

Der „Beschriebene Tännling“1 ist seit seinem Erscheinen oft kritisiert worden. Die erste Fassung von 1846 im „Rheinischen Taschenbuch“ charakterisiert Annette von Droste-Hülshoff mit der knappen Bemerkung: „… soso! fromm deutschthümlich, etwas à la Motte-Fouqué“.2 Das setzt sich bis in die Gegenwart fort. J. P. Stern urteilt: Ihre „bloße Nacherzählung läßt den modernen Leser vor Verlegenheit erröten“.3 I. Schiffermüller sekundiert: „Die Wiedergabe der Fabel der Erzählung, die auf traditionellen Motiven der Volkslegende beruht, wirkt [...] aufgrund ihrer Banalität geradezu peinlich.“4 Sie meint, Handlung und Naturbeschreibung klafften auseinander, der „heterogene unorganische Charakter der Textstruktur“5 lege eine dekonstruktive Lektüre der Erzählung nahe. Dagegen ist es ein Anliegen dieser Studie, dieser Interpretation entgegenzutreten. Es soll die innere Einheit der Erzählung aufgewiesen werden, es soll nachgewiesen werden, dass Handlung und Naturbeschreibung kalkuliert aufeinander bezogen sind und am Schluss im Symbol des Baumes mit dem Namen „beschriebener Tännling“ zusammengeführt werden. Eine genaue Analyse bemüht sich, die elaborierte Erzählstruktur von Stifters Novelle aufzuzeigen.

Betrachtet man neben diesen kritischen Beiträgen die weitere Literatur zum „Tännling“,6 so wird dieser Text oft in größeren Zusammenhängen nur nebenbei behandelt; eine Passage wird herausgegriffen und, ohne den „Tännling“ im Ganzen in den Blick zu nehmen, zum Teil einfühlsam und treffend interpretiert. Aber nicht selten sind diese Interpretationen auch unzureichend oder irreführend, weil die Passage isoliert, nicht im Kontext der ganzen Erzählung betrachtet wird. Die Deutungen spiegeln eher allgemeine Vorurteile oder freie Assoziationen der Autoren. Einige Arbeiten konzentrieren sich auf den „Tännling“ und legen eine Deutung vor, die betont ein Moment hervorhebt – etwa Adelskritik oder frühes ökologisches Bewusstsein. Das ist oft zutreffend, aber sie haben doch nur ein Nebenmotiv ausgewählt. Zwar weisen sie damit auf wichtige Aspekte hin, aber sie heben diese zu stark hervor. Nach dem eigentlichen Anliegen des „Tännling“ wird nicht gefragt, vermutlich deshalb, weil man das zentrale Handlungsmoment, das Drama der Beziehung von Hanna und Hanns, für banal hält und deshalb nach Aspekten der Erzählung sucht, die ihr doch noch künstlerisches Gewicht und aktuelle Bedeutung geben.

Wenn man die Handlung des „Tännling“ referiert, mag einem die Zunge stocken, weil sie positiv formuliert, so schlicht, negativ akzentuiert, so trivial ist. Doch achtet der Leser auf ihre erzählerischen Mittel, auf die vielfältigen Verweise und Akzentuierungen, die sparsamen, oft verdeckten Andeutungen, so zeigt sich ein komplexes Netz von Beziehungen, die die Figuren unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchten und die Handlung kommentieren. Die Art des Erzählens nimmt dem Inhalt seine Trivialität und gibt der so simplen Geschichte Bedeutsamkeit. Dann wird der Leser die Verblendung der Jagdgesellschaft durchschauen und Hanns auf seinem Weg zur „Erscheinung“7 am beschriebenen Tännling folgen. Walter Höllerer hat das „verschweigende Andeuten“ als ein Charakteristikum von Stifters Erzählen bezeichnet.8 Im „Tännling“ wird das in besonderer Weise zugespitzt. Wenn man die vielen Andeutungen des Textes aufspürt und ihnen nachgeht, wird sich zeigen, dass die enge Verbindung von Lebensführung, Ethik, Religion und Natur im Zentrum des „Tännling“ steht. Damit wird nicht behauptet, dass diese Studie eine erschöpfende Interpretation dieser Novelle leistet, kann doch jede Interpretation einen Text nur perspektivisch in den Blick nehmen. Zuerst soll nun das Geflecht der Andeutungen beachtet werden, in dem die einzelnen Figuren und Motive der Erzählung stehen, um so einen Zugang zu ihrer Intention zu finden.

Dieser Interpretationsansatz bestimmt den Aufbau der Studie: Als erster Zugang zur Intention der Erzählung werden in Teil 1 Schlüsselszenen von ihrem Ende und Anfang analysiert, die die beiden Protagonisten Hanna und Hanns charakterisieren. Auch werden die knappen Aussagen zu ihrer Herkunft und Umwelt zusammengestellt. Die Teile 2 bis 5 wenden sich Hanna und dem Jagdfest zu, also der Krise, die Hannas Untreue und ihren Aufstieg in die Welt der Herren auslöst. Um die Reaktion von Hanns geht es in Teil 6. Seine Entscheidung ist aus der Dreiecksbeziehung von menschlicher Freiheit, Volksglaube bzw. Religion und Wald bzw. Natur zu verstehen; das ist Gegenstand der Teile 7 bis 11. Der letzte Teil 12 reflektiert abschließend über den Zusammenhang von Inhalt und Form im „Tännling“.

Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die zweite, die Buchfassung der Erzählung, die 1847/48 erarbeitet wurde und 1850 erschienen ist; die erste, die Journalfassung von 1845, wird nur ausnahmsweise herangezogen, wenn im Vergleich beider Fassungen aus Einfügungen und Änderungen spezifische Intentionen der Buchfassung zu erschließen sind.9 Auf andere Werke Stifters wird nur soweit Bezug genommen, als es für das Verständnis der Erzählung hilfreich ist.

1. Der Rahmen: Hanna und Hanns – Ehrgeiz und Dienen

Zusammen mit Guido sind Hanna und Hanns die einzigen Personen, die im Text namentlich genannt werden.10 Dazu werden je einmal Namen von Hannas Gefährtinnen (393,33–394,8) und von Jagdgenossen Guidos bzw. ihrer Diener (422,8–22) angeführt und die beiden so in soziale Zusammenhänge gestellt. Hanns hat zwar auch Gefährten, seine Arbeitskameraden, aber ihre Namen werden nicht genannt. Die Namensgleichheit Hanna/Hanns11 ist Hinweis, dass sie die Hauptfiguren der Erzählung sind. Um zu verstehen, wie sich im Scheitern ihrer Beziehung die Problematik ihrer Lebenseinstellung zeigt und entscheidet, ist es geraten, sich zuerst des Rahmens der Erzählung zu vergewissern, ihres Ausgangspunktes wie ihres Ergebnisses.

Für das Ergebnis hat Stifter am Ende der Erzählung ein einfaches Bild gefunden: Das Zusammentreffen Hannas mit Hanns, als sie „wieder einmal“ (431,33) ihre Heimat besucht. Sie wird in einer Kutsche gefahren und trifft unterwegs auf Hanns mit seinen (Pflege-)Kindern. In der Journalfassung wird bei diesem Zusammentreffen Hannas Reichtum und Unglück der Armut und dem kräftigen Leben – wenn nicht dem Glück – von Hanns gegenübergestellt: Hanna sitzt bleich und blass, „ein erloschenes Lichtlein“ in ihrer Kutsche (J 279,28). Hanns steht mit den sechs Kindern, für die allein er sorgt, am Weg; zwei Kinder zog er in einem „Wägelchen mit einem Dächlein darüber“ (J 279,31). Die Gesichter der Kinder sind „wie blühende Rosen“ (J 280,3). Die Buchfassung formuliert zurückhaltender. Es heißt nur noch, dass Hanna „bleich“ in ihrem Wagen sitzt (432,4–5).12 Hanns sorgt nur noch für drei Kinder – die seiner Schwester.13 „Er hatte sich an ein mit Leinwand überspanntes Wägelchen gespannt, in dem er die drei Kinder eben in seinen Holzschlag führte.“ (432,7–9) Dass er sie durch eine Leinwand vor Sonne und Regen schützt, macht augenfällig, wie liebevoll sich Hanns um sie sorgt. Hanna erkennt ihn nicht – wohl nicht allein aus Desinteresse: Sein Angesicht hat Furchen (432,7). Hanna schafft es nur, aus ihrem Reichtum ein belangloses, erniedrigendes Almosen abzugeben;14 sie will „dem armen Manne eine Wohlthat erweisen“ (432,11–12) und schenkt ihm einen Taler. Da der Weg in die Wälder, wo Hanns arbeitet, von Pichlern über Pernek ging (397,14–16), Hanna „auf dem Wege zwischen Pichlern und Pernek“ fuhr (432,1–2) und Hanns mit dem Wagen „auf dem Wege“ stand (432,7), kann man davon ausgehen, dass Hannas Kutsche Hanns mit seinem Wägelchen überholen wollte und er zur Seite treten musste. Das würde das Almosen Hannas weiter motivieren: Sie dankt dem armen Mann, dass er ihr Platz gemacht hat.

Aber Hanna wirft ihm das Geldstück nicht zu, sondern „aus ihrem Wagen auf die Erde“ (432,11). Hanns dagegen erkennt sie, er geht schon gebückt, weil er den Wagen mit den Kindern zieht; nun muss er sich noch tiefer bücken, um das Geld aufzuheben15 – ein Bild dafür, wie demütig und gelassen er inzwischen seine soziale Rolle akzeptiert. Es wird noch erzählt, dass er das Geldstück fassen ließ und als Votivgabe in der Wallfahrtskirche aufhing – vermutlich aus Dankbarkeit, dass ihn die schmerzhafte Jungfrau vor einem Mord bewahrt hat. Die Gegenüberstellung der beiden Wagen ist zu beachten: hier die Kutsche Hannas, dort das ärmliche „Wägelchen“ von Hanns. Hanna wird herrschaftlich gefahren; Hanns hat sich wie ein Zugpferd eingespannt, um seine Kinder zu ziehen. Hanna wird als Herrin bedient, Hanns dagegen dient, lebt in der Fürsorge für andere.16

Wenden wir uns dem Ausgangspunkt der Erzählung zu, so zeigt er zwei junge Leute, die beide ehrgeizig sind. Das erste Ereignis, das von Hanna erzählt wird, ist ihr Erstbeichttag. Ihre Gefährtinnen waren in feinen Kleidern erschienen, und ihre Haare waren gepudert, „damit sie schön wären, und in der festlich weißen Farbe da stünden. Nur Hanna’s Haare waren dunkel geblieben, weil ihre Mutter keinen Puder zu kaufen vermochte“ (392,25–27). Die anderen Mädchen trugen Kleider mit Reifröcken, Hannas Kleid dagegen war „grob“ (392,22), und die Mutter hatte „Puffchen“ (392,29) an das Unterkleid genäht, „daß das darüber angelegte Rökchen doch ein wenig wegstehe, und einen Reifrok mache“ (392,29–30).

Unter dieser Diskrepanz hat Hanna offensichtlich gelitten. Denn als ihre Gefährtinnen sie nach dem gerade erwähnten Gebet vor dem Gnadenbild fragen, worum sie gebetet hat, beschreibt sie das vornehme Kleid des Gnadenbildes und erzählt, dieses hätte ihr ebenso „sehr Schönes und sehr Ausgezeichnetes“ verheißen (394,11). Es besteht eine direkte Verbindung zwischen Hannas ärmlicher Kleidung an diesem Festtag und ihrer Behauptung, das Gnadenbild hätte ihr prachtvolle Kleider zugesagt. Nur wenn man diesen Zusammenhang übersieht, kann man von „Hannas rätselhaftem Wunsch in der Kapelle“ sprechen.17 Hanna stellt der demütigenden Erfahrung des Tages die Verheißung künftiger Größe entgegen.

Hannas Wunsch entspricht der Erziehung, die sie erfahren hat. Sie lebt in enger Gemeinschaft mit ihrer Mutter, die sie am Ende auch in das Schloss Guidos begleitet (390, 431–32). Über ihre Herkunft oder ihren Vater wird kein Wort verloren. Armut, Fleiß und Frömmigkeit der Mutter werden hervorgehoben, aber auch, dass sie – und Hanna mit ihr – in vielerlei Hinsicht auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen ist. Schon das Häuschen wurde ihnen aus „Mildthätigkeit [...] eingeräumt“ (390,10). Hanna ist schon als Kind auffallend schön. Sie war „immer“ im Haus (390,30); denn die Mutter hielt sie von den Menschen fern. Wenn sie einmal fortging, sperrte sie das Kind sogar ein. Als es älter geworden war, erschien es beim Spiel der Kinder im benachbarten Pichlern, „allein es stand nur immer da, und sah zu, entweder weil es nicht mitspielen durfte, oder weil es nicht mitspielen wollte“ (391,4–6). Die wenigen Bemerkungen über Hannas Jugend kann man als Geschichte einer falschen Erziehung lesen.18 Es sieht so aus, als hätte schon die Mutter Hanna wegen ihrer Schönheit bewundert und verwöhnt, als hätte sie Hanna angehalten, sich für etwas Besonderes zu halten und Anspruch auf die Bewunderung oder gar Bedienung durch die anderen zu haben. So ist denn Hanna auch aufgetreten; immer war sie sonntäglich gekleidet, hat nicht gearbeitet und auf Distanz zu den anderen geachtet, die sie auch mit ihrer großen Reinlichkeit betont.19 „Söhne reicher Bauern“ (395,30) warben um sie und hätten sie gerne geheiratet, aber sie war an ihnen nicht interessiert.20

Auch dass Hanna die Farbe Weiß zugeordnet wird, zeigt, dass sie etwas Besonderes ist oder sein will: „Sie hatte immer ein weißes leinenes Tüchlein um den Busen, auf welches ihre dunklen Augen hinab schauten, und ihre noch dunkleren Wimpern hinab zielten.“ (395,6–8) Zudem lebt sie in einem weißen Häuschen zwischen dem Kreuzberg und Pichlern (389). Aber „schneeweiß“ (384,29) sind auch die beiden „Brunnenhäuschen“ (385,19–20) sowie das „Gnadenkirchlein“ am Kreuzberg (385,12).21 Überhaupt ist Weiß die Farbe der Feste: Die Kinder tragen bei festlichen Anlässen weiße Kleider,22 die Perücken der Herren beim Jagdfest sind weiß bestäubt.23 Mit ihrer Liebe zur Farbe Weiß signalisiert Hanna, dass ihr Leben ein einziger Sonntag sein soll.